Regierung verschläft den Sommer bei der Digitalisierung der Kontaktverfolgung in den Gesundheitsämtern

Digitalisierung der Gesundheitsämter - Der verschlafene Sommer

Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle verordnen Bund und Länder den Gesundheitsämtern einheitliche digitale Systeme. Die Tools wären schon im Frühjahr verfügbar gewesen. Jetzt sind die Ämter kaum in der Lage, ihre Prozesse umzustellen.

Leider hinter der Paywall:

Innenpolitik, 27.11.2020

Digitalisierung der Gesundheitsbehörden

Der verschlafene Sommer

Von Christina Berndt, Annette Kammerer, Sebastian Pittelkow und Katja Riedel

Die Faxgeräte von Deutschlands Gesundheitsämtern - sie haben schon für viel Kopfschütteln gesorgt. Dass die wichtigsten Stellen im Kampf gegen die Corona-Pandemie eine längst aus der Zeit gefallene Technologie nutzen: Kaum ein anderes Detail hat so sehr aufgezeigt, wie aufgeschmissen der öffentliche Gesundheitsdienst im Angesicht von Tausenden Neuinfektionen gerade sein muss.

Da klingt es wie eine verheißungsvolle Ankündigung, dass im Beschluss der Bund-Länder-Schalte vom 16. November folgender Satz steht: „Um die engagierten Beschäftigten in den Gesundheitsämtern bei ihrer wichtigen Arbeit in dieser Pandemie zu entlasten, hat der Bund mit Partnern digitale Werkzeuge für die tägliche Arbeit (weiter-)entwickelt.“ Neben dem digitalen Meldesystem „Demis“ des Robert-Koch-Instituts (RKI) solle auch „Sormas“ bis Ende des Jahres flächendeckend von mindestens 90 Prozent der Gesundheitsämter eingesetzt werden. Denn mit dem vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig entwickelten „Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System“ - kurz: Sormas - lassen sich Kontaktpersonen und Kontaktketten digital nachverfolgen. Auch können sich Gesundheitsämter damit vernetzen und so gemeinsam Infektionsketten nachspüren.

Klasse, könnte man sagen, die finale Digitalisierung der Gesundheitsämter steht endlich bevor. Doch Gesundheitspolitiker und -manager reiben sich eher verwundert die Augen. Sie fragen: Wieso hat das so lange gedauert - und wieso kommt es ausgerechnet jetzt?

Denn Sormas steht schon seit Beginn der Pandemie zur Verfügung. Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR hätte die flächendeckende Einführung bereits im März beginnen können. Schon damals haben die Entwickler des HZI das Sormas-System dem Bundesgesundheitsministerium in einer vereinfachten Version angeboten; um ihren vollen Nutzen zu entfalten, hätte diese nur noch über neue Schnittstellen mit dem Meldesystem verknüpft werden müssen. Doch die Einführung schleppte sich hin. Bis heute nutzen nur 76 der rund 400 deutschen Gesundheitsämter die Software, während das mit Geldern des Bundes geförderte Projekt in anderen Ländern begeistert aufgegriffen wurde.

In Nigeria und Ghana wird das deutsche System bereits seit Jahren eingesetzt

So wird Sormas in Nigeria und Ghana schon seit 2017 eingesetzt und hat seither dabei geholfen, mehrere große Epidemien von Lassafieber über Meningitis bis Affenpocken zu bewältigen. Mit dem Beginn der Pandemie haben die dortigen Behörden auch die Corona-Infektionsketten gemanagt. Nepal und Fidschi setzten die Software ebenfalls schnell ein. Und auch in Frankreich und der Schweiz wird Sormas inzwischen in der überwiegenden Mehrheit der Regionen und Kantone genutzt. „Sormas würde als Kontaktpersonenmanagementsystem die Arbeit der Gesundheitsämter ausgesprochen erleichtern“, sagt Maria Klein-Schmeink, die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen.

Zwar führten Gesundheitsämter in den vergangenen Monaten durchaus digitale Lösungen ein, um die Pandemie bewältigen zu können. Aber keine übergeordnete Stelle koordinierte das. Ein deutlicher Appell der Bundesregierung, wie er nun im Bund-Länder-Papier vom 16. November zu finden ist, unterblieb offenbar.

„Eine strategische Aufstellung hätte seit dem Frühjahr gesteuert werden müssen“, sagt Maria Klein-Schmeink. Ende September sei endlich der Pakt zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes mit vier Milliarden Euro unter anderem für die Digitalisierung der Gesundheitsämter geschlossen worden. „Aber man hat es auf Bundesebene versäumt, die gesamte Implementierung und Schnittstellenorganisation voranzubringen.“

Da es keine staatliche Koordinierung gab, suchten die Gesundheitsämter eben eigene digitale Lösungen. So sind viele lokale Anwendungen entstanden. Das erschwert nicht nur die Kommunikation mit dem RKI, sondern auch die zwischen verschiedenen Gesundheitsämtern. Dabei machen Kontakte nun einmal nicht an der Kreisgrenze halt. Wer in Bochum wohnt, hat womöglich gestern noch Freunde aus Dortmund und Essen getroffen.

