Muss Kompromiss immer heißen, dass eine Seite die Meinung der anderen übernimmt oder sich beide Seiten auf einem Mittelweg treffen? In der Moralphilosophie ist es nicht anders als in der Politik oder der Religion: Wir müssen dahin kommen, zu sagen, dass es in bestimmten Dinge kein klares „Richtig“ und „Falsch“ gibt, dass aber alle Sichtweisen, die logisch stringent zu einem Ergebnis kommen, ihre Berechtigung haben. Die finalen Bewertungen hängen eben oft von unseren eigenen Erfahrungen ab und Lebenswirklichkeiten ab.
Im Beispiel der moralischen Denkschulen haben sowohl Utilitarismus, Tugendethik und Pflichtenethik jeweils gute Punkte. Problematisch wird es, wenn ein Anhänger einer dieser Strömungen jetzt für sich in Anspruch nimmt, dass seine Strömung die einzige ist, die zu einem „richtigen“ Ergebnis kommt und die jeweils anderen Strömungen „es einfach nicht verstanden haben“. Dann ist kein Diskurs möglich. Andernfalls können die Vertreter der verschiedenen Strömungen natürlich miteinander diskutieren, welche Schwachpunkte die eigene und die anderen Strömungen haben. Die gemeinsame Basis der Diskussion ist in diesem Fall die Logik der Argumentation. Das Ziel ist es letztlich, z.B. ein Rechtssystem zu schaffen, dem zwar weder der Utilitarist, noch der Tugendethiker oder der Pflichtenethiker zu 100% zustimmen würde, auf das sich jedoch alle Beteiligten als Kompromiss einigen können.
In ihren Extremformen (die gerne als erste gelehrt werden, weil sie eben prototypisch sind…) durchaus, aber in der Realität gibt es diese Extremtypen überraschend selten. Di wenigsten Philosophen würden sich zu 100% einer der Strömungen zuordnen und keine Kritik zulassen, vielmehr sind das Erste, was man über jede dieser Strömungen lernt, die vielen Probleme und logischen Widersprüche, die sie alle zwangsläufig haben (und wegen denen es eben kein objektives „richtig“ oder „falsch“ gibt).
Ich selbst sehe mich z.B. überwiegend im Lager der Utilitaristen (vielleicht 50%), aber auch stark im Lager der Tugendethiker (vielleicht 35%) und relativ weit entfernt von den Pflichtenethikern (vielleicht 15%). Bedeutet: Für mich ist das Ergebnis eines moralischen Abwägungsprozesses wichtig und in Konfliktfällen sollte die Entscheidung getroffen werden, die das wenigste Leid bzw. die meiste Freude hervorruft (Utilitarismus), dennoch bin ich klar dafür, auch gute Absichten anzuerkennen, auch wenn sie zu schlechten Ergebnissen geführt haben (z.B. du rettest eine dir fremde, schwer verletzte Person, die überlebt, dann aber drei andere tötet; das Retten der Person muss man dennoch loben, denn es ist gewünscht, die Folge war nicht vorhersehbar; klassische Tugendethik), während ich aus der Pflichtenethik eigentlich nur den kategorischen Imperativ sinnvoll finde, einen großen Teil der Pflichtenethik halte ich für Prinzipienreiterei, mit der auch schlimme Missetaten gerechtfertigt werden können.
Zuerst mal muss der Progressive verstehen, wie der Konservative zu seinem Urteil kommt (und umgekehrt genau so), dann muss man jeweils gegenseitig anerkennen, dass der andere „es nicht böse meint“ (falls dem so ist!) und sich überlegen, inwieweit man der jeweils anderen Seite entgegen kommen kann.
Beispiel:
Dem Konservativen ist das Thema „Sicherheit“ besonders wichtig. Ob das an hirnorganischen Veränderungen (siehe den von @Broesel verlinkten Artikel), schlimmen eigenen Erfahrungen oder schlicht Sozialisation liegt ist dabei erstmal nebensächlich. Wenn der Konservative nun rassistische Positionen aus seinem Bedürfnis nach Sicherheit heraus fordert, weil das „Fremde“ leider eben immer das Gefühl der „Unsicherheit“ erzeugt (das ist evolutionsbiologisch gut erforscht und auch logisch - je weniger man etwas kennt, desto unberechenbarer ist es…), ist es aber für den Progressiven schwer zu sagen: „Okay, dann halt Ausländer Raus!“. Er wird stattdessen versuchen, den Konservativen zu überzeugen, dass es deutlich sicherer ist, als der Konservative meint. Das gelingt aber leider nur selten. Ein Kompromiss in diesem Fall wäre, dass der Progressive andere, nicht-rassistische Wege findet, dem Konservativen ein besseres Sicherheitsgefühl zu vermitteln, z.B. mehr Polizeipräsenz, öffentliche Überwachung, stärkere Straßenbeleuchtung. Das sind auch alles Dinge, die der Progressive aus diversen Gründen ablehnt, aber eben das „geringere Übel“, um den Konflikt zu lösen.