Neue Weltordnung

Lieber Ulf, lieber Philip,
vielen Dank für die LAGE live in Hamburg gestern. Insbesondere den Exkurs zur globalen (Sicherheits-)Architektur/auseinanderdriftende Wertesysteme war sehr erhellend, auch wenn es über die Lage „dieser Nation“ hinausgeht, ist es dennoch auch für D und EU wichtig, welche globalen Auswirkungen diese „Zeitenwende“ hat.

Die Frage, die ich in den Raum stellen möchte (und Ulf erinnert sich vielleicht), erlaubt keine klare Antwort - nur eine Einschätzung in dem Kontext: Kann das UN-System, insb. der UN-Sicherheitsrat jemals reformiert werden ohne einen großen offenen Konflikt („Weltkrieg“)? …Wir erinnern uns: Der 1. WK schuf den Völkerbund, der 2. das UN-System, wie wir es heute kennen.

Es mag unwirklich erscheinen, so etwas zu denken. Aber viele Indizien sprechen schon längere Zeit für eine Irrelevanz dieses Gremius, da kein Konsens der rivalisierenden Großmächte mit Veto-Recht absehbar ist. Die USA blockieren z.B. trotz breiter Mehrheit in der UN jede Resolution, die Israel betreffen, Russland die Syrien betreffen (oder neuerdings sie selbst) etc. … Niemand würde sein Veto-Recht freiwillig aufgeben - nicht mal Frankreich für die EU.

Zurückkommend auf die gestrige Lage daher: Ist ein Clash of civilisations unvermeidbar? Welche Auswirkungen hätte das auf D direkt oder indirekt? Steht das UN-System vor dem Aus?

Beste Grüße
Sebastian

Die Frage ist halt immer, was man mit einem Gremium wie dem Weltsicherheitsrat bezweckt.

Der vorgesehene Zweck ist seit jeher eigentlich nur, dass ein Atomkrieg verhindert werden soll, indem dort ein Forum für Gespräche geschaffen wurde, selbst im Kalten Krieg. Und durch die Veto-Macht sind die Atommächte in der Position, verhindern zu können, dass das Gremium eine Entscheidung trifft, die man im Zweifel mit Atomwaffen beseitigen wollen würde.

Natürlich wäre es schön, wenn der Weltsicherheitsrat mehr leisten könnte. Weltfrieden wäre schön. Aber realistisch ist das halt leider nicht. Der Zweck, den der Weltsicherheitsrat hat, erfüllt er jedenfalls bisher halbwegs: Er sorgt für Stabilität, im Positiven wie Negativen. Aber halt nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Ich finde den Status Quo im Weltsicherheitsrat auch unschön, aber die realistischen Alternativen erscheinen nicht wirklich wünschenswerter… eine Reform, bei der die Veto-Mächte ihre Vetos verlieren, birgt jedenfalls erhebliche Gefahren.

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Kannst du ein oder besser mehrere Beispiele nennen, bei denen das Veto gegen eine UN-Resolution des Weltsicherheitsrates durch eine Vetomacht einen (wahrscheinlichen) Atomkrieg verhindert hat?

Mir erscheint dieses Argument als nicht besonders valide.
Solange die UN keine von allen Staaten anerkannten Instrumente zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse hat, bleibt sie eher ein zahnloser Tiger. Angenommen es gäbe kein Vetorecht und der Sicherheitsrat hätte festgestellt, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist. Welche Möglichkeiten des Eingreifens hätte die UN gehabt? Voraussetzung für die Entsendung von Blauhelm-Truppen (Friedensmission) ist die Zustimmung aller Konfliktparteien, zudem haben sie niemals einen Kampfauftrag.

Es gäbe noch die Möglichkeit der Friedenserzwingung. Dabei würde/n (ein) Staat/en von der UN den Auftrag erhalten, auch gegen den Willen der Konfliktparteien, Frieden zu erzwingen.

Gegen eine Atommacht wie Russland hätte sich wohl keine Militärkoalition bereit erklärt diesen Auftrag von der UN umzusetzen.
Aus meiner Sicht sind es also die Atomwaffen an sich, welche den Frieden zwischen den Großmächten erhalten. Bitter genug.

Bzw. die ihre Muskelspiele auf anderes Terrain als die direkte Konfrontation verlagern.

Worauf ich mit meiner Frage hinaus wollte - und danke für die ersten Antworten: Wenn man sich weder auf den UNSC verlassen, noch dessen (freiwillige) Reform erwarten kann, spielt das den Argumenten der BRICS Staaten (sinngemäß, dass dieser die aktuelle Weltordnung nicht repräsentiere) in die Karten. CHN, RUS, aber auch IND oder BRA zeigen, dass dieser „zahnlose Tiger“ von den sog. Tigerstaaten herausgefordert wird. (geglückte Metapher)
Ein Exkurs zum (Neo)realismus stellt die Sicherheitsinteressen der Staaten an erster Stelle, alle Großmächte wiederholten zuletzt, dass sie sich am Rande ihrer Einflusssphären in ihrer Sicherheit bedroht sehen (durch den jeweils anderen). Eine Herausforderung des Konkurrenten ist auch immer eine Herausforderung seines Systems; die USA hat wie kaum eine andere Nation ihre Hände über dem UN-System, während es für CHN und RUS praktisch egal ist, was dort entschieden wird. Internationale Kreditvergabe muss nicht länger danach laufen, wie demokratisch oder wirtschaftlich ein Land sich aufstellt, Wandel durch Handel zwingt viele kleinere Staaten zu einem Wandel hin zu CHN.