Wenn man gerade ein Feuer löscht, sei es nicht besonders klug, den Feuerlöscher zu wechseln

Nun kommt der Appell zur Vereinheitlichung nicht gerade in einer günstigen Phase der Pandemie. „Das ist jetzt wirklich der schlechtest denkbare Zeitpunkt“, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, das hätte man im Sommer voranbringen sollen, als die Pandemie milder verlief. Wenn man gerade ein Feuer löscht, sei es nicht besonders klug, den Feuerlöscher zu wechseln, so Lauterbach: „Leider haben wir den Sommer quasi verschwendet.“ Auch Maria Klein-Schmeink sagt: „Jetzt sind die Gesundheitsämter alle vollkommen überlastet. Nun auch noch neue Systeme zu implementieren, ist ihnen kaum möglich. Man fragt sich, warum der Sommer nicht besser genutzt worden ist.“ Niemand habe sich, so Lauterbach, politisch zuständig gefühlt. Es habe nicht an Entwicklungen gefehlt, sondern an der Umsetzung.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) weist die Zuständigkeit von sich. „Die Verantwortung für die Ausstattung der Gesundheitsämter und damit die Entscheidung über den Einsatz digitaler Hilfsmittel obliegt den Ländern und den Gesundheitsämtern selbst“, teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. Das Ministerium habe die Länder immer wieder über verschiedene Kanäle auf die angebotenen digitalen Anwendungen hingewiesen.

Für eine einheitliche Lösung hat sich das BMG aber offenbar nicht starkgemacht. Darauf deutet auch der Umgang mit einem Angebot der Björn-Steiger-Stiftung vom März und April hin, der ebenfalls extrem zäh verlief. Das Tool der gemeinnützigen Stiftung, die sich in Gesundheitsfragen engagiert, erlaubt die Interaktion von Sormas mit potenziell Infizierten.

„Nichts hätten wir lieber als dieses Tool“, schrieb der RKI-Präsident im März

Die Stiftung hatte die Plattform eigens zum Management der Corona-Pandemie entwickeln lassen und wollte sie kostenlos zur Verfügung stellen. Sie scheiterte jedoch damit, einen Partner für einen Testlauf zu finden. Dabei hatte der Präsident des RKI, Lothar Wieler, laut einer NDR, WDR und SZ vorliegenden Mail am 23. März geschrieben: Er danke herzlich für die „eindrucksvolle Präsentation“. „Nichts hätten wir lieber als dieses Tool.“ Das RKI teilt dazu auf Anfrage mit, die Vorschläge seien zu diesem Zeitpunkt „noch nicht ausreichend konkret“ gewesen, „eine Umsetzung konnte daher nicht in Angriff genommen werden“.

Nun, acht Monate später, wird das Tool der Steiger-Stiftung doch in Sormas integriert - und damit womöglich bald sogar flächendeckend eingesetzt. Ein Sprecher der Steiger-Stiftung sagt: „Der Sommer wurde verschlafen, weil die Komponenten da waren, die Anbieter da waren, die Lösung vorgezeichnet war, aber keiner damals den Mut hatte, zu sagen: Okay, den Weg gehen wir. Schön, dass es jetzt anders ist.“ Ob man sich auch am HZI über diese Entwicklung freut? Dazu gibt es aus dem Institut keinen Kommentar. Maria Klein-Schmeink aber sagt nüchtern: „Der Satz in dem Papier reicht nicht, es muss schon eine Strategie her.“

Dr. Christina Berndt

Dr. Christina Berndt, geboren 1969 in Emden, beschäftigt sich bei der Süddeutschen Zeitung mit den Themenbereichen Medizin, Psychologie und Lebenswissenschaften. 1988 begann sie ihr Studium der Biochemie mit dem erklärten Ziel, Wissenschaftsjournalistin zu werden. Mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes studierte sie in Hannover und an der Universität Witten/Herdecke. Im Anschluss daran arbeitete sie zunächst wissenschaftlich - während ihrer Doktorarbeit am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, für die sie mit dem Promotionspreis der Deutschen Gesellschaft für Immunologie ausgezeichnet wurde. Schon während ihrer Promotion schrieb sie für die Rhein-Neckar-Zeitung über Medizin und Forschung. Es folgten Praktika bei der Deutschen Presseagentur, dem Spiegel, dem Süddeutschen Rundfunk, Bild der Wissenschaft und der Süddeutschen Zeitung, zu deren Redaktion sie seit März 2000 gehört. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen: European Science Writers Award (2006), Wächterpreis für die Enthüllung der Transplantationsskandale (2013), Wissenschaftsjournalisten des Jahres 2013 (3. Platz), Karl-Buchrucker-Preis (2018). Nominierungen für den Henri-Nannen-Preis (2013), den Georg-von-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus (2014) und den Deutschen Reporterpreis (2015 und 2017). Ihre Bücher „Resilienz - Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“ und „Zufriedenheit - Wie man sie erreicht und weshalb sie lohnender ist als das flüchtige Glück“ wurden Bestseller.