Mythen zur Arbeitslosigkeit

Braucht es dafür wrklich ein neues Denken in den Köpfen der Uni-Dozenten?

Meine Wahrnehmung ist, dass viele sich der Problematik bewusst sind, eine bessere Ausbildung (inkl. Eignungsprüfung) aber letztlich finanziell von den Bundesländern nicht unterstützt wird. Die finanziellen Anreize an Universitäten fördern die schnelle Ausbildung auf Kosten der Qualität. Hohe Abbrecherquoten werden vom Land oft nicht gerne gesehen und können zu finanziellen oder anderweitigen Einbußen der Universität führen. Das aktuelle Ziel scheint mir lediglich eine hohe Zahl ausgebildeter Absolventen zu sein.

Wollte man etwas an der Situation nachhaltig verbessern, könnte man den Universitäten einerseits einen anderen Auftrag geben (Qualität hervorheben), sie besser finanzieren (ernstzunehmende individuelle Eignungsprüfung kostet Geld), ihnen dabei den Rücken stärken (Studienabbrüche ohne finanzielle Einbußen) und anschließend noch die Bezahlung von Lehrkräften anpassen. Das wäre eine ziemlich prallgefüllte Reform und wird wohl niemals geschehen.

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Es bedeutet zuallererst das Ende von „Geiz ist geil“

Hier in Schweden bezahle ich beim Friseur umgerechnet etwa 40€ für den Herrenhaarschnitt ohne waschen, auch bei der Azubine (die kostet zusätzlich noch Zeit)

In Deutschland gab’s den Azubi-Haarschnitt für umsonst.

Ich weiß nicht was aktuell die Preise in Deutschland sind, aber es gab ja schon einen Aufschrei als der Mindestlohn auf die Preise aufgeschlagen wurde und ich kann mich erinnern, dass die Ketten mit 5€ den Herrenhaarschnitt geworben haben.
Das geht nur mit unterirdischen Löhnen und trotzdem hohem Leistungsdruck um wenigstens Kostendeckend zu werden.

Und so sieht es ja überall aus in Deutschland.
Zu niedrige Löhne schaffen Druck zu immer billiger, was wiederum dazu führt dass in den Dienstleistungen kein Spielraum für bessere Löhne ist.

Die allgemein hohen Spareinlagen bei denen die sparen können tun ein übriges.

p.s.: Lunchrestaurant in Schweden (was Kantinen in Deutschland entspricht) gibt’s nicht unter 12€ das Essen.

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Aber wenn alle höhere Löhne bekommen, um dann höhere Preise zu zahlen, landet man dann nicht wieder beim selben Punkt?

Ja und nein.

Auf den ersten Blick stimmt das natürlich, aber auf den zweiten wird es anders.

Nur weil alle höhere Löhne bekommen bedeutet es ja nicht, dass dann alle zu Friseur gehen.

Und es ist ja nicht so, dass man hier als Friseur gleich reich wird, aber die Löhne in Schweden passen halt zu den Lebenshaltungskosten. Der Punkt ist in Deutschland schon lange weg.

Kurz bevor wir ausgewandert sind war meine Frau schon arbeitslos und ich auf Montage in Schweden. Wir mussten da schon ordentlich rechnen damit das Geld reicht.

Nachdem wir Deutschland verlassen haben, war meine Frau immernoch arbeitslos und ich auf Montage. Eigentlich erschwerend erscheint die Tatsache, dass sie hier zu Anfang gar keine Unterstützung bekommen hat. Trotzdem war plötzlich noch Geld am Ende des Monats über, so dass sie erstmal ihre Sprachschule machen konnte um als Erzieherin arbeiten zu können.

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Am Sonntag (03.07.22) gab es zu diesem Thema einen Presseclub im ARD, hieraus noch drei zusätzliche Thesen:

These 4:
Etwa 3 % der Arbeitslosen sind gar nicht wirklich arbeitslos, sondern befinden sich gerade in einem Jobwechsel, müssen also nur ein/zwei Monate ALG beziehen.

These 5:
Etwa 600.000 Arbeitslose sind alleinerziehend und können aufgrund mangelnder Kinderbetreuung nicht Vollzeit arbeiten.

These 6:
Viele Arbeitslose leben am falschen Ort. Es fehlt zum Beispiel Personal in der Gastro an den deutschen Küstengebieten, aber Arbeitslose aus dem Binnenland ziehen nicht zum Kellnern an die Küste.

Die Bilanz der Sendung war durchaus ernüchternd. Der Markt an Arbeitskräften ist im Grunde leer und schnelle Abhilfe ist nicht in Sicht.

Folgende Handlungsempfehlungen wurden aufgestellt, um der Zitrone noch die letzten Säfte zu entlocken:

  • Deutschland muss die Kinderbetreuung weiter ausbauen, aber auch das geht nicht ohne Zeit und Personal.
  • Deutschland muss die Mobilität seiner Bevölkerung erhöhen, aber bezahlbarer Wohnraum ist nicht vorhanden.
  • Deutschland muss Facharbeiter aus dem Ausland anwerben, aber deren Ausbildung und Sprachkenntnisse sind nicht vergleichbar.

