Reform-Idee: Direktmandate nur im Rahmen der nach Zweitstimmen verfügbaren Mandate vergeben?

Ich hatte in der Vergangenheit eine zu Ulfs Idee sehr ähnliche Idee: Direktkandidaten rutschen auf der Landesliste nach oben, wenn sie ihren Wahlkreis gewinnen / viele Stimmen bekommen.

Zu 1):
Ich schlage vor, dass die Parteien alle Direktkandidaten auf die Landeslisten setzen müssen. Das Entscheidungskriterium für die Einzugsreihenfolge wäre dann die Reihenfolge der Kandidaten auf der Landesliste. Dies wäre sehr einfach und eindeutig, würde jedoch leider den Einfluss der Wahlentscheidung im Vergleich zum „größten Stimmenanteil“ oder „größtem Vorsprung“ reduzieren.

Mit dem heutigen Verfahren kann ich nicht beeinflussen, ob ein Kandidat in einem anderen Wahlkreis ein Mandat erringt. Das vorgeschlagene Verfahren beinhaltet eine Kopplung zwischen Wahlkreisen:
Beispiel: In meinem Wahlkreis der ist A aufgestellt, der auf der Landesliste vor dem Kandidaten B aus einem anderen Wahlkreis steht. Nun kann ich A wählen, in der Hoffnung, dass damit B nicht mehr in den Bundestag einziehen kann. Oder ich wähle A nicht, weil ich B bevorzuge und somit Bs Chancen erhöhe. Jedoch ist dieser Effekt für mich vernachlässigbar, da ich analog auch heute verhindern könnte, dass ein Kandidat C über die Liste einzieht, weil A das Direktmandat gewinnt.

Die Frage was denn passiert, wenn eine Wahlkreisgewinnerin kein Mandat bekommt, finde ich wichtig. Die Menschen in diesem Wahlkreis haben dann entweder keine Direktkandidatin im Bundestag, und werden somit nicht auf diese Weise vertreten, oder sie werden durch eine Kandidatin vertreten, für die sie sich nicht entschieden haben. Beides finde ich nicht sehr zufriedenstellend, aber es wäre für mich akzeptabel, wenn die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate besonders hoch wäre.

Zu 2):
Direktmandate von Parteilosen oder Parteien mit kaum Zweitstimmen sind heute auch schon ein theoretisches Problem. Wenn man es übertreiben will:
Die Volkspartei ABC könnte sich entscheiden. in keinem Wahlkreis Direktkandidaten aufzustellen. Stattdessen stellt eine fast gleichnamige Partei ADC die gewünschten Direktkandidaten auf (oder die Kandidaten treten alternativ als parteilos an). Dann ziehen viele Listenplätze der ABC und es gewinnen viele Direktkandidaten der ADC, die als Überhangmandate nicht komplett ausgleichbar sind, weil die ADC etwa 0% der Zweitstimmen erzielt hat. Dann koalieren ABC und ADC und erreichen eine absolute Mehrheit, obwohl sie zusammen auf nur 30% der Zweitstimmen kommen.

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Nein. Die Zweitstimmen zählen dann nicht. § 6 (1) BWahlG

Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt. Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Absatz 3 (Einzelbewerber) oder von einer Partei vorgeschlagen ist, die nach Absatz 3 bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird (5%-Hürde) oder für die in dem betreffenden Land keine Landesliste zugelassen ist. Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Absatz 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt sind.

Hallo vieuxrenard,

ich finde Ihre Idee hervorragend. Sie sollte unbedingt diskutiert werden. Ich habe mich schon lange gefragt, warum die im Bundestag vertretenenen Parteien das so nicht vorgeschlagen haben.

Daran sieht man, dass einige Abgeordnete das Gebot der Sparsamkeit nicht so ganz ernst nehmen. Darin sehe ich eine Pflichtverletzung der Personen innerhalb der Legislative.

Bitte bringen Sie das so „aufs Trapez“.

Vielen Dank für den guten Beitrag.

