Bin ja schon etwas verwundert, dass es noch gar keinen Thread zum Thema gibt, ist ja nicht gerade unwichtig, was da passiert ist und seit dem Wochenende wird überall wild spekuliert, was Prigoschin eigentlich wollte und wie sein Deal mit Putin aussah… Wissen wir natürlich alles nicht, und wichtiger ist für mich auch die Frage, was das für Russland und die Fortsetzung des Kriegen gegen die Ukraine heißt. In der NZZ ist ein längerer Beitrag von Timothy Snyder dazu erschienen (Historiker in Yale mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa). Prigoschins Marsch auf Moskau: 10 Lehren, die Russland und Putin ziehen müssen. Darin heißt es u. a:
Die Wagner-Revolte war ein Vorgeschmack darauf, wie der Krieg in der Ukraine enden wird. Wenn in Russland ein bedeutender innerer Konflikt ausbricht, werden die Russen die Ukraine vergessen und sich auf ihr eigenes Land konzentrieren. Das ist nicht nur einmal passiert, und es kann wieder passieren. Wenn ein solcher Konflikt sich hinzieht, werden die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen. In diesem Fall hat sich die Wagner-Gruppe selbst aus der Ukraine zurückgezogen, und dann haben die Truppen von Ramsan Kadyrow (Achmat) die Ukraine verlassen, um die Wagner-Truppen zu bekämpfen (was ihnen nicht gelang).
In einem tiefgreifenden inneren Konflikt würden auch die regulären russischen Soldaten aus der Ukraine abziehen. Anders wird es unmöglich sein, Moskau zu verteidigen. Vorausschauende Moskauer Eliten sollten den Abzug dieser Truppen schon jetzt fordern, denn Russland wird wahrscheinlich eher früher als später einen schweren internen Machtkampf erleben. So enden Kriege: wenn der Druck innerhalb des politischen Systems übergross wird. Alle, die ein Ende dieses Krieges wollen, sollten den Ukrainern helfen, diesen Druck aufrechtzuerhalten oder noch zu erhöhen.
Das Wall Street Journal meint Hinweise dafür zu haben, dass Prigoschin ursprünglich Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow bei deren geplanten Besuch in Rostow am Don in seine Gewalt bringen wollte - doch der Geheimdienst FSB habe im Voraus Wind von dem Plan bekommen und so habe Prigoschin improvisieren müssen. Dabei kam dann das heraus, was wir beobachten konnten. Vermutlich hatten sich einige, aber nicht genügend höhere Militärs auf seine Seite geschlagen. https://wsj-article-webview-generator-prod.sc.onservo.com/webview/WP-WSJ-0001015444
Wahrscheinlich können die meisten Menschen sich inzwischen bei Russland einfach alles vorstellen von „Wir sind um Haaresbreite an einem russischen Bürgerkrieg und einer destabilisierten Atommacht vorbeigeschlittert“ bis zu „Es war alles nur ein Ablenkungsmanöver um die Ukraine irgendwie zu täuschen oder aus der Deckung zu locken“.
Genau deshalb finde ich es ja wichtig, zwischen zumindest halbwegs fundierten Einschätzungen und aus der Hüfte geschossenen Spekulationen zu unterscheiden.
Das Thema wurde kurz hier andiskutiert, aber ist dann wohl untergegangen:
Meine Einschätzung war wohl richtig - Prigoschin hat zu hoch gepokert und verloren. Er konnte zwar dem Arbeitslager bzw. seiner Liquidierung entgehen, aber seine politische Bedeutung dürfte jetzt minimal sein. Die Wagner-Truppen werden vor die Wahl gestellt, ob sie eine Amnestie annehmen und sich in das russische Militär eingliedern wollen oder mit Prigoschin nach Belarus gehen, damit hat Putin sein Ziel, Wagner der Militärführung zu unterstellen, vermutlich zumindest teilweise erreicht.
Die Frage ist, wie es mit Prigoschin weiter geht - für Russland ist er jetzt offiziell im Exil, also zurück nach Russland dürfte er - selbst wenn es einen Machtwechsel gäbe - nicht kommen. Es bleiben nur die Möglichkeiten, in Belarus zu bleiben (und damit dem vollen Zugriff Putins ausgesetzt zu sein, wenn er es sich doch noch anders überlegt…) oder mit seinen Truppen nach Afrika zu gehen und sich auf das Afrika-Geschäft zu fokussieren. Aber darauf haben vermutlich viele seiner bisher in Russland und der Ukraine eingesetzten Söldner eher keine Lust…
Ich finde es nach wie vor sehr schwierig überhaupt einzuschätzen was da genau passiert ist. Hätte es denn tatsächlich einen Putsch geben können? Ich finde es schwierig mir vorzustellen dass das gelingen könnte und Prigoschin so eine Macht hat. Wie schwach oder stark ist denn das russsische Militär noch?
