Migration: die Situation in den Herkunftsländern

Es stimmt, dass Deutschland auf Arbeitskräfte (bewusst kalt formuliert) angewiesen ist. Das hat es mit zahlreichen anderen Industrienationen gemein.

Nun frage ich mich, was es insbesondere für ärmere Herkunftsländer bedeutet, wenn von dort junge, gesunde, qualifizierte Menschen „abgesaugt“ werden. Wie wirkt sich das mittel- bis langfristig auf die Wirtschafts- und Sozialsysteme aus? Wie auf Entwicklungschancen und Möglichkeiten in der Zukunft?

Kann es nicht sein, dass diese Form der Migration eine neue Form von Raubbau an Ressourcen anderer Länder darstellt, der diese Länder wieder vor große Probleme stellen wird?

Das soll keine Polemik sein, sondern eine ernsthafte Frage nach evtl. Auswirkungen über unseren Tellerrand hinaus, für die mir der Weitblick fehlt.

Das wird klassischerweise unter dem Begriff „Brain Drain“ diskutiert, wenn es sich bei den abgeworbenen Arbeitskräften um gut ausgebildete Fachkräfte handelt, die das Herkunftsland eigentlich selbst bräuchte.

Und ja, das ist ein massives Problem, für das es faire Lösungen braucht. Diskutiert werden gerne Lösungen, die in die Richtung gehen, dass der Aufnahmestaat dem Herkunftsstaat z.B. ein bis fünf Jahresgehälter der Fachkraft (im Aufnahmestaat!) zahlen muss. Ob das umsetzbar ist, ist fraglich. Noch fraglicher ist, ob das genügt, denn das „Potential“ an „MINT-Fachkräften“ dürfte in jedem Land begrenzt sein, sodass in jedem Fall eine nicht durch Geld ausgleichbare Ressource übertragen wird.

Das ist eine sehr gute Frage. Ich bin in dem Thema keine Expertin aber ich habe mal gehört, dass viele Länder nichts dagegen haben denn diese Auswanderer viel Geld ins Land bringen, da sie ihren Familien Geld senden. Es gibt Länder, wo dieses Geld schon einen relevanten Teil deren Einnahmen sind. Ich sehe aber 2 Szenarien: Leute die ins Ausland gehen, weil sie sich diese Lebenserfahrung wünschen und Leute, die das tun, weil sie aus dem Lebensbedingungen in deren Herkuftsländer weg wollen (aber eingentlich nicht auswanderen möchten, sonder sie fühlen sich dazu fast gezwungen). Bei der Entwicklung staatlicher Politiken ist diese Unterscheidung natürlich nicht möglich, aber vom ethischen Standpunkt aus gesehen gibt es einen Unterschied. Ich glaube, dass es am Ende keine andere Möglichkeit gibt, als den individuellen Willen der Menschen zu akzeptieren. Aber ich verstehe die Frage, und ich denke, sie ist sehr berechtigt. Tatsächlich habe ich persönlich darüber in Bezug auf mein eigenes Herkunftsland nachgedacht, wo die Bildung (einschließlich der Hochschulbildung) öffentlich und kostenlos ist. Und in vielen Fällen, wie in meinem, hat mein Land die Ausbildung einer Person finanziert, die jetzt in einem anderen Land arbeitet.

Der Punkt mit dem Geld, das in’s Herkunftsland geht, ist durchaus auch relevant. Tatsächlich kann ein in Deutschland arbeitender Ingenieur oder ITler unglaubliche Geldmengen zur Unterstützung seiner Familie im Herkunftsland aufbringen, selbst ein in Deutschland nur knapp über dem Mindestlohn verdienender Mensch kann oft ein ganzes übliches Monatsgehalt seines Herkunftslandes an seine Familie leisten (es gibt einfach noch unglaublich viele Länder, in denen das übliche Monatsgehalt unter 300 Euro liegt).