Viele Grüße

Die SPD hat so etwas in die Richtung im Frühling 2020 vorgeschlagen: das Modell sah vor, die Größe auf 690 Sitze zu begrenzen und die „schwächsten“ Direktmandatssieger:innen exakt so abzuschneiden (/ bzw. juristisch korrekt: ihnen die Mandate nicht zuzuteilen), dass mit dem verbleibenden Überhang und Ausgleich das Verhältnis nach Zweitstimmen gewahrt ist. [Edit: Link zur Meldung auf der Website der SPD-Fraktion] Das hat die Union kategorisch (und nebenbei gesagt, sehr theatralisch) abgelehnt.

Als ganz grundlegendes Problem sehe ich, dass man den Überhang in dem Bundesland einkürzen müsste, wo er entsteht. Wenn dort aber alle Wahlkreissieger der Partei gute Ergebnisse erzielen, könnte dort ein Sieger mit 30% abgesägt werden, während in einem anderen Bundesland jemand der selben Partei mit 20% durchs Ziel geht. Das lässt sich der Bevölkerung nicht nachvollziehbar erklären. Um dieses Problem zu umgehen, müsste sozusagen einen internen Ausgleich (bzw. eine interne Verschiebung) der nicht zuzuteilenden Mandate.

Eine grundlegende Schwierigkeit bliebe aber, dass man weiterhin sehen könnte, wer nach alten Spielregeln in den Bundestag gekommen wäre. Die betroffenen Wahlkreise und vor allem die Wähler:innen der Erststimmensieger:innen würden sich wohl, mal etwas platt formuliert, dezent verarscht vorkommen. Das muss man normativ erstmal akzeptieren wollen.

[Ergänzung]

Juristischer Rohrkrepierer. Sorry :smiley:

Exakt. Die effektivste Methode, am Sonntag den Bundestag klein zu halten, sind bayrische Wähler:innen, die mit ihrer Erststimme die stärkste Konkurrenz zur CSU wählen und damit ihre Chance auf das Direktmandat drücken.

Eigenlob stinkt… Aber genau diese drei Möglichkeiten habe ich mit Oliver W. Lembcke vor knapp drei Jahren in einem Artikel auf dem Verfassungsblog angeregt. Und zumindest bei der SPD kann ich sicher sagen, dass sie dort zumindest Einzelnen bekannt sind.

Zur (integrierten) Stichwahl / Präferenzwahl / instant-runoff-voting: ich persönlich bin ein starker Befürworter dieses Modells und würde auch so argumentieren wie @cocolin28. Es gibt aber auch sachkundige Stimmen, die den Effekt einer stärkeren Verteilung auf die Parteien anzweifeln (allen voran der anonyme, sehr expertige Twitter-User @ mq86mq). Meiner Meinung nach müsste man da tatsächlich mal empirische Untersuchungen zum Wahlverhalten unter einem solchen System anstellen. In jedem Fall müsste man wohl die Unterverteilung auf die Länder trotzdem aufweichen, da gerade in kleinen Bundesländern noch (fast) alle Wahlkreise an eine Partei gehen können, und das dann relativ viel Ausgleich erfordert.

Zu Listen-Sortierung nach Wahlergebnis: die Idee ist tatsächlich schon über 100 Jahre alt, es gibt einen wissenschaftlichen Artikel („Das Problem der verhältnismässigen Vertretung: Ein Versuch seiner Lösung“) von 1902 dazu (leider nicht mehr online verfügbar, bei Interesse kann ich gern das PDF zuschicken). Das Grundproblem ist aber, wie man diese Reihenfolge festlegt. Die Kandidierenden schneiden ja nicht nur wegen ihrer Person gut oder schlecht ab, sondern maßgeblich wegen ihrer Partei. Das könnte man lösen, indem man die Differenz aus Erst- und Zweitstimme bildet und so die Beliebtheit der Kandidierenden relativ zu ihrer Partei vor Ort bestimmt.

Das kann aber wiederm zu taktischem Stimmensplitting führen, bei dem Wähler:innen absichtlich ihre Zweitstimme einer anderen Partei geben, um ihre:n Kandidat:in zu pushen. Das kann man hinnehmbar finden, wenn nicht, könnte man das Zweitstimmenergebnis der letzten Wahl heranziehen, um das taktische Element zu eliminieren. Aber gerade bei größeren bundespolitischen Verschiebungen können vor allem erstmalig Kandidierende dadurch Vor- oder Nachteile haben, die weit außerhalb ihres Einflusses liegen (wenn zB die Politik in dem Wahlkreis ein Kraftwerk geschlossen hat o.ä.).