Danke an die, die oben Artikel gepostet haben. Ich werde dir mir nachher mal zu Gemüte führen
Das kann ich nachvollziehen. Meine Deutung: Prigoschin hat lange Zeit noch nicht mal zugegeben, dass er der Mann hinter der „Wagnergruppe“ ist, und hat diese vor allem betrieben, um Geld zu verdienen, sehr viel Geld (etwa beim Schutz von Rohstoffvorkommen in Afrika). Mit Beginn der „Militärischen Spezialoperation“ hat er seine Chance gewittert: Putin brauchte ihn mehr denn je. Seit Sommer/Herbst 2022 war die Wagner-Gruppe die einzige Armee auf russischer Seite, die zumindest noch irgendwie zu einer Offensivaktion in der Lage war - allerdings nur, weil Zigtausende Ex-Häftlinge und andere Mobilisierte buchstäblich verheizt wurden. Unter russischen Soldaten ist Bachmut inzwischen als „Fleischwolf“ bekannt. Die Einnahme Bachmuts - so mickrig sie erscheinen mag und so mühsam sie gewesen ist - war für Putin ein wichtiger Propagandaerfolg. Und der russischen Armee haben die Abnutzungskämpfe wertvolle Zeit verschafft, um ihre Verteidigungsanlagen gegen die zu erwartende ukrainische Offensive auszubauen - mit den Folgen, die wir jetzt sehen.
Sprich: Putin war auf Prigoschin angewiesen. Und der hat es verstanden, das für sich auszunutzen. Zugleich hat er sich als Sprachrohr der einfachen Soldaten inszeniert. Ob er nun wirklich ein Problem mit den absolut korrupten und unfähigen Militärführern Schoigu und Gerassimow hatte - oder ob er einfach nur deren Posten haben wollte, ist eigentlich egal. Fakt ist, dass Prigoschin es auf einen Machtkampf angelegt hat und zu Putin gesagt hat: „die beiden oder ich“. Und damit hat er sich wohl verzockt, denn mit der Aufforderung, sie Wagner-Truppe Schoigus Ministerium zu unterstellen, hat er sich wohl verzockt. Da erschien ihm der Versuch, das ganze auf eine etwas brachialere Art zu lösen, wohl als die angebrachte Flucht nach vorn.
Letztlich ist es aber m. E. auch gar nicht so interessant, wie es nun mit Prigoschin weitergeht. Viel interessanter ist, was mit Putin passiert und welche Auswirkungen diese innerrussischen Machtkämpfe - die nach Einschätzung fast aller Expert:innen, die ich gehört habe, weitergehen werden - sich auf den Kriegsverlauf auswirken werden. Es bleibt zu hoffen, dass die militärische Besatzung der Ukraine bald zusammenbricht.
Als Hintergrund zum Machtgefüge und zur Funktionsweise der verschiedenen Machtgruppen in Russland hier ein spannender Podcast - aber Vorsicht, das sind fast 60 Minuten mit ziemlich hoher Theoriedichte. https://www.freie-radios.net/122805
Scheinbar wusste Sergei Surowikin, der General, der schon in Syrien massive Kriegsverbrechen begangen hat und wohl auch die Strategie der massiven Angriffe auf die zivilen Strukturen der Ukraine mit zu verantworten hat, von dem Wagner-Putsch und hat ihn auch unterstützt. Surowikin wurde vorher in der Ukraine ja von Putin quasi „degradiert“, indem ihm Gerassimov vor die Nase gesetzt wurde.
Die Tagesschau berichtet, dass Surowikin mittlerweile festgenommen wurde, das ZDF berichtet auch von „Säuberungen“.
