Obdachlosigkeit in Berlin und deutschen Großstädten

Ich melde mich mit einem Themenvorschlag, der mir auf dem Herzen liegt und eine Beobachtung betrifft, die ich in Berlin mache. Es geht um die - aus meiner Beobachtung heraus - zunehmende Obdachlosigkeit in Berlin.

Ich lebe seit über 30 Jahren in Berlin, mal zentraler, mal eher im Randgebiet. Grundsätzlich bin ich eigentlich überzeugte Bahnfahrerin, wie man das als Berlinerin halt so macht. Nun hat die Anzahl - meiner Vermutung nach wohnungsloser - Personen, die sich an Bahnhöfen und in den Zügen aufhalten, in den letzten Jahren stetig zugenommen. Ich habe dazu nicht recherchiert, aber ich gehe davon aus, dass sich das belegen lässt - knapper Wohnraum, alles wird teuer usw., ist ja logisch.

Das macht folgendes mit mir: Zum einen bricht es mir das Herz, die Leute zu sehen! Es sind so viele, zum Teil jung, zum Teil alte Personen, vielleicht krank, viele zum Teil so bemüht, niemandem auf die Nerven zu gehen oder beschämt.

Zum anderen fühle ich mich in den Bahnen einfach gar nicht mehr sicher oder stark belästigt. Auf jeder Fahrt begegnet man inzwischen mehreren Personen, die mehr oder weniger penetrant betteln, die mehr oder weniger stark betrunken oder „drauf“ sind, die mehr oder weniger stark riechen. Manchmal sind die Leute aggressiv (letztens wurden wir einfach so von einem betrunkenen Flaschensammler mit einer Glasflasche beworfen), manchmal aufdringlich, feiern Parties und saufen an U-Bahnhöfen, machen Sprüche gegenüber Frauen. Vor einiger Zeit habe ich beobachtet, wie ein ganzer U-Bahnwagen leer blieb, weil ein darin schlafender Mann so extrem stark roch. Gestern bin ich am Schlesischen Tor auf dem Weg zur Markthalle 9 ausgestiegen und musste dort 10 Minuten auf meine Verabredung warten. Ich hatte wirklich Angst! Bestimmt 15 Leute saßen mit Decken oder Schlafsäcken herum, zwei brüllten sich an, einige duckten sich mit ihren Spritzen in die Ecken. Eigentlich wollte ich an den Sparkassenautomaten dort noch etwas Bargeld abheben - daran war überhaupt ganz und gar nicht zu denken, die Automaten waren belagert. Und was mich dazu noch schockierte: Es war nicht eine einzige Sicherheitsperson vor Ort. Keine.

All das führt inzwischen dazu, dass ich auf bestimmten Routen und zu bestimmten Zeiten nicht mehr mit der Bahn, sondern mit dem Auto fahre. Es führt auch dazu, dass ich es inzwischen verstehe, wenn gewohnheitsmäßige Autofahrer im Leben nicht aufs Bahnfahren umsteigen wollen.

Meine Fragen wären: Wie ist die Lage? Wird es wirklich so viel mehr? Was wird dagegen getan? Natürlich kenne ich Übernachtungshilfen etc. … aber dagegen, dass Leute nicht auf der Straße landen oder einen Weg zurück finden? Wie erfolgreich ist das? Was kann man tun (als normaler arbeitender Mensch…)? Und ein wenig konfrontativer gefragt: Warum wird in den Bahnen und Bahnhöfen nichts getan? Warum gibt es nicht mehr Sicherheitspersonal - keine Leute? Kein Geld? Kein Interesse? Oder moralische Zurückhaltung, weil man schutzlose Menschen nicht vertreiben möchte?