@vieuxrenard wenn ich an die Expertenempfehlungen von @cocolin28 anschließen darf: neben Prof. Behnke sind auch Frau Prof. Schönberger von der Uni Düsseldorf und Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung gute Ansprechpartner. Alle waren letzten Oktober als Expert:innen im Innenausschuss geladen, Vehrkamp ist aktuell auf Twitter sehr umtriebig (@ mandaterechner), Schönberger hat für o.g. SPD-Modell das Gutachten geschrieben und vertritt die Klage der Opposition gegen die GroKo-Reform in Karlsruhe

Long story short: die Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit hat einiges zu tun bis Juni 2023 :slight_smile:

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Hallo Ulf,
grundsätzlich denke ich, dass dein Vorschlag in die richtige Richtung geht. Ich würde ihn mit folgender Schranke „verfeinern“ bzw. abändern (ehrlich gesagt, dachte ich auch jahrelang es so in Schule gelernt zu haben ;-):

Ich würde nur Direktmandate an die Kandidaten verteilen die >50% der Stimmen ihres Wahlkreises gewinnen.

Das sollte die Überhangmandate mit großer Wahrscheinlichkeit stark reduzieren und die lokale Stellung der Direktmandate stärken, da hinter dem Kandidaten eine sehr hohe Zustimmung im Wahlkreis haben.
Sollte es dennoch zu vielen Überhangmandaten kommen, so würde ich nach deiner Logik verfahren.

Aktuell ist es aber so, dass sowohl die Liste, als auch die Direktkandidaten durch die Legitimation der jeweiligen Mitglieder statt findet.

Würde bedeuten, dass ein Direktkandidat aufgestellt werden kann, weil er die Mehrheit in seinem Wahlkreis hinter sich hat, aber nicht zwingen von der Landesversammlung gewählt werden muss.

Beispiel: Damit würden wir die CDU zwingen HG Maaßen auf die Landesliste zu setzen, auch wenn das gar nicht der Wille des ganzen Bundeslandes entspricht.

Ich möchte die Idee von @cocolin28 stärken:

Die Stichwahl um das Direktmandat, wenn es im ersten Wahlgang keiner kandidierenden Person gelang, 50% der Stimmen auf sich zu vereinen würde die Identifikation der Wahlkreisbevölkerung mit dem Direktmandat stärken. Außerdem würde es die Überparteilichkeit und das Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche Interessen bei den Direkt-MdBs stärken, da diese - wie heute bei Stichwahlen für kommunale Ämter - auch außerhalb des eigenen Klientel für sich werben müssten.

Mit dieser Methode würde die Zahl der CDU-Direktmandate wohl sinken und es wird sichergestellt, dass 1) alle Parteien Direktkandidierende ins Rennen schicken können und sich dabei Chancen ausrechen können und 2) am Ende ein Direktmandat gewählt wird, dem mindestens 50% der Wähler*innen akzeptieren.

Nachteil könnte natürlich eine niedrigere Wahlbeteiligung in den Zweitwahlgängen sein.
Andererseits vielleicht auch spannend, wenn die ersten Sondierungs- und Koalitionsgespräche noch unter dem Gedanken kommuniziert würden, dass man noch weiterhin gewählt werden möchte.

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Ja, den Einwand mit der Wahlbeteiligung habe ich auch schon öfter gehört und finde ich sehr bedenkenswert. Andererseits könnte gerade im zweiten Wahlgang auch eine höhere Wahlbeteilgung das Ergebnis sein. Die Wähler/innen müssten sich in diesem Wahlgang nur noch mit zwei Kandidaten auseinanderandersetzen (Komplexitätsreduktion), was dazu führen könnte, dass sie das erstmal überhaupt tun (denn viele Wähler/innen wählen ja auch derzeit in der Erststimme einfach nach „Parteipräferenz“ aus Mangel an Zeit/Energie/Interesse).