RUS, CHN und andere fühlen sich durch die Dominanz des Dollars bedroht und bieten Alternativen. Währenddessen befindet sich die USA, u.a. laut Aussage von Ray Dalio (Principles for Dealing with the Changing World Order by Ray Dalio - YouTube) am Ende eines großen Schuldenzyklus, der in eine neue Weltordnung münden kann. Zuletzt war dies immer mit einem offenen Konflikt der Großmächte verbunden.

Eine Weltordnung, die außerhalb des UN-Systems ist, wie wir es kennen, scheint oft unmöglich und doch ist es nicht unplausibel, dass dieses System vor dem Ende steht. Ich befürchte einen direkten Konflikt der Großmächte und, dass die Ukraine hier nur der Anfang ist. Konfliktpotenzial gibt es zudem im Mittleren Osten oder im Pazifik, nicht zu vergessen IND/PAK. Die „Zeitenwende“ ist eine erste Anerkennung dieses globalen Wandels … Die Frage bleibt, ob es der UN irgendwie möglich ist, ihre Rolle als Mittler wahrzunehmen, ohne, dass es zu einem großen Krieg kommt. Sie muss es versuchen, denn wenn der Krieg erstmal da ist, ist die UN automatisch gescheitert.

Ich verstehe die Aussage nicht richtig. Inwieweit haben die USA ihre Hände über dem UN-System? Ebenso wie Russland und China handeln die USA teilweise eigenmächtig und verstoßen gegen Völkerrecht. Beispielhaft sollen hier das Festhalten von Menschen auf dem US-Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba, ohne ordentliches Gerichtsverfahren, oder der „Drohenkrieg“ gegen (angebliche) Terroristen genannt sein. Auch haben die USA bis heute sich nicht der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen.
Es gibt sicher Bestrebungen einiger „Player“ die globale Sicherheitsordnung zu ändern, das muss aber nicht zwingend zum Kollaps der UN führen.
Es gibt sicher jede Menge berechtigte Kritikpunkte an der Struktur der UN und speziell der des Sicherheitsrates, Deutschland wäre schließlich auch gern ständiges Mitglied. Die Vorstellungen einer „idealen Weltordnung“ werden schon kulturell auseinander gehen und tun es erst recht wenn politisch, wirtschaftliches (Macht-)Streben einzelner Staaten ins Spiel kommen. Eine grundlegende Reform der UN bleibt daher wohl auf absehbare Zeit eine Wunschvorstellung. Ich habe auch keine zündende Idee wie diese realistischerweise aussehen soll.
Ich sehe die UN eher als Forum, denn als Institution nach deren Pfeife alle tanzen müssen. Daher sehe ich keine Notwendigkeit wegen der Fehlstrukturen der UN einen Krieg führen zu müssen.
Meine Hoffnung bezüglich eines friedvollen Zusammenlebens der Völker richtet sich daher eher an Konstrukte wie die EU. Staaten mit gleichen Wertesystemen schließen sich zu einem Bund zusammen. Natürlich können auch diese Bünde miteinander in Konkurrenz stehen und auch Kriege gegeneinander führen. Andererseits wären die moralischen, wirtschaftlichen und militärischen Hürden einen solchen Krieg zu beginnen viel größer als bei Konflikten zwischen zwei Staaten allein. Und bei diplomatischen Verhandlungen würden nicht mehr 196 Meinungen berücksichtigt werden müssen, sondern nur 5 oder 10. Da schließt man leichter Kompromisse.

Direkte Kriege der Großmächte gegeneinander will ich nicht komplett ausschließen, halte sie aber eher für unwahrscheinlich. Stellvertreterkriege sehe ich schon eher. Die aktuellen Entwicklungen im Russland-Ukraine-Konflikt sollten aber allen Möchtegern-Imperien eine Lehre sein. Die Zeiten, in denen Krieg ein akzeptiertes außenpolitisches Instrument war, sind vorbei. Aggressoren müssen sich darauf einstellen politisch und wirtschaftlich isoliert zu werden, was ihrem Großmachtstreben zuwider läuft.

Damit meine ich, dass die USA zum Beispiel den größten Anteil am IWF haben, an der Weltbank, größte Geldgeber der WHO, WTO etc … einen Überblick, wenn auch etwas älter zum Beispiel hier: Who actually funds the UN and other multilaterals?
Ergo: Ohne Finanzierung von USA, UK und „dem Westen“ kann man große Teile des UN-budgets nicht finanzieren.

Und Ihr letzter Satz stimmt meines Erachtens nicht … Politische und wirtschaftliche Isolation vom Westen wäre richtig. Viele Staaten schließen Sanktionen gegen Russland aktuell aus, u.a. der ganze Rest der BRICS Gruppe und viele Länder des sogenannten „globalen Südens“ Hierzu auch ein netter Meinungsbeitrag (diesmal aktueller) The Ukraine-Russia war looks very different outside the West

Gruß
Sebastian

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