Arbeitsunwillige oder unfähige mag es zwar geben, aber denen wurde in der Sendung keine große Bedeutung gegeben.

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Das glaube ich nicht. Meine Schwägerin lebt in der Schweiz, daher sind wir dort öfters zu Besuch. Es bedrückt mich das zu sagen, aber der Unterschied Deutschland - Schweiz fühlt sich mittlerweile so an, wie Polen - Deutschland zu meiner Kindheit.

Klar, eine Pizza im Restaurant kostet 25,- CHF, aber dafür geht die Kellnerin auch mit ca. 3.500 Franken Brutto nach Hause. Davon bleiben ihr Netto 2.900. Davon muss sie noch 160*) Franken für die private Krankenversicherung bezahlen, aber das war’s. Netto 2.700 Franken im Monat als Kellnerin.

Ja, Wohnungen sind auch in der Schweiz teuer, aber für ca. 1.300 Franken kann man eine 3-Zimmer-Wohnung mieten. Auch Lebensmittel sind teuer, für eine Person würde ich 400 CHF veranschlagen. Bleiben immer noch 1.000 CHF im Monat.

Deutschland ist halt leider einfach ein kaputtes Land. Ich spiele auch mit dem Gedanken auszuwandern.

*) zum Vergleich, private Krankenversicherung kostete in Deutschland locker 600 pro Monat!!!

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Nicht alle Ausgaben, die man so hat, basieren großteils auf irgendwelchen Lohnkosten der anderen. Mieten zum Beispiel, oder Energiekosten.

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Es gäbe eine Möglichkeit: Arbeitserlaubnis für die Flüchtlinge sobald sie irgendeinen Status haben.

Gerade in Anlernberufen geht da dann plötzlich viel.

Ich arbeite hier in der Industrie und unsere Abteilung hat solche Jobs. Ergebnis: unglaublich hohe Einwandererquote, alleine meine Abteilung 7 Nationen + Schweden bei 25 Mitarbeitern.

Anstellungsvorraussetzung: schwedisch (SFI = Grundkurs) und keine zwei linken Hände.

Hier in Schweden werden die alle nach dem Sprachkurs dem Arbeitsmarkt zugeführt, heißt die z.B. die Syrer 2015 sind alle schon im Arbeitsmarkt und die Ukrainer sind die Ersten auch schon drin.

Ergebnis im Mai gab es bei uns in der Kommune 357 freie Stellen und 200 Arbeitslose.

Hier ist also nicht nur Fachkräftemangel sondern Arbeitskraftmangel.

Die gibt es. Bei uns heißt sie Gesellschaft für berufliche Bildung. Diese versucht den „Schulversagern“ eine Ausbildungsstelle zu besorgen und parallel dazu zu einem Schulabschluss zu verhelfen.
Die Erfahrungen als williger Ausbildungsbetrieb sind aber katastrophal. Meist fehlt es am Willen und der Zuverlässigkeit/Pünktlichkeit des Azubis. Dazu kommt, dass sie keine Führung/Unterstützung aus dem familiären Umfeld bekommen.

zu These 1
Es ist gar nicht so leicht den Status „Harz4“ und damit die finanzielle Unterstützung zu bekommen.

Das hat aber früher mit dem qualifizierten Hauptschulabschluss schon mal ganz gut geklappt. Aber dann sind die Grundfertigkeiten, die ein Schulabgänger mitgebracht hat, immer mehr gesunken. Wenn jemand nach der 9. Klasse ankommt und kann keine Grundrechenarten, kann man das dem Ausbilder nicht auch noch aufhalsen.
Schule soll auf das spätere Leben vorbereiten, tut sie aber schon lange nicht mehr.
Was die Qualität der handwerklichen Ausbildung weiter herabsetzt ist die Ausbildungsform des „Fachhelfers“. Wer nicht zum Gesellen taugt hat so wenigstens noch einen Titel und eine scheinbar abgeschlossene Ausbildung.

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Dann machen wir doch mal den BigMac-Index:

Die Kellnerin kann sich von ihrem Gehalt also 108 Pizzas im Restaurant leisten. Ich hatte erst kürzlich eine Pizza in einem deutschen Restaurant für 11€. Die deutsche Kellnerin müsste also für 108 Pizzas in ihrem Restaurant 1188€ netto verdienen, das sind ca. 1550€ brutto (keine Kinder, etc.). Eine 40-Stunden-Woche mit Mindestlohn wirft mehr ab.

Die Kellnerin von oben zahlt also ein halbes Nettogehalt an Miete. Das ist (nach deutschen Maßstäben) ziemlich viel.