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Lieber Ulf (@vieuxrenard),

es ist erstmal sehr gut, wenn sich politikbegeisterte Menschen oder sogar ExpertInnen (wie bspw. JuristInnen) sich über das Wahlrecht Gedanken machen und eigene Konzepte entwickeln. Es ist finanziell wie repräsentativ nicht wünschenswert, wenn der Bundestag immer weiter wächst. Das bisherige System mit Erst- und Zweitstimme, und damit verbunden Überhang- und Ausgleichsmandate, ermöglicht auch erst das Anwachsen der Mandate, wenn nicht mind. zwei große Parteien mit ungefähr gleich vielen gewonnenen Direktmandaten vorhanden sind. Das jetzt geltende System ist darauf ausgerichtet - historisch gesehen.

Es gibt nun mehrere abstrakte Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen: einerseits wird innerhalb des Systems gebastelt oder andererseits es wird das Wahlsystem komplett neu entwickelt. Dies bringt mich nun zur konkreten Reform-Idee. Darin sehe ich einige verfassungsrechtliche Probleme, die das BVerfG in meinen Augen und basierend auf der bisherigen Rechtsprechung wahrscheinlich nur mit Schmerzen oder gar nicht passieren lassen wird.

Grds. ist festzuhalten, das Grundgesetz schreibt dem Wahlrechtsgesetzgeber kein bestimmtes Wahlsystem vor, solange es sich in den Grenzen der Wahlrechtsgrundsätze - freie, allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl - aufhält.

Mit dem Vorschlag, nicht alle Direktmandate der Gewinnerpartei zuzuschlagen, sondern ggf. der „zweitbesten“ Partei, könnte ein Problem mit der Gleichheit der Wahl darstellen.

Die Gleichheit der Wahl bedeutet die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise. Hinsichtlich des aktiven Wahlrechts verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit allg. eine gleiche Bewertung und den gleichen Einfluss aller abgegebenen Stimmen auf das Wahlergebnis, d.h. bei der Mehrheitswahl auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise nur den gleichen Zählwert der Stimmen, bei der Verhältniswahl und bei gemischten Wahlsystemen (!!!) auch den gleichen Erfolgs(chancen)wert. Dies gilt nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern für das gesamte Wahlverfahren von der Wahlvorbereitung über den Wahlkampf bis zur Feststellung des Wahlergebnisses und Zuteilung der Wahlmandate.

Das BVerfG bringt in seiner Rspr. sowohl den Zusammenhang zum Demokratieprinzip wie auch den formal-egalitären Charakter zum Ausdruck: „Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der geschichtlichen Entwicklung und der demokratisch-egalitären Grundlage des GG davon auszugehen, dass jeder Staatsbürger, der eine in derselben Weise wie der andere, nach seinem individuellen Willen soll bestimmen können, wen er als Volksvertreter wünscht, so dass grds. die eine Stimme auf das Wahlergebnis rechtlich denselben Einfluss ausüben muss wie die andere. Für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie sie das Grundgesetz geschaffen hat, ist die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung.“ (BVerfGE 6, 84 (91); st. Rspr., zuletzt mit Nuancen iE BVerfGE 146, 327 (349 f.)

Wenn nun allerdings die Stimmen der WählerInnen zum Gewinn des Direktmandats unberücksichtigt bleiben und gleichzeitig die gewinnbringenden Stimmen in einem anderem Wahlkreis berücksichtigt werden, haben die unberücksichtigten Stimmen einen geringeren Erfolgswert als die anderen. Das BVerfG legt hierbei einen strengen, formalen Maßstab an. Nach diesem strengen Maßstab muss festgestellt werden, dass nicht jede Erststimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis vor Ort ausübt. Aus einem nicht näher bestimmbaren Grund wären dann die Stimmen der „zweitbesten“ Partei einflussreicher als die des eigentlichen Gewinners. Das ist mit der Wahlrechtsgleichheit und der Erfolgswertgleichheit aus Art. 38 GG grds. nicht vereinbar.

