Lieber Ulf (@vieuxrenard),
es ist erstmal sehr gut, wenn sich politikbegeisterte Menschen oder sogar ExpertInnen (wie bspw. JuristInnen) sich über das Wahlrecht Gedanken machen und eigene Konzepte entwickeln. Es ist finanziell wie repräsentativ nicht wünschenswert, wenn der Bundestag immer weiter wächst. Das bisherige System mit Erst- und Zweitstimme, und damit verbunden Überhang- und Ausgleichsmandate, ermöglicht auch erst das Anwachsen der Mandate, wenn nicht mind. zwei große Parteien mit ungefähr gleich vielen gewonnenen Direktmandaten vorhanden sind. Das jetzt geltende System ist darauf ausgerichtet - historisch gesehen.
Es gibt nun mehrere abstrakte Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen: einerseits wird innerhalb des Systems gebastelt oder andererseits es wird das Wahlsystem komplett neu entwickelt. Dies bringt mich nun zur konkreten Reform-Idee. Darin sehe ich einige verfassungsrechtliche Probleme, die das BVerfG in meinen Augen und basierend auf der bisherigen Rechtsprechung wahrscheinlich nur mit Schmerzen oder gar nicht passieren lassen wird.
Grds. ist festzuhalten, das Grundgesetz schreibt dem Wahlrechtsgesetzgeber kein bestimmtes Wahlsystem vor, solange es sich in den Grenzen der Wahlrechtsgrundsätze - freie, allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl - aufhält.
Mit dem Vorschlag, nicht alle Direktmandate der Gewinnerpartei zuzuschlagen, sondern ggf. der „zweitbesten“ Partei, könnte ein Problem mit der Gleichheit der Wahl darstellen.
Die Gleichheit der Wahl bedeutet die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise. Hinsichtlich des aktiven Wahlrechts verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit allg. eine gleiche Bewertung und den gleichen Einfluss aller abgegebenen Stimmen auf das Wahlergebnis, d.h. bei der Mehrheitswahl auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise nur den gleichen Zählwert der Stimmen, bei der Verhältniswahl und bei gemischten Wahlsystemen (!!!) auch den gleichen Erfolgs(chancen)wert. Dies gilt nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern für das gesamte Wahlverfahren von der Wahlvorbereitung über den Wahlkampf bis zur Feststellung des Wahlergebnisses und Zuteilung der Wahlmandate.
Das BVerfG bringt in seiner Rspr. sowohl den Zusammenhang zum Demokratieprinzip wie auch den formal-egalitären Charakter zum Ausdruck: „Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der geschichtlichen Entwicklung und der demokratisch-egalitären Grundlage des GG davon auszugehen, dass jeder Staatsbürger, der eine in derselben Weise wie der andere, nach seinem individuellen Willen soll bestimmen können, wen er als Volksvertreter wünscht, so dass grds. die eine Stimme auf das Wahlergebnis rechtlich denselben Einfluss ausüben muss wie die andere. Für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie sie das Grundgesetz geschaffen hat, ist die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung.“ (BVerfGE 6, 84 (91); st. Rspr., zuletzt mit Nuancen iE BVerfGE 146, 327 (349 f.)
Wenn nun allerdings die Stimmen der WählerInnen zum Gewinn des Direktmandats unberücksichtigt bleiben und gleichzeitig die gewinnbringenden Stimmen in einem anderem Wahlkreis berücksichtigt werden, haben die unberücksichtigten Stimmen einen geringeren Erfolgswert als die anderen. Das BVerfG legt hierbei einen strengen, formalen Maßstab an. Nach diesem strengen Maßstab muss festgestellt werden, dass nicht jede Erststimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis vor Ort ausübt. Aus einem nicht näher bestimmbaren Grund wären dann die Stimmen der „zweitbesten“ Partei einflussreicher als die des eigentlichen Gewinners. Das ist mit der Wahlrechtsgleichheit und der Erfolgswertgleichheit aus Art. 38 GG grds. nicht vereinbar.
Die Wahlrechtsgleichheit darf nur durch andere Verfassungswerte beeinträchtigt werden. Doch muss der Zweck der Ungleichbehandlung von einem Gewicht sein, „das der Wahlgleichheit die Waage halten kann“ (BVerfGE 131, 316 (338). Notwendig ist also ein besonderer zwingender Grund. Der rechtfertigende Grund muss zur Verfolgung seines Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Fraglich ist meinen Augen, ob der Wille, den Bundestag zu verkleinern, ein besonderer verfassungsrechtlicher Grund darstellt. Aus dem Demokratieprinzip würde sich dies ableiten lassen. In meinen Augen liegt dabei aber kein besonderer zwingender Grund vor. Mehr Abgeordnete würden auch bspw. eine größere Legitimation und eine höhere formale Repräsentation bedeuten.
Der hier vorgebrachte Vorschlag von Ulf könnte - wenn das BVerfG die Wahlrechtsgleichheit bejaht - auch gegen das Demokratieprinzip verstoßen. Jedes wie auch immer geartete Kriterium zur Feststellung, welche Direktmandate die „besten“ sind, kann in meinen Augen nicht mit dem Demokratieprinzip vereinbart werden. Es ist nicht demokratisch, einen Gewinner eines Direktmandates dieses vorzuenthalten. Auf jeder noch so kleinen Ebene (bspw. Vereinswahlen) gewinnt bei mehreren KandidatInnen, soweit nichts anderes geregelt, immer diejenige Person, die die relative Mehrheit auf sich vereint. Auch das ist demokratisch. Und nur weil eine Person einen hart umkämpften Wahlkreis mit bspw. drei gleich guten und erfolgreichen KandidatInnen gewinnt, soll dieser ihm wegen einem zu „schlechten“ Ergebnis vorenthalten werden? Das ist mit Art. 20 GG nicht zu vereinbaren.
Der hier in den Antworten gemachte Vorschlag, zwischen den beiden bestplatzierten KandidatInnen eine Stichwahl durchzuführen, halte ich nach den Vorgaben des BVerfG zielführender. Dabei habe ich den Effekt einer größeren Ausgewogenheit im Bereich der Mandatsverteilung vor Augen. Schließlich ist nicht immer die SPD und die CDU/CSU auf den ersten beiden Plätzen. Ebenso hätte jede Stimme den gleichen Einfluss auf das konkrete Ergebnis und die konkrete Zusammensetzung des Bundestages. Auch würde dies den Direktmandaten eine höhere demokratische Legitimation verleihen.