Prekäre Lage des Nachwuchses im Wissenschaftsstandort Deutschland (#ichbinhanna / WissZeitVG)

Für junge Wissenschaftlerinnen wird Deutschland leider nicht wie oft vermutet immer attraktiver. Ein großes Problem sind die oft prekären Verhältnisse in denen Nachwuchswissenschaftlerinnen hier immer wieder befristet angestellt werden, dadurch keine Planungssicherheit haben und oftmals den Weg aus „academia“ heraus in die gut zahlende Industrie wählen. Ein Problem dabei ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Vor zwei Jahren bekam das Thema durch den Hashtag #ichbinhanna viel Aufmerksamkeit, aber was passiert heute? Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat mit Ihren Forderungen zu „Dauerstellen für Daueraufgaben“ seit langem für bessere Arbeitsbedingungen stark. Sie veranstaltet kommende Woche (15.03.2023) eine Konferenz mit hochrangigen Politker*innen und Vertretern aus dem Ministerium. Als junger Nachwuchswissenschaftler bin ich sehr interessiert, würde mich über eine Aufarbeitung eurerseits sehr freuen! Hier der Link zur GEW: gew.de/veranstaltungen/detailseite/gew-aktionskonferenz-her-mit-den-dauerstellen

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Ich schließe mich an, dass das ein gutes Thema für die Lage wäre. Das Thema wurde diese Woche neu entfacht durch eine Veröffentlichung eines (lange überfälligen) Reformvorschlags des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, der aber laut ersten Stellungnahmen von Betroffenen auf Twitter das Ziel, die wissenschaftliche Karriereplanung zu verbessern, komplett verfehlt.

Das Problem der prekären Lage des Nachwuchses und der Dauerbefristungen sollte das Wissenschaftszeitvertragsgesetz von 2007 lösen, das, sehr, sehr grob und kurz zusammengefasst, den Universitäten auftrug, wenn ein/e KandidatIn für 12 Jahre auf befristeten Verträgen an deutschen Forschungseinrichtungen (inkl. auch Max-Planck-Instituten, Leibniz-Instituten etc.) gearbeitet hat, muss der Vertrag danach verstetigt werden. Das ist bis heute im Prinzip der Status Quo. Die sozialdemokratische Verteidigung dieser Praxis ist, man darf Menschen nicht ewig befristen, so wie es ja auch auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft ist, wo Menschen nicht mehr als 15 Mal oder länger als 10 Jahre „ketten-befristet“ werden dürfen. Das ändert allerdings nichts daran, dass es nicht ausreichend feste Stellen für all das qualifizierte Personal gibt, selbst wenn die bereit wären, alle für Ihre berufliche Leidenschaft 12 Jahre auf befristeten Verträgen zu warten, mehrere Male umzuziehen, auf Kinder zu verzichten etc. Die christdemokratische Position begrüßt hingegen das 12-jährige prekäre Personalkarussel als Ziel an sich. Diese Sichtweise wurde in dem umstrittenen und mittlerweile gelöschten Erklärvideo des BMBF unter Anja Karliczek, das 2021 die #ichbinhanna Kampagne auslöste, mit den Worten zusammengefasst: „Fluktuation fördert Innovationskraft“.

Ein Kern des Problems in Deutschland ist das Lehrstuhlprinzip an Universitäten: viel Macht und Geld ist auf sehr wenige ProfessorInnenstellen konzentriert. Eine Professur ist mit wenigen Ausnahmen der einzige Weg, eine feste Stelle im deutschen Wissenschaftssystem zu bekommen. Auf die sehr kleine Zahl von Professuren bewirbt sich eine viel zu große Anzahl von Postdocs. Ein klassisches Bottleneck-Problem also, das man von zwei Seiten her lösen könnte. Die vom akademischen Mittelbau nach meiner Wahrnehmung bevorzugte Lösung ist die Schaffung, mit öffentlichen Geldern, von neuen Stellen und frühzeitigen Garantien (wenn eine qualifizierte Kandidatin von der Uni angestellt wird, sollte es eine Garantie geben, dass, sofern die Person weiter publiziert und gute Lehre macht, die Stelle nach ein paar Jahren verstetigt wird). Die Stichworte sind tenure-track und Departmentsystem, wie es z.B. in Großbritannien der Fall ist, wo es an den Unis viel mehr feste Stellen gibt, die niedriger angesiedelt sind (und auch weniger kosten) als eine volle Professur und von denen aus man sich durch kontinuierliche exzellente Arbeit noch weiter nach oben arbeiten kann.