Die Wahlrechtsgleichheit darf nur durch andere Verfassungswerte beeinträchtigt werden. Doch muss der Zweck der Ungleichbehandlung von einem Gewicht sein, „das der Wahlgleichheit die Waage halten kann“ (BVerfGE 131, 316 (338). Notwendig ist also ein besonderer zwingender Grund. Der rechtfertigende Grund muss zur Verfolgung seines Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Fraglich ist meinen Augen, ob der Wille, den Bundestag zu verkleinern, ein besonderer verfassungsrechtlicher Grund darstellt. Aus dem Demokratieprinzip würde sich dies ableiten lassen. In meinen Augen liegt dabei aber kein besonderer zwingender Grund vor. Mehr Abgeordnete würden auch bspw. eine größere Legitimation und eine höhere formale Repräsentation bedeuten.

Der hier vorgebrachte Vorschlag von Ulf könnte - wenn das BVerfG die Wahlrechtsgleichheit bejaht - auch gegen das Demokratieprinzip verstoßen. Jedes wie auch immer geartete Kriterium zur Feststellung, welche Direktmandate die „besten“ sind, kann in meinen Augen nicht mit dem Demokratieprinzip vereinbart werden. Es ist nicht demokratisch, einen Gewinner eines Direktmandates dieses vorzuenthalten. Auf jeder noch so kleinen Ebene (bspw. Vereinswahlen) gewinnt bei mehreren KandidatInnen, soweit nichts anderes geregelt, immer diejenige Person, die die relative Mehrheit auf sich vereint. Auch das ist demokratisch. Und nur weil eine Person einen hart umkämpften Wahlkreis mit bspw. drei gleich guten und erfolgreichen KandidatInnen gewinnt, soll dieser ihm wegen einem zu „schlechten“ Ergebnis vorenthalten werden? Das ist mit Art. 20 GG nicht zu vereinbaren.

Der hier in den Antworten gemachte Vorschlag, zwischen den beiden bestplatzierten KandidatInnen eine Stichwahl durchzuführen, halte ich nach den Vorgaben des BVerfG zielführender. Dabei habe ich den Effekt einer größeren Ausgewogenheit im Bereich der Mandatsverteilung vor Augen. Schließlich ist nicht immer die SPD und die CDU/CSU auf den ersten beiden Plätzen. Ebenso hätte jede Stimme den gleichen Einfluss auf das konkrete Ergebnis und die konkrete Zusammensetzung des Bundestages. Auch würde dies den Direktmandaten eine höhere demokratische Legitimation verleihen.

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Die Lösung für das Problem der Wahlbeteiligung hat @Slama schon erwähnt:

Jegliche Empirie spricht dafür, dass (außer in einzelnen Ausnahmefällen) die Wahlbeteiligung bei Stichwahlen sinkt. Genau das war auch die Begründung der NRW-Landesregierung, als sie (später vom Verfassungsgerichtshof gekippt) die Stichwahl für Bürgermeister:innen und Landrät:innen abgeschafft haben. Wahl mit relativer Mehrheit ist legitimatorisch offensichtlich auch suboptimal, aus dieser Sicht ist Präferenzwahl eine gute Lösung. Es ist natürlich etwas komplizierter als einfaches Ankreuzen, und würde wohl zu einem leichten Anstieg ungültiger Stimmen führen. Das ist aus meiner Sicht aber tolerabel, wenn man dadurch zu einer absoluten Mehrheit bei hoher Wahlbeteiligung kommt.

Exakt. Insbesondere, wenn es ja nun wirklich praktisch um überhaupt nichts mehr geht, außer darum, ob nun von Partei A der Direktkandidat D neben dem Listenkandidaten L von der Partei B in den Bundestag kommt oder umgekehrt. Ich wage mal zu behaupten, die allermeisten Leute wissen nicht einmal, wie ihr Wahlkreisabgeordneter überhaupt heißt, sofern es nicht zufällig ein „Promi“ ist, und es ist ihnen auch völlig egal. Die Leute wählen Parteien und deren Spitzenkandidaten, und wenn klar ist, wer gewonnen hat, ist die Besetzung irgendwelcher Hinterbänke komplett belanglos. Vielleicht schafft man damit ja einstellige Wahlbeteiligungen, wenn wirklich relevante Stichwahlen wie Landräte oft schon bloß um und bei 30% liegen.^^

Es gibt ja auch eigentlich überhaupt keinen Grund mehr, warum die Parteien für diese Stichwahlen noch irgendeinen Wahlkampf führen sollten. Die Mehrheitsverhältnisse sind klar und es stehen Koalitionsgespräche an, was zu dem Zeitpunkt dann viel interessanter und wichtiger ist. D.h. es gewinnt dann oft der, der aus seinem Privatvermögen noch eine Schippe drauflegt und seine Leute besser mobilisieren kann.

