Pullfaktoren - wissenschaftliche Evidenz?

Hallo,

ihr hattet in einem eurer jüngsten Podcasts erwähnt, dass ihr sehr lange nach wissenschaftlicher Evidenz zu Pullfaktoren bei MigrantInnen gesucht habt und nicht fündig geworden seid.

Ich bin auf diese Studie gestoßen: The Welfare Magnet Hypothesis: Evidence from an Immigrant Welfare Scheme in Denmark - American Economic Association

Die interne Validität (Qualtität der Studie, Effektnachweis innerhalb des Samples) erscheint nicht fraglich, da es sich um ein quasi-Experiment handelt. Ob sich dies auch auf andere Situationen übetragen lässt (externe Validität) ist natürlich unklar. Dazu müssten mehr Studien auf solche Effekte stoßen.

Ich denke es führt aber angesichts dieser Evidenz zu weit, Pullfaktoren vollständig zu negieren. Um nicht missverstanden zu werden: Ziel der Migrationspolitik sollte es aber natürlich nicht sein, einfach nur Pullfaktoren zu minimieren.

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Dass eine einzige Studie unter bestimmten Bedingungen einen bestimmten Effekt feststellt, heißt ja noch lange nicht, dass es diesen auch tatsächlich immer gibt. Eine andere Studie, die sich auf die von Dir genannte bezieht, kommt zum Beispiel zu einem anderen Ergebnis. Dort heißt es:

We find limited evidence that immigrants systematically move to localities with higher benefits. The lack of significant welfare migration within a context characterized by high variance in benefits and low barriers to movement suggests that the prevalence of this phenomenon may be overstated.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/ajps.12766

Die Evidenz für die „Welfare Magnet Hypothesis“ ist also zumindest umstritten.

Hallo,

hast du den vollständigen Artikel gekauft? Da steht zwar im Abstract, dass die Anzahl um 5000 verringert wurde und nachdem die Änderungen rückgängig gemacht wurden, um quasi den gleiche Betrag wieder erhöhten, aber leider nicht, von welcher Gesamtzahl. Ein Prozent-Werte wäre schon hilfreich, um einordnen zu können, was eine Absenkung der Hilfen um die Hälfte ausmacht.

Es gibt ja auch bei der Arbeitsmigration Pullfaktoren. In dem Bereich wird ja zurecht darauf hingewiesen, dass Deutschland hier sehr schlecht abschneidet und sich nur wenig Menschen für Deutschland entscheiden. Warum sollte das bei der Flucht-Migration nicht auch gelten? In einer Markus Lanz Sendung von letzter Woche erzählt ein 2015 aus Syrien Geflüchteter, der mittlerweile Bürgermeister in Baden-Württemberg ist, dass er sich für Deutschland entschieden hat, weil er hier die besten Startbedingungen gesehen hat. Und wenn ich fliehen müsste, würde ich mir auch sehr gut überlegen, in welchem Land das beste Sozial-/Gesundheitssystem existiert.

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Die Studie, die du zitierst, negiert nicht die These als solche, sondern nur wie stark der Effekt ist.

Das ist auch was die Autoren unter limited evidence bezeichnen. Laut deiner Studie ist der Effekt da, aber er wird massiv überschätzt.

Das ist also kein grundsätzlich anderes Ergebnis. Bitte sei so ehrlich.

Beißt sich das nicht? Als Flüchtling will ich vor allem schnell anerkannt werden und arbeiten dürfen. Was bringt mir ein gutes Sozialsystem, wenn ich mir mit fünf anderen fremden Flüchtlingen eine Unterkunft teilen darf.

Aus dem Deutschen Bundestag (also sich dem alten Fritz bekannt):

…vergleichsweise große Bedeutung haben persönliche Netzwerke…

Für mich ist es eine Schaufensterdiskussion. Jeder kann es sehen und hören, aber keine läuft die Auslage. Es befriedigt kurzzeitig die öffentliche Wahrnehmung, langfristig führt es zu Frust, weil die Migration ja trotzdem stattfindet.

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Ich möchte hier nochmal ausdrücklich widersprechen.
Fluchtursachen sind äußerst kompex. Der Hauptgrund dürfte auch weiterhin die Not im Heimatland sein. Durch Krieg, Verfolgung, Hunger, Armut, Perspektivlosigkeit.

Es ist Augenwischerei von Herrn Lindner, Merz, AfD und wem auch immer zu behaupten, die Sozialleistungen zögen Flüchtende an.

Die sozialen Netzwerke sind als Grund, speziell nach Deutschland zu kommen, sicherlich das Wichtigste, übrigens auch für den Bürgermeister, der bei Herrn Lanz zu Gast war. Daneben nannte er die Möglichkeit, in Deutschland weiterstudieren zu können. Er nannte nicht die Sozialleistungen.

Bei dieser Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, die sich aktuell weiter verstärkt, sollten wir froh sein, wenn demnächst überhaupt noch Menschen zu uns wollen. Es gibt einen Clip von Herrn Lindner, der in… ich glaube, es war Ghana… in einem Vorlesungssaal fragte, wer denn als Fachkraft nach Deutschland kommen möchte. Niemand meldete sich.

Wenn wir so weitermachen und so deutlich zeigen, dass wir niemanden mit internationaler Geschichte in Deutschland haben möchten, werden die dringend benötigten Fachkräfte - ich erinnere daran: Bald gehen die Boomer in Rente - ganz sicher nicht kommen.

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/faktencheck-sozialleistungen-fluechtlinge-effekt-100.html

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Habe mal den Erstautor in die Suchmaschine meiner Wahl eingegeben und bin auf diesen Link gestoßen: The Welfare Magnet Hypothesis: Evidence From an Immigrant Welfare Scheme in Denmark | NBER

Da kann man das PDF runterladen. Angeguckt habe ich es mir aber nicht weiter.

