Recht auf Einfallslosigkeit

(Nachtrag vom 19.07.2020: Dieser Kommentar bezieht sich auf LdN197, „Spezial: AMA, Teil 1 – Eure Fragen, unsere Antworten“.)

Moin,

Philip sagte, dass er von jungen Menschen, die sich für Journalismus interessieren, erwartet, dass Sie sich im Vorfeld schon damit auseinandersetzen sollen. Dass Sie sich mal an einem Podcast oder Newsletter versuchen sollen.

Bitte hört mit dem Quatsch auf. Und ich mein natürlich Euch alle. Ihr fragt damit nicht ab, ob die jungen Leute engagiert und motiviert sind, sondern es ist wieder eine Habitus-Abfrage, mit der Ihr ausgerechnet diejenigen aussortiert, die Ihr dringend im Journalismus braucht. Diejenigen die nicht aus Ihrem Umfeld Newsletter und Podcasts kennen, "einfallslos [in ihr Studium] reintap[sen] (17:12)“ und bei der Selbstfindung mit Medien experimentieren konnten.

Die sich dafür aber sehr genau damit auskennen, wo es in unserem Land brennt. Die nicht wissen, wie mensch in einem Bewerbungsgespräch reden muss. Dafür aber mit den unter unseren Fehlern leidenden Menschen reden können. Später in der Sendung, geht Philip ja selbst darauf ein, dass er als weißer, privilegierter Mann diese Fähigkeit nicht besitzt. Wär also doch ne super Ergänzung, oder?

Dazu empfehle ich weiterführend mal die Interview-Folge „Bestsellerautor Christian Baron über Armut, Herkunft und Solidarität“ aus dem Podcast „Wohlstand für alle“, in der Herr Baron (Autor von „Ein Mann seiner Klasse“) über seinen Werdegang als Journalist erzählt:

Inwieweit sind denn die Gehversuche in Sachen Journalismus, die Philipp als sinnvoll bezeichnet hat, Ausweis eines bestimmten Habitus? Wir haben ja nicht verlangt, dass man konzertreif Klavier spielen kann …

Die Gehversuche, die Philip vorgeschlagen hat, sind ja gerade Qualifikationen bzw. Erfahrungen, die man auch erwerben kann, ohne dass man einen besonderen Bildungshintergrund hat - eine gewisse Affinität zum Internet und zu elektronischen Medien reicht doch schon.

Oder übersehe ich was?

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Also erstmal: Ausnahmen und Regeln und so. Ist klar, ne.

Jetzt zum Text: Wir machen keine Podcasts und schreiben keine Newsletter. Das ist Euer Ding. Da ihr vermutlich deutlich mehr Podcasterinnen kennt als ich, könnt ihr mich da ja gerne eines Besseren belehren. Denn mein Eindruck ist, dass das ein recht ähnlicher Menschenschlag ist. Ich würde sogar behaupten, dass diese Gruppe umso homogener wird, je jünger die Schaffenden sind. Ü50 fallen mir noch ein paar Gelernte ein. U30 scheint jede Abi, Studium und entsprechende Eltern zu haben. Ist das nur meine Blase oder würdest Du diese Beobachtung teilen?

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Vielleicht wäre es ja an dieser Stelle relevant, sich mal zu fragen, ob so ein Abi nicht auch ein Zeichen eines gewissen Maßes an Kompetenz sein könnte und nicht nur von Privilegien. Es handelt sich halt nicht um einen Adelstitel. Welche Indizien hast Du andersherum dafür, dass es ein besonderer Ausweis von Eignung sein sollte, etwas noch nicht ausprobiert zu haben? Romantisierst Du hier nicht einfach das Proletariat?

Es geht hier um Podcasts. Das ist ein Medium um Nachrichten zu übertragen. Und die Darreichungsform ist ja wohl die unwichtigste Fähigkeit, die Journalist*innen besitzen müssen.

Journalist*innen müssen Sachverhalte analysieren und in den Kontext stellen (was nicht Teil einer Abi-Prüfung ist). Sie müssen Zugang zu den Menschen besitzen, bei denen die Nachrichten passieren (was Euch nicht bei allen gelingt, wenn Ihr darauf besteht, was Besseres zu sein). Und vor allen Dingen müssen Journalist*innen die ganze Gesellschaft darstellen. Und das kann eine Bubble alleine nicht.

Drücken wir es mal anders aus: Wir haben es aufgegeben gehört zu werden. Wir wollen sprechen. Oder denkst Du es wäre schlecht, wenn Du in einer Zeitung mal einen Kommentar von uns lesen müsstest?