Gelegentlich gibt es dann mal ausnahmsweise irgendwelche Popcornwahlkreise. Und da wird es dann echt problematisch, denn es steht dann eine zusätzliche, extrem relevante Information zur Verfügung, nämlich wer auf den entsprechenden Listenplätzen steht, die durch evtl. Direktkandidaten verdrängt würden.

Man stelle sich z.B. mal vor, so jemand wie Maaßen kandidiert nicht als Direktkandidat, sondern sitzt irgendwo auf Platz n auf der Landesliste, so dass er ohne zusätzliche Direktmandate seiner Partei gerade noch in den Bundestag käme. Dann rufen nämlich seine politischen Gegner im Zweifelsfall nicht mehr dazu auf, einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu wählen, sondern explizit seinen Parteikollegen im Wahlkreis, um ihn von der Liste zu verdrängen, während Mitglieder seiner eigenen Partei dann vielleicht gehäuft absichtlich den gegnerischen Direktkandidaten wählen, um dieser kontroversen Person doch noch das Listenmandat zu sichern.

Wäre für den neutralen Zuschauer sicherlich eine lustige Sache, aber im Grunde ist man dann fast bei einer Situation wie damals beim „negativen Stimmgewicht“, wo Wähler dann aus taktischen Gründen nicht etwa eine „verbündete“ Partei des eigenen Lagers wählen, sondern absichtlich eine Partei, die sie eigentlich stark ablehnen, um einen Effekt zu erzielen.

Im übrigen bin ich der Meinung, dass die Wahlkreise einfach abgeschafft und durch Personenstimmen auf den Listen ersetzt werden sollen.

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Deine Reformidee finde ich super. Aber genau die Folgefrage 1 habe ich mir auch gestellt und lässt sich durch Deine 2 Lösungsvorschläge nur unzureichend lösen. Weil beim 1. Vorschlag nach Prozenten auszuwählen, haben die Wahlbezirke mit wenig Gegenkandidaten einen Vorteil und bei der Diferenz zum Zweiten kann es schon ein bischen gerechter verhalten. Aber auch dort spielt die Anzahl der Gegenkandidaten eine Rolle, wie hoch die Differenz ausfallen kann.

Mit gefällt die zweite Variante gar nicht. Klar, die Begründung ist, dass in einem Wahlkreis, wo der Vorsprung zum Zweitplatzierten nur sehr knapp ist, jener fast genau dieselbe Legitimation hätte, wie der Erstplatzierte. Aber ich fände es trotzdem komisch, wenn der Einzug in den Bundestag alleine von der Verteilung der Stimmen auf die Gegenkandidaten abhängt. Warum sollte ein Kandidat, der bspw. in einem ländlichen Wahlkreis seinen einzigen aussichtsreichen Gegenkandidaten mit 40% zu 35% schlägt, „schlechter“ sein als einer bspw. in einem urbanen Wahlkreis, der 30% erhält und mehrere andere um die 20%?

Die Anzahl der Gegenkandidaten ist dagegen komplett irrelevant. Die großen Parteien stellen sowieso überall Kandidaten auf, und ob da nun noch ein paar Sonstige im Promillebereich hinzukommen, wirkt sich nur marginal aus.

Im übrigen bin ich der Meinung, dass die Wahlkreise einfach abgeschafft und durch Personenstimmen auf den Listen ersetzt werden sollen.

