Ich war auch schockiert, als ich über das Urteil in einem Nachrichtenbeitrag gelesen habe.
Das konkrete Problem hier ist aber nur ein Symptom der allgemeinen Problematik, die wir im öffentlichen Dienst, vor allem im Bereich des Beamtenwesens, haben. Es werden einfach grundsätzlich erzkonservative Werte aus den 60er-Jahren gelebt, wenn es z.B. um Einstellungsverfahren geht.
Tätowierungen? Keine Chance!
Zu viele Piercings im Gesicht? Keine Chance!
Falscher Haarschnitt? Keine Chance!
Es kann und darf in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft nicht sein, dass aus der „Andersartigkeit“ bzw. aus dem Abweichen von ästhetischen oder nicht-strafbewährten moralischen Normen (vor allem Sexualverhalten) Rückschlüsse auf eine etwaige fehlende charakterliche Eignung eines Menschen gezogen werden.
Jemand, der sichtbare Tattoos oder Piercings im Gesicht hat, ist deshalb kein schlechterer Mensch und eine Nichtzulassung in ein öffentliches Dienstverhältnis aus diesem Grund ist ein Skandal (siehe z.B. Aloha-Tattoo bei einem Polizisten)
Im hier vorliegenden Fall wird kritisiert, dass das sexuell offene Verhalten der Soldatin daran zweifeln lassen könnte, ob diese charakterlich für eine hohe Position bei der Bundeswehr geeignet sei. WTF?!? Inwiefern ist jemand, der ein stock-konservatives Sexualverhalten hat, für eine Führungsposition besser geeignet als jemand der seine Sexualität offen lebt? Der Vorwurf, dass jemand, der seine Sexualität offen lebt, dem Ansehen der Bundeswehr schaden würde, ist schlicht absurd. „Oh Nein, Menschen könnten den Eindruck bekommen, dass Vielfalt bei der Bundeswehr Einzug gefunden hat - wie schrecklich!“. Nicht, dass man den Eindruck bekommt, bei der Bundeswehr (oder im öffentlichen Dienst) wäre generell alles erlaubt, was nicht strafrechtlich Verboten sei - wo kämen wir denn da hin. Zu einer liberalen, offenen Gesellschaft? Gott bewahre!
Es muss grundsätzlich gelten, dass „Anders“ als der „Durchschnitt“ zu sein kein Beleg für einen wie auch immer gearteten charakterliche Mangel ist, es sei denn, dieses „Anders“ ist klar straf- oder ordnungsrechtlich verboten oder ist erlaubt, lässt aber klare Zweifel an der demokratischen Grundausrichtung erkennen (sprich z.B. die Grauzone, in der sich Menschen bewegen, die gegen Demokratie, Flüchtlinge und co. hetzen, ohne dabei einen Straftatbestand zu erfüllen).
Dazu eine kleine Anekdote zu meiner Erfahrung bei der Bundeswehr. Ich war damals optisch klar der Metal- und Gothic-Szene zuzuordnen (dh. langer schwarzer Ledermantel, geschnürte, schwarze Lederhose, Metalshirts) und als ich so die Kaserne an einem Freitag nach Dienstschluss verlassen wollte, hielt mich der OvWD (Offizier vom Wachdienst), der sich gerade mit dem Wachsoldaten unterhalten hat, auf und belehrte mich, dass „ich dem Ansehen der Bundeswehr schaden würde, wenn ich wie ein Amokläufer aus der Kaserne gehen würde“. (Das ganze war kurz nach dem Erfurt-Amoklauf)
Ich wies den OvWD darauf hin, dass während meiner letzten Wachschicht mehrfach sturzbetrunkene Soldaten in Uniform die Kaserne zurückkamen (in der Nähe gab es mehrere Kneipen), dass Soldaten in Uniform regelmäßig Kastenweise Bier in die Kaserne trugen (ein Supermarkt war auch in der Nähe) und ob all diese Dinge nicht wesentlich problematischer wären. Nö, ich sei das Problem und ich solle in Zukunft „neutraler gekleidet“ aus der Kaserne gehen (was ich nicht tat - aus Prinzip nicht!).
Das ist halt das Problem mit diesen erzkonservativen Werten - es werden Dinge als Problem benannt, die schlicht zur Vielfalt der Gesellschaft gehören und absolut kein Problem sein sollten, da sie weder strafbewährt, noch sonst irgendwie auf einen charakterlichen Mangel hinweisen würden, während andere Verhaltensweisen, die klar problematisch sind (z.B. Alkoholismus, besoffen in Uniform rumlaufen) ignoriert werden, weil sie halt im konservativen Weltbild „dazu gehören“. Und das darf nicht sein.