Insgesamt finde ich das eine interessante Anmerkung, schon allein weil ich auch eine Produktivitätsfan bin. Ich habe aber noch zwei, drei Fragen bzw. Anmerkungen.
Erstens: Entkopplung Löhne und Produktivität
Hast Du da irgendwo Zahlen für die Zeit seit 1970 zur Hand? Ich habe nämlich nicht wirklich was gefunden für diesen Zeitraum, außer dieser Abbildung hier Löhne, Produktivität und Inflation. Da finde ich aber wird nicht ganz klar, ob und wie was deflationiert wurde oder nicht. Ansonsten tue ich mich da hart, aus dieser Abbildung eine generelle Entkopplung seit den 70ern zu sehen. Bis in die frühen Neunziger schaut es eher nach Gleichlauf aus, dann folgt eine Phase der bis 2007 oder so, die man als Entkopplung werten könnte, und dann kommt wieder ein Gleichlauf von Produktivität und Löhnen.
Ich habe mir dann noch auf Basis der Fachserie 18 Reihe 1.5 des Statistischen Bundesamtes die Bruttowertschöpfung/BIP je Erwerbstätigenstunde sowie die Arbeitnehmerentgelte je Stunde von 1970 bis 2020 angeschaut. Das zeigt auch keine wesentlich anderen Ergebnisse.
Auch wenn das für die Diskussion in diesem Thread gar nicht so wichtig ist (siehe zweiten und drittens), würde ich mich über belastbarere Zahlen freuen, weil ich das Thema spannend finde.
Zweitens: Absolut vs. Relativ
Ich finde auch, dass Produktivitätssteigerungen der Weg sind um viele Probleme zu lösen, da sie ja Knappheiten mindern helfen. Du hast auch Recht, dass die Produktivitätssteigerungen es wahrscheinlich erlauben würden, das absolute Rentenniveau und das dazugehörige Konsumniveau aufrecht zu erhalten.
Nur wird die Rentendiskussion nicht in absoluten, sondern relativen Größen geführt. Es geht nicht darum, dass das heutige Konsumnieveau fortgeschrieben werden soll, sondern X% in Relation zum Durchschnittlohn. Dadurch wir Deine Mechanik - wir nehmen die Produktivitätsanstiege eins zu eins in die Löhne, damit steigen die Beiträge und damit bezahlen wir die zusätzlichen Rentner, ausgehebelt. Denn steigen die Löhne, dann steigt eben auch die Rente. Oder anders formuliert, wir können die Zusatzeinahmen aus (produktivitätsbedingten) Lohnanstiegen nur einmal ausgeben, entweder für demographisch bedingt mehr Rentner oder für höhere Renten, so dass die Relation zum Durchschnittlohn konstant bleibt (und natürlich jede beliebige Kombi). Will man beides, gibt es drei Stellschrauben: höhere Beiträge, längere Lebensarbeitszeit oder Steuerzuschüsse.
Höhere Beiträge halte ich für schwierig, weil ich denke, dass die Zahlbereitschaft begrenzt ist. So gesehen ist die Hauptfunktion des Pseudoarbeitgeberbeitrag das Rentensystem zu stabilisieren, in dem die wahren Kosten vor den Arbeitnehmern verschleiert werden. Ich kenne genügend Leute - Normalverdiener, Industriearbeiter - die sich jämmerlich darüber beschweren wie viele Abzüge sie haben. Das führt bei einigen dazu, dass sie lieber auf zwei, drei hundert Euro im Monat verzichten, dafür aber mehr Freizeit haben. Ich bezweifle, ob ein sinkendes Arbeitsangebot wirklich hilfreich ist. Deutlich steigende Beiträge halt ich für nicht umsetzbar.
Längere Lebensarbeitszeit wäre mein Favorit. Hier liegt tatsächlich eine Entkopplung vor, nämlich zwischen Lebenszeit und Lebensarbeitszeit. Die Rentenbezugsdauer ist von 1970 bis 2020 deutlich gestiegen, nämlich von 10,3 auf 18,5 Jahre. Das allein entspricht - etwas vereinfacht - einer Rentenerhöhung um 80%, da sich die Gesamtrente aus Rentenhöhe*Bezugsdauer ergibt. Hingegen ist das Renteneintrittsalter bei Renten wegen Alters, im gleichen Zeitraum kaum gestiegen, je nach Maßzahl nur um 1,5 Jahre, vor allem wegen der Frauen, oder gar nicht (Quelle ). Hier erscheint mir die Entkopplung deutlich gravierender. Für jedes zusätzliche Lebensjahr der Lebenserwartung drei, vier oder fünf Monate länger arbeiten wäre o.k.