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Hallo,

ich finde es sehr gut, wenn man grundlegend über das Wahlsystem nachdenkt.
Bei deinem Vorschlag @vieuxrenard, den ich vollkommen nachvollziehbar und gut finde, um nicht demnächst den BT ins Olympiastadion umziehen zu lassen, hätte ich aber persönlich ein Problem: Mir würde da irgendwie fehlen, dass durch Direktkandidaten kleinster Parteien, die nicht über 5% gekommen sind, auch mal ein Korrektiv der großen etablierten Parteien in der Debatte existiert, indem auch unpopuläre Themen angesprochen werden. Ich denke da z.B. an Frau Pau und Herrn Bartsch, die doch in sozialpolitischen Fragen ein sinnvolles Widerlager boten. Auf anderen Gebieten finde ich diese Partei nicht so überzeugend, doch es würde mir persönlich Vielfalt fehlen, wenn das nur noch aus den Teilnehmern >5% bestünde. Außerdem macht das ja irgendwie den Wahlkreis, wo diese Direktkandidaten gewonnen haben, zu einer Insel, die nicht zu Deutschland gehören soll im Parlament.
Langfristig verdrängt man dann kleine Parteien, weil ja eigentlich der große Fokus Bundespolitik ist und weniger Landes- oder Regionalpolitik - auch aus Finanzierungssicht. Wenn also die Chance für den BT nur über die 5% Hürde geht, wird das für kleinere generell schwierig zu überleben.
Für mich hat das auch was mit Vielfalt zu tun.

Zwei fundamentale Gedanken noch zum Thema Wahlsystem, die wir seit Wochen immer mal diskutieren:
Mir persönlich würde es einfacher fallen mein politische Gesinnung durch Abwahl all derer, die mich nicht vertreten sollen, auszudrücken. Keine demokratische Partei hat 100% Trefferquote mit ihrem Wahlprogramm beim Wähler und alle anderen 0%, behaupte ich jetzt mal. Also ist das eine Kreuz ja nur ein Bruchteil, von dem was ich gut finde und zwingt mich den Rest niedriger zu priorisieren. Insofern, würde ich lieber nur die stehen lassen, die für mich insgesamt Ziele vertreten, die wichtig sind und alle, von denen ich nicht regiert werden will raus wählen. Dann misst man ggf. auch eher an Geleistetem (Bundes- und Landesweit) als an Versprechungen. Erzählen können sie ja viel… was konkret gemacht wurde, wenn man „Macht“ hatte, wird irgendwie nicht ausreichend begutachtet und auch belohnt.

Ein noch abgefahrener Gedanke (wir denken hier gern außerhalb von Schubladen):
Warum kann man nicht einfach direkt NUR Ziele wählen? Die Parteien stellen vorher Ranking der Ziele und Konzepte/Personalien dazu auf und werden dann entsprechend der gewählten Ziele mit Sitzen ausgestattet. Das würde mir am Besten gefallen, weil es wirklich direkt den Wählerwillen abbildet und trotzdem die Parteiprioritäten berücksichtigt. Da geht es dann in erster Linie um Inhalte und nicht Personen. Jetzt ist das ja umgekehrt.

Viele Grüße!
Anja

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Wenn man deine Argumentation zuende denkt, widersprichst du dir selbst. Ebenso wie die aufgestellte Liste wird die Direktkandidat*In in einem Wahlkreis von der Partei nominiert. Das ist also genau gleich demokratisch. Ob nun der Ortsverband eine Person ausklüngelt oder auf einem Landesparteitag sich Menschen bewerben und von Delegierten gewählt werden, ist da einerlei. Im Zweifel ist meiner Ansicht nach letzteres sogar demokratischer, da den Bewerbungen (zumindest in meiner Partei) auch landesweites Engagement in Arbeitskreisen etc. vorausgeht und die Distanz größer ist. Im Ortsverein steht die kandidierende Person sehr oft auf Jahre hinweg fest, die Nominierung ist meistens eh klar und potentielle Gegenkandidierende haben kaum eine Chance, am Platzhirsch vorbeizukommen. Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie viel extremer das noch in einer Altherrenpartei wie der CDU/CSU sein mag…

Zweites Gegenargument gegen Direktmandate, ist dass kaum jemand die Politik der Kandidierenden kennt, oder überhaupt schon ihre Namen. Menschen entscheiden sich hier fast nie „für“ jemanden, sondern wählen einfach „ihre“ Partei oder verleihen ihre Stimme taktisch.