Da muss ich widersprechen. Der Bürgermeister nennt zwar für sich selbst familiäre Gründe (sein Bruder war schon hier) und die Möglichkeit studieren zu können. Bei Minute 8 sagt er aber ganz klar, dass sich Syrer 2015 vorallem für Deutschland, Schweden oder Niederlande entschieden haben. Als Lanz nachfragt, wieso das so gewesen sei, meint er, dass es natürlich daran liegt, dass es den Geflüchteten hier besser ginge als z.B. in Kroatien. Man suche sich das Land aus, wo man die beste Perspektive sieht.

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In nem anderen Thread hab ich relativ viel Links zu Studien gesammelt. Wichtig ist zu betonen: Auswanderung besteht aus (sehr grob gesagt) zwei Entscheidungen: erstens, dass man überhaupt wegziehen will, und zweitens, wohin. So wie ich die aktuelle Lage verstehe geht die Zusammenfassung so:

  1. Pushfaktoren entscheiden ob jemand auswandern will. Pullfaktoren sind bei diesem Schritt ziemlich egal.
  2. Pullfaktoren können einen Einfluss darauf haben, wohin man letztendlich geht

Man kann also ziemlich sicher davon ausgehen, dass Pullfaktoren bei der Frage „wie viele Menschen vom Herkunftsland wandern aus“ – und von daher, „wie viele Menschen könnten ins Zielland einwandern“ – in der Regel extrem unwichtig sind.

Die ganz persönlichen Entscheidungen die zu Immigration oder Flucht führen sind enorm komplex. Ich persönlich finde es ziemlich unmenschlich, diese Menschen, denen es so dermaßen schlecht geht, dass sie auswandern oder sogar flüchten wollen, so zu behandeln als wären sie Menschen zweiter Klasse. Aber das weicht etwas vom aktuellen Thema aus, also: grob gesagt und ganz vereinfacht würde ich der These zustimmen, dass, selbst wenn man das Ziel hätte, Migration zu verhindern, das Mittel „Pullfaktoren minimieren“ nicht wirklich was dazu beitragen würde.

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Aus meiner Sicht ist es eine Binse, dass Menschen nach Möglichkeit in ein Land gehen, von dem sie erwarten, dass es ihnen dort „besser geht“ oder in dem sie für sich „die beste Perspektive“ sehen. Das ist aber etwas anderes als zu behaupten, dass relativ geringe Unterschiede zwischen einzelnen europäischen Ländern - etwa bei Sozialleistungen oder im Aufenthaltsrecht - entscheidend dafür sind, ob Menschen sich überhaupt auf den Weg nach Europa machen. Sofern es nur um die Entscheidung zwischen verschiedenen europäischen Staaten geht, sind wir und doch wohl hoffentlich darin einig, dass hier nicht eine Konkurrenz um möglichst unmenschliche Standards zum Zwecke der Abwehr, sondern eine gemeinsame und humane europäische Migrationspolitik das Ziel sein sollte.

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Danke, der Thread kam mir auch gleich wieder in Erinnerung, hilfreicher Beitrag dort und sinnvoller Hinweis hier. Die hier angeführte Studie bestätigt das Bild weitgehend (aus der Einleitung & Zusammenfassung, Fußnoten nicht übernommen):

It is worth highlighting two points on interpretation. First, the effects should be
interpreted as capturing location decisions conditional on migration. Since Denmark
is just one small country, we would not expect the decision to emigrate from, say,
Afghanistan to be affected by the Danish welfare system. Rather, it is the decision
by an Afghan migrant to locate in Denmark instead of, say, Sweden or Germany that is affected by the Danish welfare system.

Zudem warnen die Forschenden vor einem „race to the bottom“ als Folge der Annahme, man könne Migration über Sozialleistungen steuern (etwas, das aus meiner Laiensicht in der EU schon lange zu passieren scheint):

Second, the presence of sizable welfare
magnet effects may make it tempting for governments to introduce immigrant wel-
fare schemes like the Danish one, and in fact several countries have introduced or
are discussing the introduction of related policies. 4 Specifically, to the extent that
the net fiscal impact of low-income immigration is negative, it may be individually
optimal for countries to lower immigrant welfare benefits.5 However, such poli-
cies impose negative fiscal externalities on other countries and are, in general, not
socially optimal from a global perspective. This tension between local and global
welfare when setting benefits for low-income immigrants is analogous to the tension
that arises when setting taxes for high-income immigrants (see Kleven et al. 2020).
Our findings suggest that the issues surrounding tax competition and the risk of a
“race to the bottom” may be equally relevant for welfare policy.

Wenn man Migration über Sozialleistungen steuern möchte (möchte das in der Sache in diesem Post nicht bewerten), muss man natürlich auch die Folgen für Migranten beachten und abwägen, die schon da sind oder trotz niederiger Leistungen kommen. Falls jemand tiefer graben möchte: Die Untersuchung nennt dazu zwei Studien, die das ebenfalls anhand des hier genutzten dänischen Leistungsregimes untersuchen:

  • Rosholm, Michael, and Rune Vejlin. 2010. “Reducing Income Transfers to Refugee Immigrants: Does
    Start-Help Help you Start?” Labour Economics 17 (1): 258–75
  • Andersen, Lars Højsgaard, Christian Dustmann, and Rasmus Landersø. 2019. “Lowering Welfare
    Benefits: Intended and Unintended Consequences for Migrants and Their Families.” The Rockwool
    Foundation Research Study Paper 138
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