Also ja, da ist noch einiges an Machtkämpfen im Gange. Die Hoffnung ist, dass das Russland destabilisiert, die Befürchtung ist, dass Putin wie Erdogan nach dem missglückten Putsch eher gestärkt aus der Sache herausgehen könnte. So könnte Putin ausbleibenden Erfolg in der Ukraine nun mit diesen Verrätern begründen und etwaige Mitstreiter, ähnlich wie Erdogan, mit Putschbeteiligungsvorwürfen aus dem Weg räumen.
Naja, nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich. Die Machtverhältnisse in Russland 2023 sind ganz andere als in der Türkei 2016, die Situation war ziemlich unterschiedlich und auch die erwartbaren Folgen unterscheiden sich. Erdogan wusste vorher von einem Putschversuch und hat diesen sozusagen kontrolliert laufen lassen um das auf verschiedenen Ebenen auszunutzen. Putin ist einen halben Tag lang abgetaucht, weil er selber nicht wusste, wie es ausgeht. Bei allen Behauptungen, dass die Ereignisse Putin gestärkt haben könnte, habe ich noch nicht verstanden, worin genau diese Stärkung bestehen soll. Wenn Putin Prigoschin, Surowikin und andere loswerden wollte, hätte er dazu auch vorher jede Gelegenheit gehabt (und bei Bedarf auch einen Grund gefunden). Stattdessen hat er mit Prigoschin, den er kurz zuvor noch einen Verräter nannte, einen Deal geschlossen. Dass die „militärische Spezialoperation“ ein komplettes Desaster ist, pfeifen dank der öffentlichen Äußerungen Prigoschins inzwischen auch in Russland die letzten Spatzen von den Dächern. Zudem gab es keinerlei offensichtliche Unterstützung für Putin - weder aus der Bevölkerung, noch von wichtigen Oligarchen oder Silowniki. Auch das Militär hat den Ball mehr oder weniger flach gehalten, abgesehen von einigen Einheiten der Luftwaffe und den Kadyrow-Einheiten, die aber militärisch Wagner nicht viel entgegenzusetzen hatten. Natürlich wird Putin jetzt im Rahmen den er sich leisten kann, Säuberungen versuchen. Aber die Frage ist, was ihm das noch helfen wird.
Ich glaube es war die südafrikanische Aussenministerin, die alles eher für russische Maskirowka, also Täuschung hielt.
Wofür? Um geschickt Truppen in Belarus stationieren zu können in Form von Wagner Söldnern? Um Belarus zu beeinflussen oder von dort aus in die Ukraine zu gehen als weitere Front? Oder um Putin innenpolitisch die Begründung für Säuberungen zu geben?
Verschwörungstheorien oder ein Fünkchen Wahrheit?
Zur Klarstellung:
Ich denke auch, dass der Wagner-Aufstand ein Desaster für Putin ist und seine Position erheblich schwächt, auch sein Ansehen bei seinen Verbündeten (z.B. China) leidet stark darunter. Ich wollte lediglich darstellen, dass es natürlich auch Raum für Befürchtungen einer Stärkung Putins gibt. Ich halte diese Theorie aus den von dir genannten Gründen auch für unwahrscheinlich, allerdings wissen wir alle nicht, wie die Lage im russischen Machtapparat, vor allem in den Eliten von Militär und Oligarchen, wirklich aussieht.
Prigoschin hat den Fehler gemacht, den Rückhalt für Putin zu unterschätzen (bzw. die öffentliche Unterstützung für ihn zu überschätzen), den Fehler sollten wir nicht tun.
Warum sollte Putin für irgendwas davon eine Meuterei durch Progoschin inszenieren?
die Russländischen Streitkräfte operiert seit Februar 2022 in Belarus wie in Russland. Es gibt nichts, was sie dort nicht tun könnten. aktuell werden dort sogar offiziell Atomwaffen stationiert.
Lukaschenka ist de facto von Putin abhängig, seit dem dieser ihm geholfen hat, die massiven Proteste gegen seine Wahlfälschung niederzuschlagen
um Säuberungen zu begründen, braucht es in Russland keinen besonderen Grund - der findet sich.
Die Inszenierungs-Theorie hat keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt, unterstellt aber, dass Putin zu so etwas überhaupt in der Lage wäre und schreibt ihm damit eine Macht zu, die er nach Einschätzung vieler Fachkundinger in den letzten 16 Monaten eingebüßt hat. Da muss aus meiner Sicht schon etwas Stichhaltigeres her.
