Im Thread um die neusten Fehltritte unserer Verteidigungsministerin ging es u.a. auch um die Munitionsknappheit der Bundeswehr.
Ich finde, dieses Thema sollte generell mal - gerne in Form eines Experteninterviews - erörtert werden, weil ich das Gefühl habe, dass das Thema in seiner Tiefe medial so gut wie nie erkundet wird. Es wird immer nur im Rahmen des 100-Milliarden-Paketes für die Bundeswehr erwähnt, ohne mal in der Tiefe darauf zu schauen, warum wir so wenig Munition haben und ob das nicht vielleicht sogar sinnvoll war und weiterhin ist.
Hier also meine Position dazu:
Der Ukraine-Krieg zeigt es deutlich: Munition ist im Krieg eine Mangelware. Die Produktionskapazitäten auszubauen, wenn der Krieg ausgebrochen ist, ist kaum möglich. Experten und Verteidigungspolitiker im Bundestag gehen davon aus, dass Deutschland im Ernstfall nur Munition für zwei Tage hat. Der Finanzbedarf, um die Munitionsvorräte auf die von der NATO vorgegebenen 30 Tage auszubauen, beträgt 20 bis 30 Milliarden Euro.
Der Grund, warum die Munitionsvorräte so klein gehalten werden, liegt meines Erachtens in der Wirtschaftlichkeit. Wir haben nur so viel Munition, wie wir in Friedenszeiten im Rahmen von Auslandseinsätzen und Übungen verwenden können. Denn Munition hat eine Haltbarkeit, größere Munition wie Raketen und Bomben bedürfen zudem ständige Instandhaltung. Munitionshersteller geben eine Haltbarkeit von 10 Jahren an. In der politischen Diskussion werden die Folgekosten jedoch kaum berücksichtigt – es ist nicht damit getan, 20 bis 30 Milliarden für neue Munition auszugeben. Der ständige Ersatz ungenutzter Altmunition würde bei einer Haltbarkeit von 10 Jahren jährliche Zusatzkosten in Höhe von 2 bis 3 Milliarden Euro erzeugen – dies entspricht einer Erhöhung des Wehretats um 4 bis 6%.
Was wären jedoch die Folgen, wenn wir die Munitionsvorräte auf NATO-Standard aufstocken würden? Nicht nur kostet die überschüssige, in Friedenszeiten nicht verwendete Munition viel Geld – auch die Entsorgung von Altmunition ist teuer und umweltschädlich. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Munition in der Nord- und Ostsee verkappt. Dadurch ist die gesamte Ostsee bis heute ein Risikogebiet und weist hohe Schadstoffbelastungen auf. Dazu kommt, dass regelmäßig weißer Phosphor an den Stränden angeschwemmt wird, von dem eine hohe Unfallgefahr ausgeht. Eine sichere Entsorgung hingegen ist ausgesprochen teuer – auch, weil verhindert werden muss, dass die Altmunition in die falschen Hände gerät. Das nährt die Befürchtung, dass Altmunition vor Erreichen des Ablaufdatums in Krisengebiete verkauft werden könnte – oder gar ein Einsatz dieser Munition im Rahmen von Auslandseinsätzen als wirtschaftlich erachtet werden könnte. Das Aufstocken der Munitionsvorräte kann deshalb auch zum Kriegsrisiko werden.
Eine wesentliche Aufstockung der Munitionsvorräte bedeutet auch, mehr geeignete und vor allem ständig gesicherte Lagerorte betreiben zu müssen. Auch ist das Risiko von Diebstählen und Unterschlagungen signifikant höher, wenn es mehr Munition gibt, da Diebstähle kleinerer Mengen bei größeren Vorräten weniger stark in’s Gewicht fallen.
Die Munitionsbestände waren seit jeher Gegenstand komplexer Abwägungen – kein europäisches NATO-Mitglied entspricht aktuell der 30-Tage-Vorgabe der NATO. Nur NATO-Beitrittskandidat Finnland erfüllt diese Vorgabe, was in Anbetracht einer 1340 km langen Grenze zu Russland nachvollziehbar ist. In der Friedenszeit zwischen dem Fall der Sowjetunion und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gab es für die anderen europäischen NATO-Staaten keine Notwendigkeit, sich für einen großen Krieg zu rüsten. Hätte man die Munitionsstände zwischen 1990 und 2020 permanent an der 30-Tages-Grenze gehalten, wären dafür hunderte Milliarden an Produktionskosten, Verwaltungskosten und Entsorgungskosten angefallen – Milliarden, die in anderen Bereichen gefehlt hätten.
Die 30-Tage-Vorgabe der NATO ist der Goldstandard, der jedoch zu einem hohen Preis erkauft werden muss. Ob jeder NATO-Staat Munition braucht, um seine gesamten Streitkräfte für 30 Tage unterhalten zu können, muss jedoch hinterfragt werden. Desto stärker die unmittelbare Bedrohungslage ist, desto mehr Munitionsvorräte müssen vorrätig sein. Die Länder an der NATO-Ostflanke, also die baltischen Staaten, Finnland und Polen, sollten daher die 30-Tage-Vorgabe zweifellos erfüllen, schon aus eigenem Interesse. Die anderen NATO-Staaten, die keiner direkten Bedrohung ausgesetzt sind, aber im Bündnisfall zum Beistand verpflichtet wären – darunter auch Deutschland – würden auch in einem Bündnisfall nicht ihre gesamten Streitkräfte in den Krieg entsenden. Die 30-Tage-Munitionsvorgabe ist hier nur für die Teile der Streitkräfte sinnvoll, die in einem Bündnisfall zum Einsatz kommen würden, nicht jedoch für die gesamte Bundeswehr.