Das Eckpunktepapier zur Reform des WissZeitVG, das jetzt aus dem BMBF kommt, schlägt die andere Richtung ein und will die Dauerbefristungsgrenze von 12 auf 9 Jahre heruntersetzen (von vormals je 6 Jahren pre-doc und post-doc auf nun 3 Jahre pre-doc und post-doc). Wie man unter solch einem Extremdruck, z.B. Care-Arbeit leisten, Kinder betreuen, zur Familie pendeln soll etc., ist mir absolut schleierhaft. Entsprechend hat dies eine Welle von Kritik ausgelöst, die ich in einem Meme auf Twitter ganz gut zusammengefasst sah als „aus unmöglicher Planbarkeit wird nun planbare Unmöglichkeit“. Ich könnte noch viel mehr dazu sagen, z.B., dass genau aufgrund dieser Un-Planbarkeit Wissenschaftler praktisch nicht organisationsfähig sind (so wie andere prekäre Bereiche auch), wie unattraktiv diese Regelung den deutschen Wissenschaftsbetrieb für internationale WissenschaftlerInnen macht etc… Wie gesagt, es ist kompliziert, aber ich wollte das hier mal als Anstoß zur Diskussion da lassen.

Vielen Dank für Eure Arbeit!

Links:

https://twitter.com/hashtag/WissZeitVG

https://www.zeit.de/arbeit/2018-07/arbeitsbedingungen-universitaeten-lehrstuhl-befristungen-wissenschaftler-jobs?page=8

PS: eine gute AnsprechpartnerInnen zum Thema wäre Jule Specht, Professorin an der HU Berlin

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Dieser Twitter-Thread fast die meiner Meinung nach katastrophalen Folgen des Gesetzentwurfs ganz gut zusammen: https://twitter.com/squirrelista/status/1637416938388193281?s=20

Inzwischen gibt es einen Protestbrief von Profs mit einer enormen Zahl an Unterzeichnenden: Nivellierung statt Novellierung: Kritik an der geplanten Reform des WissZeitVG aus Sicht der Profs_19_3_23 - Google Docs

Und der Gesetzentwurf soll jetzt wohl nochmal grundlegend überarbeitet werden: Bitte freimachen - Wiarda-Blog

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Sicherlich trägt das WissZeitVG nicht dazu bei, die Lage zu verbessern. Ich bezweifle aber, dass das in anderen Ländern viel besser ist.
Beispielsweise ist die Gesellschaft für nukleare Physik in Italien (INFN) sehr renommiert und in Italien ausgebildete Physiker aus dem Bereich auf der ganzen Welt anzutreffen und in hohen Positionen. Trotzdem wird der Mittelbau, der von der INFN in Italien finanziert wird, dermaßen schlecht bezahlt, dass man fast darüber lachen kann.

Die Abwanderung des Nachwuchses in die Industrie ist aber kein Einzelfall in Deutschland. Das liegt mMn zu ähnlichen Teilen an der Organisation des Wissenschaftsbetriebs weltweit, der vollkommen falsche Anreizstrukturen schafft:

