Nord Stream besteht aus 2 Trassen (Nord Stream 1 und Nord Stream 2) mit jeweils 2 Strängen (dieses technische Detail ignoriere ich einfachheitshalber im Folgenden). Dadurch ergeben sich 4 Betriebsmöglichkeiten:
Beide Trassen werden genutzt.
Nur die Nord Stream 1 Trasse wird genutzt.
Nur die Nord Stream 2 Trasse wird genutzt.
Keine Trasse wird genutzt.
Die aktuelle außenpolitische Debatte dreht sich bekanntlich darum, ob Betriebsmöglichkeit 1 oder 2 verfolgt werden soll. Diese Verengung des Debattenraums ist für mich weder wirtschaftlich noch umwelttechnisch noch geopolitisch nachvollziehbar. Folgende Überlegungen dazu:
Wirtschaflich: Betriebsmöglichkeit 1 > 3 > 2 > 4
Betriebsmöglichkeit 1 stellt hier in meinen Augen offensichtlich die beste Möglichkeit dar (bessere Infrastruktur und keine Schadensersatzforderungen). Falls aus politischen Gründen eine Trasse nicht betrieben werden soll, dann erscheint Betriebsmöglichkeit 3 die bessere Wahl als Betriebsmöglichkeit 2 zu sein. Sofern sich die Nord Stream 2 AG keine Umsetzungsfehler zu Schulden kommen lassen hat, muss Deutschland Vertragsverletzungsstrafen zahlen. Möglicherweise in der Größenordnung der gesamten Baukosten plus Rendite. Sollte Deutschland hingegen grundlos der Nord Stream 1 Trasse die Betriebslizenz entziehen, so wären sicherlich niedrigere Entschädigungszahlungen fällig, da hier schon seit 10 Jahren Baukosten abgeschrieben werden konnten.
Umwelttechnisch: Betriebsmöglichkeit 3 > 2
Ich nehme an, dass die neuen Rohre von Nord Stream 2 besser in Schuss sind also die zehn Jahre älteren Rohre von Nord Stream 1. Betriebsmöglichkeit 3 stellt daher ein geringeres Risiko für Leckagen etc. dar.
Geopolitisch: Betriebsmöglichkeit 1 oder 4
Ernst gemeinte Sanktionen gegenüber Russland können nur zur Androhung bzw. Umsetzung von Betriebsmöglichkeit 4 führen.
Ich komme zu dem Schluss, dass Betriebsmöglichkeit 2 in jeglicher Hinsicht keinen Sinn ergibt.
Ich hoffe mit dieser Analyse eine betont fachkundige Diskussion zu Nord Stream anzustoßen. Insbesondere zu der Thematik, ob Betriebsmöglichkeit 2 doch Vorteile gegenüber Betriebsmöglichkeit 3 bietet (beispielsweise weil es akute nicht-politische, d.h. technische oder rechtliche, Gründe gegen die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 gibt oder eine juristische Einschätzung der Schadensersatzforderungen).
Damit würde mein Beitrag wohl maximale Wirkung entfalten, da dadurch Nord Stream 1 endlich gleichberechtigt neben Nord Stream 2 (im Titel) auftaucht.
Andererseits fühlen sich dann ggf. die „nur Nord Stream 2“ Debattanten bevormundet, weil sich deren Debattenraum plötzlich vervielfacht hat.
Die kompetente Moderation wird sicherlich einen geeigneten Weg finden.
Das wäre schlicht ein politisches Signal, dass Deutschland seine ambivalente Haltung zwischen Kooperationsbereitschaft mit Russland auf der einen und Solidarität zu seinen osteuropäischen und US-amerikanischen Verbündeten (zumindest für den Moment) aufgibt.
Eine langfristige Strategie, um die EU/NATO mittels bevorzugter Beziehungen zu Deutschland etwas zu spalten wäre damit gescheitert. Wie wichtig ist das der russischen Regierung heute? Keine Ahnung.
Anekdote: Als Nordstream I in Betrieb genommen wurde, war ich zufällig in Moskau. Da lief das im Fernsehen ruf und runter, als sei den Russen gerade die Landung auf dem Mars geglückt. Zumindest vor einem Jahrzehnt hatte es für die russische Führung also eine große Bedeutung, sich mit diesem Projekt und auch dem ehemaligen Kanzler Schröder zu schmücken. Heute ist Russlands Bedeutung und Selbstsicherheit sicherlich gestiegen, während die von Deutschland und der EU deutlich zurückgegangen ist.
