Pandemie, Klimakrise: Wohl des Einzelnen vs. der Gemeinschaft

Auch vor allem dank dieses Forums setze ich mich sehr intensiv mit der Frage auseinander, was die Ursache dafür ist, dass gefühlt 10-20% der erwachsenen Bevölkerung sich in eine Welt der „alternativen Fakten“ verabschiedet hat und Regierung, Medien und Wissenschaft massiv misstrauen.

Dabei bin bin ich hier im Forum dann über folgende Sätze gestolpert:

Ich kenne die Argumentation der Personen, die @Martin_Seyfarth hier beschreibt, sehr gut aus meinem eigenen familiären und beruflichen Umfeld. Dabei geht oft gar nicht um die Impfung, sondern um „Corona-Maßnahmen“ generell. Das sind Leute, die Steuern ablehnen (obwohl ihre Kinder in staatliche Schulen und Universitäten gehen), ebenso wie Geschwindkeitbeschränkung (weil sie es als nicht hinnehmbaren, persönliche Einschränkung empfinden, nicht mehr mit 260 km/h über die Autobahn kacheln zu dürfen) ebenso wie deren Kontrolle (Abzocke), die haben sich über das Rauchverbot in Restaurants ebenso aufgeregt wie über die Einschränkungen, die in Sachen Klimakrise noch so auf uns zukommen. …

Da fiel mit noch der Satz aus einem anderen Post auf:

Ich möchte mal folgende Hypothese aufstellen: Es gibt einen Bodensatz von gefühlt 20% der Bevölkerung, die genau diese Einstellung haben, die ihr eigenes Wohl ganz klar über das der Gemeinschaft stellen und die nicht bereit sind, für das Wohl der Gemeinschaft auf irgendetwas zu verzichten, deren Freiheit eben nicht an der Freiheit des nächsten enden, sondern grenzenlos sein soll.

Wer eine solche Einstellung hat und dann im Zusammenhang mit der Pandemie oder der Klimakrise mit Fakten konfrontiert wird, die es als unausweichlich erscheinen lassen, dass jeder Einzelne seine Interesse zum Wohl des Kollektivs zurücknehmen muss … na, der muss sich eine Welt der alternativen Fakten schaffen, in der das einfach nicht stimmt.

Ein Beispiel, dass sich im im Forum wie ein roter Faden durch viele Posts zieht: Viele „Impfskeptiker“ argumentieren, dass das Impfen ja nur dem eigenen Schutz diene (und das können ja wohl jeder selbst entscheiden) und eben kein „Akt der Solidarität“ sei. Aus Sorge vor (auf der Faktenebene völlig absurden „bislang unbekannten“) Nebenwirkungen habe man „für sich“ entscheiden, sich nicht impfen zu wollen. Und da Geimpfte ja ebenfalls ansteckend sein könnten, wäre das ja auch kein Schaden an der Gesellschaft. Sehr schön zusehen z.B. hier. Dabei wird einfach ignoriert, dass die Wahrscheinlichkeit, andere anzustecken, bei einem Geimpften deutlich geringer ist als bei Ungeimpften.

Dieses Narrativ des Nanny-Staates, der die individuellen Freiheiten seiner Bürger weit über Gebühr einschränkt, wird genährt vom Framing der Liberalen und Konservativen von „Verbotspartei“, „rote Socken“ etc., die immer mehr dem Ausmaß des Framings der Republikaner in den USA geht, die ja vor gar nichts mehr zurückschrecken.

Ich bin überzeugt: Wir als Gesellschaft sollten uns mal wieder vor allem über die wünschenswerte Rolle des Staates unterhalten in einer Zeit, in der das Verlassen auf das kollektive Individualverhalten uns in allen möglichen Bereichen in eine Sackgasse geführt hat.

Z.B. müssen wir die Konservativen und Liberalen einmal zwingen, ihre Argumente bis zum konkreten Ende zu führen: Wie genau soll denn die unternehmerische Freiheit, die Technologieoffenheit die Klimakrise und der Freedom Day die Pandemie einhegen?