  • Die Bewertung der Leistung von Wissenschaftler*innen aufgrund der Anzahl der publizierten Papers in hochklassigen Journalen (Stichwort: Impact factor) und wie oft man zitiert wurde, sorgt dafür, dass alle am Gleichen forschen, da man sonst nicht zitiert wird. Ich finde, dass das zu einem Herdentrieb führt, der diametral zur wissenschaftlichen Idee steht. (Das ist historisch einer der Gründe für die Unabhängigkeit der Lehrstühle: Man sollte ohne Angst um die Stelle auch an unbeliebten/kontroversen Dingen forschen können. Leider reicht die Finanzierung der Lehrstühle hinten und vorne nicht mehr aus, sodass man sich verstärkt um Drittmittel bemühen muss, die an der Bewertung durch Dritte hängen.)
  • Die Jagd nach mehr Papers führt dann zu so witzigen Auswüchsen wie den LPUs, oder least publishable units, wo genau überlegt wird, wie man das neueste Forschungsergebnis in möglichst viele Papers aufspalten kann, weil “mehr Papers ist besser”. Kann man sich ausmalen, dass das erstens eine riesige Zeitverschwendung für die Publizierenden ist, weil die viel doppelt schreiben. Und zweitens für den Rest genauso, weil man mit Papers überschwemmt wird und es schwierig ist, sich einen vernünftigen Überblick zu verschaffen.
  • In Bewerbungen für Forschungsgelder wird versprochen (und im Endeffekt gelogen), dass sich die Balken biegen. Ich hatte erst kürzlich ein Gespräch mit einem Gewinner eines ERC grants (finanziert von der EU, im Normalfall mind. 1 Mio. € und somit extrem begehrt). Der hat mir mit steinernem Gesicht gesagt, dass es natürlich so sei, dass jede*r in den Anträgen viel zu viel verspricht und das schön formuliertes Lügen sei. Das sei ganz normal…
  • Ich habe bisher noch nicht gehört, dass es so viele Stellen mehr in anderen Ländern gäbe oder dass die Bezahlung viel besser sei. Und über die Arbeitsbedingungen habe ich bisher auch nichts anderes gehört, als dass man sich Work-Life-Balance im Endeffekt abschminken kann von der Promotion bis 2-5 Jahre in den PostDoc hinein, wenn man in der Wissenschaft bleiben will. Und wenn man dann keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann, kann man die Karriere vergessen.
  • Und wer eine Professur bekommt, was hoffentlich zeigt, dass die Person eine herausragender Wissenschaftler*in ist, ist von da an nur noch damit beschäftigt, Anträge zu schreiben, Vorlesungen zu halten und Teams zu managen, also alles Fähigkeiten, die wenig bis gar nichts mit dem zu tun haben, warum man in die Position gekommen ist.

Ich will damit diesen schlechten Gesetzesentwurf überhaupt nicht verteidigen. Mein Punkt ist, dass der wissenschaftliche Betrieb weltweit auf der Ausbeutung des Nachwuchses fußt, da ist Deutschland kein Einzelfall. Ich glaube, dass die Wissenschaft einen ähnlichen Anteil an der Situation hat wie die Politik.
Viele Leute, die ich am Anfang ihrer Doktorarbeit getroffen habe, hatten ein Ideal der Wissenschaft vor Augen, das sie so motiviert hat, dass sie wahrscheinlich auch mit den schlechten ökonomischen Bedingungen versucht hätten, Karriere zu machen. Am Ende kommen aber oft vollkommen desillusionierte Leute raus, die auf Dinge wie die Liste oben überhaupt keine Lust mehr hatten, zusätzlich zu den absurden Arbeitsbedingungen.
Das sind Probleme der Wissenschaft, die nur dort gelöst werden können. Nur sind natürlich die Leute, die in den hohen Positionen sitzen, genau die, die das System am besten spielen und die haben wenig Interesse daran, das zu ändern.

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Der Blogbeitrag bringt es auf den Punkt:

„Am Beispiel der von Brandenburg angesprochenen Höchstdauer der Postdoc-Qualifizierungsbefristung lässt sich das gut nachvollziehen. Bislang sind es sechs Jahre. „#IchbinHanna“, andere Initiativen und die GEW forderten dagegen, den Postdoc ganz aus dem Geltungsbereich des WissZeitVG herauszunehmen – also gar keine Befristung mehr nach der Promotion. Als Mitte zwischen beiden Positionen die drei Jahre zu nehmen, ist dann aber absurd. Weil dieses vermeintlich halbe Entgegenkommen in einer ganzen lebensplanerischen Katastrophe resultieren würde für die betroffenen Postdocs, die nun nur noch drei statt sechs Jahre hätten im Rennen um den Dauerverbleib in einem ansonsten unveränderten Wissenschaftssystem.“

Insofern wäre das auch unter dem Blickwinkel des demokratisch-gesetzgeberischen Prozesses an sich doch ein spannendes Lage-Thema :wink:

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Ich bin vielleicht nicht mehr ganz auf dem aktuellen Stand, aber als ich noch als Post-Doc im Wissenschaftsbereich tätig war (bis 2015), sah es in etwa so aus:

  • in keinem anderen Land gab einen auch nur annähernd so hohen Anteil befristeter Stellen, erst recht nicht für Daueraufgaben wie Lehre, Studiengangsorganisation etc.
  • (als Folge davon) gab es in vielen anderen Ländern deutlich bessere Chancen, eine unbefristete Stelle auch „unterhalb“ einer vollen Professur zu bekommen (z. B. assistance professor).
  • gab es in anderen Ländern sehr viel mehr Tenure-Track-Stellen (mit dem Ziel einer Professur) und allgemein mehr Möglichkeiten, sich bei entsprechender Leistung eine Karriere strategisch aufzubauen
  • in anderen Ländern sehr viel bessere Möglichkeiten, eigene Forschungsanträge zu stellen und eigene Forschungsprojekte durchzuführen ohne de facto von einer/m „ordentlichen“ Professor/in abhängig zu sein, der/die alles zumindest abzeichnen muss und daher gerne auch mal reinredet. Formal dürfen etwa bei der DFG zwar Anträge ab der Promotion gestellt werden, aber in der Praxis geht ohne Prof. meist nicht viel.
  • in kaum einem anderen Land spielte die Höhe der eingeworbenen Drittmittel eine so große Rolle als vermeintliches Output-Kriterium, was m. E. etwas unsinnig ist, da zur Verfügung stehendes Geld ja noch nichts über die Quantität und erst recht nicht über die Qualität dessen aussagt, was mit dem Geld angestellt wird.

So schnell kann es gehen! Vielen, vielen Dank für den Beitrag im neusten Podcast #327. Genau so habe ich mir das erhofft: von euch gewohnt intensiv aufgearbeitet. Für mich bedeutet dieser Reformvorschlag persönlich weiteres Engagement innerhalb der GEW, was parallel zu einer Doktorarbeit nicht ideal ist. Hoffen wir, dass wir da noch was rum reißen können.

Was leider in all den Kommentaren und leider auch bei der GEW selten diskutiert wird ist das Problem der Stellen für Lehre innerhalb der Uni, aber außerhalb einer Professur. So gibt es in den USA beispielsweise an vielen Unis Stellen die von Forschung befreit und auf Lehre konzentriert sind. In Deutschland wird das Humboldtsche Ideal von Professorinnen nach wie vor als Gold Standard angesehen: sei grandios in Forschung UND Lehre. Meiner Meinung nach häufig ein realitätsferner Standard. Selbstverständlich können wir moderne Hochschullehre nicht von der aktuellen Forschung entkoppeln. Aber man muss nur mal an einer deutschen Hochschule studiert haben um zu merken das Professorinnen entweder die Arbeitsgruppe (Forschung) oder den Hörsaal (Lehre) bevorzugen und sehr oft das jeweils andere leidet. Mir fehlt da die Kreativität.

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Vielleicht noch eine Anmerkung, wie es in vielen Bereichen der Forschung im Ingenieurswesen läuft:
Hier werden Professoren häufig auch aus der Industrie berufen. Sprich - wenn man eine herausragende Diss geschrieben hat, danach in der Entwicklungsabteilung eines Unternehmens arbeitet und dort ab und zu (aber nicht übermäßig) etwas publiziert, dann kann man durchaus auch noch Prof werden. Kenne einige Beispiele bei denen das so lief. Man könnte sogar sagen, dass Industrieerfahrung ein Vorteil ist. Die so entstehende stärkere Nähe zwischen Industrie und Forschung bringt zwar auch Probleme mit sich, aber natürlich ist so ein Karriereweg für den Forscher schon vorteilhafter und vor allem risikoärmer. Und anders hätten Unis wohl auch kaum noch eine Chance gute Wissenschaftler an die Unis zu holen.

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Kenne diese Erzählung vor allem von angewandten Hochschulen und Fachhochschulen. Berichtest du jetzt von Universitäten?

Ja genau - ist z…B. sehr üblich an der RWTH Aachen.

Wie waere es mit einer neuen Folge in einem Podcast? Eine neuer Versionsvorschlag ist draussen, aber unhaltbar. Die FDP, die von sich selbst behauptet, Bildung sei eine Aufstiegschance, hat das Gesetzt mit Hilfe der Allianz der Wissenschaften verschlimbessert. Deutschland, als Land, welches nur F&E (F&E , Forschung & Entwicklung; R&D, Research & Development) hat, steigt weiter ab. Bafög wird gekürzt, bei der Bildung wird gekuezt.
https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2023/2023-06-wisszeitvg-referentenentwurf.pdf?__blob=publicationFile&v=1

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