Steuerzuschüsse im notwendigen Umfang würden irgendwann das System sprengen. Die Status/Erwerbseinkommen bezogene Rente wäre dann irgendwann tot. Kann man wollen, sollte man sagen, hast Du ja auch (siehe viertens).
Drittens: Aussetzen des Nachholfaktors
Es ging in diesem Thread ja eigentlich um die Lastenverteilung durch Aussetzen des Nachhaltigkeitsfaktors bei gleichzeitigem Verbot sinkender Renten. Da hilft steigende Produktivität, gerade wenn sie mit den Löhnen gekoppelt ist, nichts. Der Rentenanstieg bemisst sich ja unteranderem an der Entwicklung der Beschäftigung und der Löhne. Sinken Durchschnittslöhne oder die Beschäftigung müsste auch die Renten sinken. Wenn man das aussetzt und nicht nachholt, dann werden die Rentner gegenüber den Erwerbstätigen besser gestellt.
Vereinfachtes Beispiel: Ausgangspunkt Lohnsumme gleich 100, Rentensumme gleich 50. Auf Grund von Pandemie, disruptiven Transformationsprozessen oder sonst was, sinkt die Lohnsumme um 10% (eingentlich -15% aber Produktivität, die mit den Löhnen gekoppelt ist +5%) auf 90. Die Rentensumme müsste um 10% auf 45 fallen. Tut sie aber nicht, ist ja verboten. Dann normalisiert sich alles Lohnsumme (Beschäftigung + Gekoppelte Löhne) steigt um 10% → Lohnsumme bei 99, Rentenanstieg auf 55. Das kann man so fortführen
Delta LS….LS…….RS
-10%…89,1….55
+10%…98,01….60,5
-10%…88,21….60,5
+10%…97,03….66,55
-10%…87,33…. 66,55
Das Beispiel überzeichnet natürlich deutlich, schon allein weil die Rentenanpassungsformel deutlich komplexer ist und die Schwankungen natürlich nicht so drastisch sind. Aber es verdeutlich ganz gut, zu für Ergebnissen die Kombination aus Streichung Nachholfaktor und Verbot sinkender Renten so macht. An steigenden Produktivität gekoppelt Löhne, können dies nur verhindern, wenn sie dafür sorgen, dass erst gar keine Rentensenkung nötig wäre. Das hat ja offensichtlich nicht geklappt.
Viertens: Grundsicherung
Wenn ich Dich richtig verstehe schlägst Du eine von allen finanzierte Grundrente vor. Finde ich prinzipiell gut aber warum das dann noch Beitragszahler sein sollen erschließt sich mir nicht. Ich finde eine einheitliche Grundrente gut, aber noch besser wäre sie steuerfinanziert. Am besten wäre sogar eine steuerfinanzierte Grundsicherung, die alle Einkommensersatzleistungen und sonstigen Einkommenssicherungsinstrumente ersetzt. Ob das dann Bürgergeld, Solidargeld, Hartz XY, Lolilu - Thaler oder negative Einkommensteuer heißt ist am Ende egal.
Derzeit wäre ein Betrag von 1000 Euro im Monat vielleicht ganz gut. Der Würde einen gerade so an die Armutsrisikoschwelle bringen. Jedes, aber auch jedes weitere Einkommen wird ab dem ersten Cent angerechnet, vielleicht mit 50% (müsste halt durchgerechnet werden werden). Die 50% gefallen mir, weil sie wohl noch zulässig sind und bezogen auf die Grenzbelastung kaum jemanden schlechter stellen. Großverdiener haben eine Grenzsteuersatz der in die Nähe der 50% kommt. Bei den Mittelverdiener bringt die Summe aus Grenzsteuersatz und Sozialbeiträgen auf 50% oder mehr und im unteren Einkommensbereich haben wir durch die hohen Anrechnung bei der Grundsicherung, Wohngeld usw. Grenztranferentzugsraten von bis zu über 100%.
Damit entfallen dann Höchst oder Mindestrentenalter. Der Anrzeiz zusätztliches Einkommen zu erzielen steigt dadurch sogar in einigen Einkommensbereichen. Das Bedarfsgemeinschaftskonzept, sollte beibehalten werden. Keine Ausnahmen, Sonderregelungen und sonstigen Scheiß um spezifische Wählergruppen zu befriedigen.