Einziges Pro-Argument sehe ich darin, dass man eine Ansprechperson hat, in die man sich direkt im Bundestag zB per Mail wenden könnte - was man aber ehrlicherweise auch über die Landesliste (wenn auch etwas gröber) abbilden kann…

Die klaren Mehrheitsverhältnisse hast du bereits, wenn du nur mehr Stimmen hast als alle anderen Kaniddierenden. D.h. du kannst mit 20% der Stimmen gewinnen, wenn alle anderen Kanidierenden nur weniger als 20% haben. Dadurch werden 80% der Wählenden schlicht nicht repräsentiert. Schon heute führt die Erststimme dazu, dass in vielen Wahlkreisen weniger als die Hälfte wenn nicht nur ein Drittel der Menschen durch ihren Direktkandidaten repräsentiert werden. Besonders krass wird das in Sachsen oder Thüringen deutlich, wo teils 75% der Leute demokratisch gewählt haben, aber von einem AfD-Menschen „vertreten“ werden.

Weiterer Nachteil der „klaren“ Verhältnisse - also des First Past the Post Systems - ist die Polarisierung. Man sieht es in alten Demokratien wie England oder den USA, wo es schlicht nur noch zwei Parteien gibt, die komplett konträr zueinander sind. Das hat im Ergebnis zur Folge, dass der Direktkandidierende wieder nur maximal die Hälfte repräsentiert und das auch wieder nicht richtig, da die Inhalte durch die Polarisierung stark verkürzt sind.

Kurz: Das Direktmandat mag früher mal sinnvoll gewesen sein, als es noch dörflichere Strukturen und logistische Probleme gab. Heutzutage ist es aber schlicht nicht mehr zeitgemäß.

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Mein Reden! Da gehe ich vollkommen d’accord.

Das hier ist aber meines Wissens nach eine neuere Entwicklung…

… die deswegen dem System nicht unbedingt immanent ist. In den 90ern hab ich jedenfalls noch gelernt, dass das FptP-System früher oder später immer zum Zwei-Parteiensystem tendiert, (sofern es keine regionalen Besonderheiten wie die SNP gibt,) ja, aber dass diese Parteien sich immer weiter annähern und mit der Zeit praktisch ununterscheidbar werden, weil sie um die Wähler in der „Mitte“ zwischen den Parteien kämpfen müssen.

Ich denke, dass beides im Zweiparteiensystem passieren kann, dass das aber davon abhängt, in welchem allgemeinen Zustand sich die Gesellschaft befindet.

Hier nochmal ein neues Kapitel zum Thema…

Was für eine Legitimation soll das sein? Wenn man die Wahlbeteiligung einbezieht, hat den gerade mal jeder siebte Wahlberechtigte dort gewählt.

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Das Mehrheitswahlrecht bietet eine direkte Legitimation, indem die Wähler:innen tatsächlich neben dem Namen einer Person ihr Kreuzchen machen, also eine konkrete Person mit der stellvertretenden Ausübung ihrer Staatsmacht beauftragen (oder das eben verweigern). Im Verhältniswahlrecht haben sie üblicherweise nur die Möglichkeit, pauschal einer Liste zuzustimmen, deren Zustandekommen sie nicht beeinflussen konnten und auf der die späteren Abgeordneten halt irgendwo draufstehen. (Ausnahme hier ist eine Listenwahl mit Kumulieren/Panaschieren.) Grundsätzlich ist das schon ein Vorteil des Mehrheitswahlrechts. Zu überlegen wäre, ob das deutsche Modell wie hier schon angesprochen durch Stichwahlen oder Ranked Choice Voting verbessert werden könnte/sollte; in beiden Fällen bliebe der genannte Vorteil erhalten.

Ich möchte nochmal nachtragen:

Es gibt im neuen deutschen Bundestag nur einen einziges Direktmandat, dass mit über 50% Stimmen vergeben wurde (!)
Gleichzeitig wurde ein Direktmandat jetzt in Bautzen mit weniger als 20% gewonnen.

Das spricht m.E. für eine Stichwahl um diese Mandate.

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