Das ist keine realistische Option. Ohne Lieferungen aus Russland geht Europa innerhalb kurzer Zeit das Erdgas aus. Da müsste sofort eine Rationierung starten, um wenigstens noch die Häuser warm und die Stromerzeugung am Laufen zu halten. Und das für Jahre.
Aber wäre es nicht ein noch deutlicheres politisches Signal, (stattdessen) Nord Stream 1 die Betriebslizenz zu entziehen (und dabei nebenbei wirtschaftlich und umwelttechnisch die bessere Option)?
Das kann gut sein. Nur eine Nord Stream Trasse zu schließen kommt aber auf das Gleiche raus, wie „wir sanktionieren Russland nicht, sondern kaufen eben nur so viel Gas wie wir benötigen“. Genau das würde aber auch passieren, wenn beide Trassen in Betrieb sind.
Nord Stream 1 ist genehmigt, schon lange in Betrieb und nur zu 51% im Eigentum der russischen Seite. 49% gehören europäischen Energieunternehmen. Nord Stream 2 dagegen ist noch nicht genehmigt und gehört zu 100% Gazprom.
Nord Stream I und II zusammen würden es Russland ermöglichen, die Länder Osteuropas fast komplett zu umgehen zugunsten direkter Lieferung nach Deutschland, von wo das Gas dann weiterverteilt würde. Solange nicht beide Projekte in Betrieb sind, können die Transitländer noch darauf bauen, im Konfliktfall mit Russland den Rest Europas mit in ihr Boot holen zu können, da deren Gasimport sonst gestört werden könnte. Gleichzeitig würde dies Deutschland in eine bevorzugte Stellung hieven als Gasdrehscheibe von Moskaus Gnaden. Beides strategische Ziele der russischen Regierung, wenn man den „Analysten“ glaubt.
Ein paar mögliche Gründe, warum Scholz und die Regierung nicht klar vom Nord Stream 2 Stopp sprechen.
Die weitgehend diskutierten Erklärungen will ich nicht ausschließen:
Rücksicht auf die SPD-Mitglieder, die den Stopp auf keinen Fall wollen.
Angst vor einem vorzeitigen Stopp von Erdgaslieferungen durch Russland
Aber mir allen noch ein paar gute oder auch weniger gute Gründe ein:
Wenn wir vorher gesagt haben, es stehe alles zur Debatte, lassen wir uns nicht von Biden vorschreiben, welche Punkte wir konkret benennen.
Wenn wir eine Maßnahme konkret benennen, kommt gleich danach die Frage zur nächstem Maßnahme, die konkret benannt werden soll.
Nord Stream 2 soll möglicherweise nicht erst beim Einmarsch ganz gestoppt werden, wenn Russland weiter und stärker droht.
Wenn öffentlich gesagt wird, Nord Stream 2 wird abgeklemmt, wenn die Russen einmarschieren, müssten wir es aufmachen, sobald Russland die Truppen von der Nähe zur Ukraine abzieht. Das ist aber a) verwaltungsrechtlich und b) mit den Grünen in der Regierung gar nicht sicher.
Nur mal so zum Überlegen und ja, Herr Scholz, Regierungs- und SPD-Funktionäre, Ihr dürft gerne diese Ideen verwenden.
Ich finde die ganze Debatte auch völlig daneben. Zunächst einmal wurde extrem oft betont, dass die EU geschlossen Sanktionen beschließt und diese nicht öffentlich bekannt gemacht werden sollen. Ich stimme auch zu, dass ich das Gefühl habe Scholz will sich nicht von den USA diktieren lassen was er zu tun hat. Ich finde diesen Punkt wichtig und sehr richtig von Scholz. Die USA wollen uns schon länger von russischem Gs trennen um uns ihr Gas zu verkaufen.
Solange Scholz nichts konkretes sagt muss auch Putin erstmal keine Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich glaube die Regierung möchte nicht, dass die Bevölkerung mitten im Winter kein Gas mehr bekommt. Wenn wir den Ausbau der erneuerbaren Energien die letzten 16 Jahre forciert hätten, wären wir wesentlich unabhängiger von Russland. Leider eine weitere desolate Regierungsleistung von Merkel.
ein weiteres Argument wäre, dass Deutschland Schadenersatz an die NordStream2 AG mit Sitz in der Schweiz leisten müsste, wenn die Pipeline jetzt noch gestoppt würde.
Bei bisherigen Kosten von 7,4 Milliarden Euro möchte die Nordstream2 AG vermutlich sowas wie 16 Milliarden haben - und Scholz möchte vermutlich keine Rechnung an jeden Deutschen in Höhe von 200€ schicken.