Ich glaube, du unterschätzt die Auswirkungen des höheren Preisniveaus auf die Kaufkraft.

Private Krankenversicherung bedeutet in der Schweiz etwas anderes als hier.

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Stimmt. Trotzdem, wie können wir aus der nun mal verfahrenen Lage in DE herauskommen? Die Neoliberalen haben es geschafft, auch nur mittelmässige Verdiener auf ihre Seite zu locken, um die Schlechtverdiener ausnehmen zu können. Und den Schlechterdienern stellen sie bessere Verdienste in Aussicht, wenn sie sich brav nach neoliberalen Regeln verhalten, damit sie eines Tages auch die Seite wechseln können.

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Das Zauberwort was du suchst heißt Solidarität+ Gewerkschaft.

Allerdings nicht das was in der deutsche Gewerkschaftslandschaft noch übrig ist …

http://geschichte.spd-bw.de/de/um-freiheit-und-soziale-demokratie/1869-alle-raeder-stehen-still.html

Glaube ich nicht. Wenn beide „Kellnerinnen“ 10% ihres Monatseinkommens sparen können, dann sind das für die Deutsche 120€, für die Schweizer 270 Franken. Das ist schon ein Unterschied.

Klar fährt ein Schweizer Mindestlöhner keinen Porsche und kann mehrmals pro Woche essen gehen, aber sowas wie Schlangen vor einer Tafel habe ich dort nicht gesehen. Wie auch? Es gibt nur ganze 6 Tafeln in der gesamten Schweiz [Scheizer Tafel].

Bei der Wohnung hab ich mir mehrere 3-Zimmer-Wohnungen angeschaut. Eine „Kellnerin“ (sorry, dass das Beispiel kleben geblieben ist) wird eher in einer 2-Zimmer-Wohnung oder einer WG leben.

Das ist eben kein Unterschied (kaum einer, s.u.).
Was macht die Schweizer Kellnerin denn mit ihren gesparten 270 Franken, z.B. im Alter, was die deutsche Kellnerin sich von ihren 120€ nicht leisten kann? Essen gehen? Ihre Wohnung bezahlen? Oder das Altenheim?

Das wird erst dann interessant, wenn die beiden ins Ausland in Urlaub fahren oder auswandern.

Arbeitskräfte die eine anlernbare Arbeit machen können hätten wir genug. Diese Jobs sind mit dem öffnen des eisernen Vorhangs größtenteils in den billigeren Osten abgewandert oder schon besetzt.

Was uns fehlt sind Fachkräfte die gut ausgebildet sind und ihren Job verstehen. Vor allem in handwerklichen Berufen. Aber die Ausbildungszahlen sind schon 30 Jahre rückläufig. Von dem Slogan das Handwerk hat einen goldenen Boden ist in der Wahrnehmung der Gesellschaft nichts mehr übrig geblieben.
Ohne Azubis gibt es später keine Gesellen dann keine Meister und dadurch immer weniger die einen Fachbetrieb leiten.
Die handwerklichen Betriebe sind in erster Linie dafür da die Binnennachfrage zu decken. Bei den schon Jahrzehnten andauernden Entwicklungen ist dies aber immer weniger möglich.

Was bedeutet das? Noch mehr Pendler?
Ich finde es kritisch wenn man, nur um einen Job zu machen, sein gesamtes soziales Umfeld (evtl. mit der gesamten Familie) verlassen muss.

Nein: Radikal ausgebauter öffentlicher Personen Nah und Fernverkehr, flankiert von einem primär elektrischen, und autonom gefahrenen Individualverkehr - so dass die Pendler nicht ins Gewicht fallen und die Umwelt nicht so hart verschmutzen!

Hamburg München ICE in 3.5 Stunden für 30 Euro 2 Klasse im 15 Minuten Takt. Sowas

Aus meiner Sicht ist das das Hauptproblem. Das Schulsystem ist darauf ausgelegt, dass die Schüler funktionieren. Wenn sie das machen, dann gut, wenn nicht müssen sie sich entweder anpassen oder sie bleiben auf der Strecke. Und wenn man mit dem System Schule Menschen aus unserer Gesellschaft ausschließt, ist es kein Wundern, dass die sich sagen: Wieso soll ich irgendwas für irgendjemand tun? Ich verbringe mein Leben total gefrustet mit Harz IV. Geholfen ist damit weder der Gesellschaft noch diesen Menschen. Und die zurückzuholen ist unglaublich schwierig.

s. dazu auch

Niedergang der deutschen Gewerkschaften? Brauchen wir sie etwa nicht mehr?

Hi @CB87 - ich würde diesen spannenden Thread jetzt gerne archivieren - hast Du dagegen Einwände? In der Diskussion haben sich ja zu jeder Deiner Thesen Aspekte ergeben, die weiter diskussionswürdig sind. Bei Bedarf könnten also neue Threads eröffnet und mit diesem hier verlinkt werden.

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