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Ich kann mich deinen Gedankengängen voll umfänglich anschließen. Was ich wahrnehmen ist, dass es bei Gemeinschaften oftmals nicht um Solidarität geht, sondern um den eigenen Vorteil den man daraus ziehen kann.
Werden die Schwächeren in einer Gemeinschaft zur Last bzw. schmälern den eigene Nutzen, ist es schnell vorbei mit dem Gemeinschaftssinn.
Das vorrangig Menschen mit hohem Einkommen/Vermögen sich aus dieser Rolle zurückziehen ist naheliegend, Menschen die von Gemeinschaften mitgetragen werden, haben i.d.R. keine Interesse daran diese zu verlassen - von ideologisch Verblendeten mal abgesehen.
Aber auch selbst hier nimmt ein nicht unerheblicher Teil derer, die unseren Staat ablehne, Sozialleistung in Anspruch.

Es viel auch an der ein oder anderen Stelle hier im Forum schon die Aussage, dass niemand eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft habe, jeder sei nur für sich selbst verantwortlich.

Das ist natürlich eine Pauschalisierung die nicht auf alle zutrifft, wenn man sich aber die Welt so anschaut, ist der weltweit zunehmende Separatismus ein Indiz für meine Annahme.

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Querdenker nehmen ich überwiegend nicht als „Menschen mit hohen Einkommen/Vermögen“ wahr. Unter denjenigen, die ihre individuelle Freiheit höher einschätzen als das Wohl der Gesellschaft, sind nach meiner Wahrnehmung auch viele Selbstständige.

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Zunächst ist festzustellen, dass die Teilnehmer überwiegend älter und besser situiert sind. 75 % der Teilnehmer geben an, über 38 Jahre alt zu sein. Auffällig ist auch die hohe Zahl von Selbstständigen. Diese liegt bei 25 %, während der Durchschnitt in Deutschland lediglich bei 9,6 %, in Österreich bei 11,1 % und in der Schweiz bei 13 % liegt. 46 % gaben an, dass sie in ihrem Beruf schon Personalverantwortung hatten. Über 65 % der Teilnehmer geben an der Mittelschicht zugehörig sehen. Von einer sozial- oder finanziell benachteiligten Gruppe ist hier also nicht auszugehen.

Natürlich hat auch diese Studie Schwierigkeiten bei der Erhebung, dass sich aber die Querdenker überwiegend aus unteren Einkommensschichten zusammensetzen, hat ich nicht angenommen.

Beim zweiten Punkt, hoher Anteil an Selbstständigen, deckt sich das mit deiner Annahme.

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Ich finde das ein spannendes Thema. Ich habe mich gefragt, ob das die Auswüchse der neoliberalen Welle sind.

Ich habe gelesen, kann aber gerade die Quelle nicht finden, dass man der demokratischen Partei in den USA vorwirft, in den 90er Jahren mit der neoliberalen Welle auch eine „wenn du nicht erfolgreich bist, liegt es an dir“-Attitüde vermittelt zu haben. Noch heute pflegen die „Moderaten“ in der Partei diese „du musst es schon selbst schaffen“-Reagonomics Narrative. In der Finanzkrise haben viele US-Amerikaner:innen Wohlstand verloren. Der Niedergang der amerikanischen verarbeitenden Industrie (Stahl, Maschinenbau & Co) hat zu Armut und Obdachlosigkeit geführt.

… hier könnte man noch viel hinzufügen, ich versuche mich mal kürzer zu fassen:
Ich frage mich also, ob dieses Narrativ „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“ nicht der Boden ist für eben Selbstständigkeit und Startups, aber eben auch für Ablehnung eines Nanny-Staates.

Wenn an dem Argument etwas dran ist, müsste man in Staaten die eher neoliberal ‚ticken‘ mehr Impfskepsis finden. schaut nach Ich sehe keinen offensichtlichen Zusammenhang in den Daten. Vielleicht doch nicht so stichhaltig.