Ich glaube er hat gemerkt, dass die Bevölkerung sich gar nicht höhere Energiepreise leisten kann oder will. Wäre interessant zu wissen wie hoch der Rückhalt in der Bevölkerung ist, wenn sich der Gaspreis (also der Preis für grüne Energie) noch mal deutlich erhöhen. Ob die Bevölkerung der Regierung dann das Vertrauen entzieht, da sie dann nicht mehr glauben, dass Scholz die Energiewenden managen könnte?
Erklär mir doch mal jemand, wieso Nord-Stream-2 irgendetwas mit höheren Gaspreisen zu tun hat. Da fliesst ja noch gar nichts durch. Weiterhin hat Deutschland langfristige Verträge mit russischen Gasproduzenten. Das hier die Preise steigen ist doch einfach Spekulation an den Börsen. Potentielle Knappheit gleich höherer Preis. Oder man kann denen, die keine langfristigen günstige Verträge haben das Gas teurer weiter verkaufen.
Nur ist es eben so, dass sämtliches Gas aus Russland von Putins Gnaden kommt. Wenn er sagt Europa kriegt nichts mehr wird das sich so sein. Der Mann hat Menschen töten und vergiften lassen, denkst du den kucken irgendwelche langfristigen Verträge?
Sehe ich auch so. Und gleichzeitig importieren sie massenhaft russisches Öl:
Daher ist es eben das beste, in Deutschland erneuerbare Energien auszubauen. Bei allem anderen macht man sich vom Ausland abhängig. Kohle kommt aus Australien, Uran aus Kasachstan und so weiter.
Das sehe ich eben auch so. Nur wird es eben schwer 16 Jahre Merkel aufzuholen, vor allem mit zu vielen Unions Landesfürsten die sich gegen die Wissenschaft und die Rechtssprechung stellen.
Durch die derzeit existierenden Pipelines floss erstaunlich wenig Gas, die Speicher, die großteils Gazprom gehören, sind fast leer ohne ersichtlichen Grund, gleichzeitig gibt es Aussagen von Putin, dass jederzeit mehr Gas zur Verfügung stehen könnte, wäre NordStream2 endlich genehmigt. Kann natürlich alles zufällig zusammen gefallen sein. Aus wirtschaftlicher Sicht sorgt Gazproms Verhalten aber für Kopfschütteln, könnten sie bei den derzeitigen Preisen doch gut verdienen.
Hat sich eigentlich mal jemand gefragt, was mit den ganzen russischen Pipelines passiert, die durch die Ukraine gehen, wenn Russland tatsächlich angreifen sollte?
Das ist Putins Druckmittel. Wenn Nord Stream 2 nicht ans Netz geht wird gar kein Gas mehr geliefert. Es gibt keine freie Wirtschaft in Russland. Er weiß er wird sein Gas schon los aber wir sind abhängig. Von daher würde ich sagen schützt Scholz unser extrem schlecht vorbereitetes Land.
Russland ist nicht mehr bereit den deregulierten Gasmarkt innerhalb der EU, der für die sehr hohen Preise in aktuellen Heizperiode verantwortlich ist, mit Verkäufen auf dem Spotmarkt zu „retten“, weil sie das als langfristigen strukturellen Nachteil sehen. Sie wollen im Wesentlichen Planbarkeit durch Langzeitverträge und nichts anderes. Um zum Ende letzten Jahres an mehr Gas zu kommen, hätten die Versorger in der EU also solche neuen Verträge mit Gazprom schließen müssen. Das ist wohl nicht passiert.
(Kleiner Einschub: Die US-LNG-Anbieter sind auch der Meinung die EU sollte wieder auf Langzeitverträge setzen, natürlich mit ihnen.)
Wenn wir darauf bestehen, LNG-Terminals zu bauen, kann Gazprom mit seiner eigenen LNG-Produktion oben auf der Jamal-Halbinsel, immer noch genug überteuertes Gas an die EU-Länder verkaufen.
Ich vermute Nord Stream 2 wird auf die eine oder andere Weise in Betrieb gehen, selbst wenn es zuerst Gazprom abgekauft werden muss oder irgendein anderes Manöver nötig ist.
Russland vermeidet diese Pipeline auszulasten. Nord Stream ist eigentlich immer voll ausgelastet und im Zweifel nimmt man eher die Jamal-Europa-Pipeline durch Weißrussland dazu. Kürzlich wurden auch Lieferungen nach Südosteuropa auf South Stream umgestellt, die vorher durch die Ukraine gingen.