Wir beide wissen es natürlich nichts, deshalb habe ich ja einige ausführliche Aussagen von Menschen gepostet, die sich da weitaus besser auskennen und sehr viel fundiertere Einschätzungen abgeben. Angesichts dessen die theoretische Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte, als gleichwertig mit sehr viel wahrscheinlicheren Szenarien zu behandeln ist das Gegenteil von dem, um was ich mich in diesem Thread bemühe.
Es ist ja gerade die Frage, ob es wirklich solchen „Rückhalt“ für Putin gab, oder ob diverse Kräfte nicht eher meinen „Prigoschin ist es (noch) nicht, aber Putin auch nicht mehr“ - Das Vertrauen in Putin und seine Rolle als Manager der verschiedenen Partikularinteressen hat jedenfalls seit Samstag enorm gelitten - siehe die von mir verlinkten Quellen.
Da liest du wieder zu viel in die Beiträge rein. Ich habe keine Wertung vorgenommen, insbesondere die Möglichkeiten nicht als gleichwertig bezeichnet. Das Auslassen einer Wertung solltest du nicht als Wertung der Gleichwertigkeit deuten.
Nein, wenn ich schreibe „Ich könnte 80 Jahre alt werden, aber auch morgen tot umfallen“ heißt das keinesfalls, dass die Wahrscheinlichkeit beider Dinge für gleichwertig halte. Sorry, aber keine Gewichtung heißt „keine Gewichtung“, es heißt nicht „Gleichwertigkeit“. Gerade in der Internetkommunikation sollte man nur das als gegeben annehmen, was unmissverständlich ist. Sobald ein Interpretationsspielraum bleibt sollte man dem Gesprächspartner nicht die denkbar ungünstigste Position unterstellen.
Eher unwahrscheinlich. Wagner hat geschätzt 25.000 Leute, und kaum schweres Gerät. Und die sollen dann schaffen, was letztes Jahr 150.000 nicht geschafft haben? Zuletzt haben sie jedenfalls 3 Monate gebraucht um eine einzige Kleinstadt einzunehmen.
Auch ist Lukaschenko sehr vorsichtig. Seine Machtbasis im eigenen Land ist nicht die stärkste. Nach den Massenprotesten im Anschluss an seine letzte „Wahl“ hat er zwar erstmal wieder mit Gewalt für Ruhe gesorgt, aber was passiert, wenn sein Land jetzt noch in einen Krieg hineingezogen wird? Die Ukraine musste den westlichen Regierungen versprechen, ihr Material nicht zum Angriff auf russisches Gebiet zu nutzen. Aber gilt das auch für Belarus?
Es gibt aktuell mehrere Expertenerklärungsversuche, die meistens logisch und möglich klingen.
Die Diskussion, welche die richtige Erklärung sein könnte, scheint mir zwar interessant, aber gleichzeitig wenig zielführend.
Andererseits müssen sich Staaten/Politiker:innen auf mögliche Entwicklungen vorbereiten, was eine Einschätzung der Lage wiederum notwendig macht.
Vor 13 Stunden ist zwischen Moskau und St. Petersburg - ziemlich genau auf halber Strecke - ein Privatflugzeug der Wagner-Gruppe „abgestürzt“, auf dessen Passagierliste sowohl Prigoschin als auch Dmitrij Utkin, der Gründer der Wagner-Gruppe, standen - es gab keine Überlebenden. Aktuell wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass Prigoschin tatsächlich tot ist, aber da es noch ein zweites Wagner-Flugzeug auf der gleichen Route gab, welches nach dem „Absturz“ umgekehrt ist, ist nicht ganz auszuschließen, dass Prigoschin vielleicht doch an Bord des zweiten Flugzeugs war (das wäre clever, wenn er einen derartigen Anschlag erwartet hat…).
Der Wagner-Gruppe nahestehende Telegram-Kanäle werfen Putin vor, dass Prigoschin hier öffentlich exekutiert wurde - dieser Verdacht wird auch von vielen westlichen Medien aufgenommen und ist wohl nicht ganz unbegründet. Also an einen Unfall zu glauben wäre bei diesen Hintergründen wohl sehr naiv.
Inwiefern sich die „Enthauptung“ der Wagner-Gruppe auswirkt, bleibt abzuwarten, insbesondere die Frage, ob es eine zweite Führungsriege bei Wagner gibt, die den Tod ihres Chefs rächen will - oder ob es Putin nun gelingt, die Wagner-Gruppe komplett in’s russische Militär zu übernehmen.