Lieber Diskutant,
M.E. zeigt man damit, einen Podcast schon mal probiert zu haben nicht nur Handwerk, sondern primär Motivation, Interesse, Initiative und Problemlösungskompetenz, alles Dinge, die man sich wünschen würde als Arbeitgeber. Ich denke, das wär auch durch eine andere “Darreichungsform” belegbar (allerdings sollte man die Bedeutung des „Handwerks“ nicht unterschätzen - zumal in einem zeitkritischen Beruf!). Abgesehen davon, dass man dabei auch die von Dir beschriebenen analytischen und sprachlichen Fähigkeiten besser beweist als mit einem Abitur. Nichts versucht und gemacht zu haben ist jedenfalls kein Nachweis besonderer Eignung.
Ich weiß nicht, wer „wir“ ist, aber

  1. bin ich voll dabei, dass wir uns bemühen müssen, eine höhere Chancengleichheit auch für Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten zu erreichen. Ob Wahllosigkeit bei der Stellenbesetzung das richtige Verfahren dafür ist, bezweifle ich. Einer der zentralen Prädiktoren zukünftigen beruflichen Erfolgs ist halt Erfolg in der Vergangenheit…
  2. Journalismus profitiert sicherlich- wie viele Berufe - von einer Diversität der Perspektiven. Journalismus ist aber eine Profession. Mitglied einer unterprivilegierten Gruppe zu sein reicht nicht als Qualifikation.

Ich überspring mal die Anspräche darüber wie wichtig Diversität ist, und ruf nur noch mal den großen Vordenker Gusteau in Erinnerung, der eine Ratte für den besten Koch Frankreichs hält. Denn ich vermute mal, da sind wir uns schon einig…

Das bestreite ich auch nicht. Wer das vorweisen kann, bringt definitiv ein paar gute Argumente für ein Bewerbungsgespräch mit. Das ist auch nicht das Problem.

Ein Problem tritt auf, wenn solche Voraussetzungen zur Pflicht werden oder auch nur der Eindruck vermittelt wird, sie wären Pflicht.

Beispiel:

  • Ich behaupte jetzt mal, es gibt 'nen Haufen Leute, die glauben nicht gut genug zu sein.
  • Ich behaupte weiterhin, unter denen sind Leute die gut sind. Einige sogar richtig gut.
  • Und zum dritten behaupte ich, die machen keine Podcasts, Schülerzeitungen, Newsletter, Blogs, etc.

Erstmal musst du die Medien kennen. Als nächstes werden die ausgefiltert, die sich nicht trauen. Denn nochmals: Du bist nicht gut genug. Du hast Angst davor, dich auf eine Bühne zu stellen, um dann gesagt zu bekommen, dass du nicht gut genug bist. Und das ist unvorstellbar schwieriger, wenn wirklich niemand daran glaubt, dass du das kannst. Und abschließend: Worüber sollst du reden? Das fehlt nämlich noch: Du schämst Dich dafür, wer du bist (und damit meistens auch, wo du weg kommst). Schließlich bist du nicht gut. Das, was du nicht willst, ist das andere erfahren, wie dein Leben aussieht. Natürlich könntest du noch über die anderen reden. Aber mit denen hast du doch garnichts zu tun. Das können die, die sie kennen viel besser.

Überleitung.

Du hast also irgendwie den Mut bekommen, dich bei einer Zeitung zu bewerben. Und dann das. Ich mein,… der hat ja recht. Andere können sowas. Du nicht. Du hast nichts zu bieten. Du bist einfach nur faul. Blöd es überhaupt versucht zu haben. Haben ja auch alle gewusst. Also doch Latzhose.

Vielleicht gehörst du noch zu den wenigen, die das hinterfragen. Weil das doch erstmal quatschig klingt. Nur weil du keinen Podcast hast, machst du ja nicht nichts. Wo kommt das denn her? Du machst wahnsinnig viel. Dein Leben ist vermutlich deutlich härter und du hast vielleicht sogar schon mehr Proben im Leben überstanden, als andere je erleben werden. Die anderen prahlen ja ständig damit, was sie schon alles geschafft haben…

Aber du kannst das ja nicht. Scham.

Aber zurück zu Dir mit großem „D“:

Hast ja recht. Ist natürlich auch quatsch zu behaupten, dass jede*r mit 'ner heftigen Origin-Story 'nen super Journalist wäre. Aber könntet ihr diese Feuer in den Augen nicht mal mit einem Test abfragen, der nicht doof ist? Trinkt mit den Frischlingen z.B. einfach mal 'nen Kaffee und schaut sie euch an. Müsst nur sensibel sein und mal wieder die Empathie einschalten. Hab mir sagen lassen, dass einige das sogar können. Die Zeit dürfte ja da sein, wenn sie auch dafür da ist, um sich Podcasts anzuhören.

Bleibt noch die Frage, wer wir sind. Und ich gebe gern zu, dass ich mich davor gedrückt habe, uns einen Namen zu geben.

Denn der erste Reflex wäre zu sagen: Die Armen. Aber das ist problematisch. Weil es in unserer Gesellschaft keine Armen gibt, solange sie nicht beweisen, dass sie arm sind. Das gilt fürs Amt genauso wie für Debatten. Zu schnell wird das relativiert oder verschiebt die Diskussion in eine völlig falsche Richtung. Und irgendwie trifft es auch nicht den Kern der Sache.

Darum versuch ich es mal so. Wir sind die, die nicht gut genug sind. Hat sehr oft mit Geld zu tun. Oft auch mit Diskriminierung. Ist aber auch egal. Für die anderen sind wir nicht gut genug.
Oder waren es nicht. Danke E.