Aus meiner Sicht als Sozialarbeiter ist das Problem tatsächlich, dass wir wegen der historischen Belastung aus dem Dritten Reich etwas zu sehr in’s gegenteilige Extrem gerutscht sind, was den Umgang mit psychisch kranken Menschen betrifft. Ich sollte das wohl besser ausführen, bevor die ersten Fackeln und Mistgabeln rausgeholt werden:

Im Dritten Reich maßte sich der Staat an, Menschen mit psychischen Krankheiten gegen ihren Willen zu „behandeln“, und zwar teilweise auf die menschenunwürdigste Art (Zwangseinweisung, Zwangssterilisierung, Euthanasie). Daraus zogen wir die - durchaus berechtigte - Lehre, Menschen nicht gegen ihren Willen behandeln zu wollen. Die Grenze, ab der ein Mensch daher zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden kann, ist entsprechend hoch angesetzt - letztlich ist dies nur bei konkreter Selbst- oder Fremdgefährdung möglich (Suiziddrohungen, tätliche Angriffe gegen Dritte usw.).

Die meisten Obdachlosen haben diverse psychische Probleme, extrem häufig Suchterkrankungen, aber eben auch Erkrankungen, die eine Willensbildung teilweise fast bis vollständig unmöglich machen (psychotische Erkrankungen, Depression). Das Misstrauen gegen den Staat und dessen Einrichtungen, vor allem auch gegen das Gesundheitswesen, ist enorm - häufig auch, weil schlechte Erfahrungen gemacht wurden.

Nun haben wir die Situation, dass die Menschen nicht selbst zu der Einsicht kommen können, Hilfe zu suchen, wir ihnen aber gleichzeitig keine Hilfe gegen ihren (eventuell krankheitsbedingten) Willen aufzwingen wollen. Das führt dazu, dass sich die Lebenssituation der betroffenen Person massiv verschlechtert und wir nur zuschauen können. Aufsuchende Sozialarbeit kann hier auch nur wenig leisten, weil man gegen die krankheitsbedingten Willensbildungsstörungen nicht ankommen kann. Dazu müssten die Leute zwangseingewiesen und medikamentös eingestellt werden - aber gerade das wollen wir aus historischen Gründen nicht.

Als Gesellschaft tun wir im Prinzip das Falsche aus den richtigen Motiven heraus.

Wer unfreiwillig Obdachlos ist hat tatsächlich einen polizei- und ordnungsrechtlichen Rechtsanspruch darauf, dass der Staat ihn unterbringt. Aber dazu muss der Obdachlose eben zu Behörden gehen und klar sagen, dass er unfreiwillig Obdachlos ist und eine Unterkunft will. Von dort können dann auch Hilfen eingeleitet werden, damit die Person Sozialleistungen bekommt und damit eine dauerhafte Wohnung finden kann. Aber zu diesem Punkt kommen wir halt nicht, weil die meisten Obdachlosen als „freiwillige“ Obdachlose gelten - und das „freiwillig“ muss man dabei wirklich in dicke, fette Anführungszeichen setzen…

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Hier muss ich sagen, dass „mehr Sicherheitspersonal“ einfach keine Lösung ist. Es wäre ein klassisches „Behandeln von Symptomen“ statt einer Lösung der Ursache.

Dazu möchte ich anmerken, dass das allgemeine Bild, dass von Obdachlosen eine besondere Gefahr ausginge, eher falsch ist. Klar, auch Obdachlose begehen manchmal Straftaten, gerade weil - wie oben gesagt - fast immer Suchterkrankungen und psychische Krankheiten dazu kommen und diese auch bei Nicht-Obdachlosen das Risiko für strafbares Verhalten steigern.

Unterm Strich gilt aber festzuhalten, dass Obdachlose weit, weit öfter Opfer von Straftaten werden, als Täter zu sein.

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Völlige Zustimmung. Das ist ein einfacher Reflex, eine einfache „Lösung“ für ein komplexes Problem. Die Sache ist: man muss dennoch Lösungen finden. Nichts zu tun ist jedenfalls ebenfalls keine Lösung, dann landen wir irgendwann bei Zuständen wie in San Francisco. Zeltstädte in Parks, wie es sich Berlin-Ostbahnhof angebahnt hat, sind auch keine Lösung.

Daher wäre ich auch an einer genaueren Betrachtung des Themas interessiert.