Ich denke es herrscht Einigkeit, dass Migration (auch Fachkräfte-Migration) durchaus erwünscht ist, aber eben tatsächlich aufgepasst werden muss, dass dadurch keine Ausnutzungsverhältnisse entstehen - weder im Kleinen (daher der Migrant wird vom Arbeitgeber ausgenutzt), noch im Großen (dh. ein Staat zahlt für die Ausbildung seiner Bürger und ein anderer Staat wirbt die ausgebildeten Menschen ab). In welcher Form und in welchem Ausmaß Ausgleiche stattfinden müssen ist natürlich ein komplexer, internationaler Aushandlungsprozess, für den es im Idealfall ein internationales Übereinkommen geben sollte.

Der marokkanische König ist die arme Jungs, die sonst in den Bidonvilles von Casablanca (und El Jadida) für Krawall sorgen würden, eher gerne los.

Befürworter von offenen Grenzen argumentieren vor allem damit, dass Leute zu ermöglichen mit den Füßen zu wählen, eine große demokratisierende Faktor ist.

Leute zu zwingen, sich lebenslang zu unterwerfen, an dem Hegemon, wo sie zufällig geboren sind, ist eine pre-moderne Vorstellung von wie eine Gesellschaft eingerichtet werden soll.

(Kommas vom Moderator im Interesse der Lesbarkeit)

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Und nutzt diese Jungs auch gerne mal als politische Waffe, wie vor ein paar Jahren gegen Spanien.

In ihren Herkunftsländern sind wegziehende Menschen eher ein stabilisierender Faktor, da Unzufriedenheit so gewissermaßen ausgelagert wird und nicht für Veränderungen sorgt.

Siehe oben. Veränderungen sind selten aus der Ferne zu erreichen. Es gibt im übrigen auch kein Recht sich dort niederzulassen, wo man eben möchte.

Im Mittelalter wurde man als Hörige geboren und ist oft auch am gleichen Ort gestorben. Das war nicht wirklich gut zu nennen.

Man muss nicht alle aufnehmen. Nur die guten. Es steht die Herkunftsländer frei die Umstände so zu gestalten dass die gebildete Leute bleiben möchten.

Das fand ich schon immer merkwürdig dass linke Menschen es den Diktaturen in anderen Ländern so einfach machen um ihre revolutionäre Energie los zu werden.

Hat jemand konkrete Zahlen zum „Brain Drain“ gefunden? Ich habe den Verdacht, dass das Thema aus ökonomischer Perspektive überschätzt wird.
Ich meine damit, dass hochgebildete Menschen eher aus politischen und nicht aus ökonomischen Gründen ihr Land verlassen. Zumindest mit Deutschland als Ziel.

Ich betreue Ukrainische Flüchtlinge, darunter ist eine Kinderärztin und ihr Mann ist IT-ler, mit denen habe ich mich angefreundet. Die sind Ende 30ig und hatten sich in der Ukraine schon drei Wohnungen, ein SUV und einen jährlichen Urlaub in Ägypten erarbeitet. Die wären ohne Krieg nie hierher gekommen, um hier wieder bei Null anzufangen.

Ein Kollege bei der Arbeit ist Dr.-Ing. und seine Eltern hatten eine Baufirma in Syrien. Der wäre unter normalen Umständen auch nicht gekommen.

Ich glaube was ich eigentlich sagen will, hochgebildete Leute können sich oft auch in ihrer Heimat etwas aufbauen, wenn es um’s reine Geld (nicht politische Repression) geht haben sie Auswandern meist nicht nötig.

Und leider muss man aus Deutscher Perspektive sagen, wem es um‘s reine Geld geht, der kommt nicht nach Deutschland.

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Bei diesem Thema bin ich extrem zwiegespalten.

Auf der einen Seite, kann ich mir durchaus vorstellen, dass Brain Drain ein ernsthaftes Problem für Entwicklungsländer sein könnte. Dass man das als Ausbeutungspolitik sehen könnte, kann ich auch verstehen.

Auf der anderen Seite bin ich selbst Immigrant und frage mich, wie die Wünsche und Träume der Person, die die extrem schwere Entscheidung trifft, das Herkunftsland zu verlassen, mit eingerechnet werden können. Im Land meiner Geburt hab ich mich immer fremd gefühlt, und sobald ich es als ernsthafte Option wahrgenommen hatte, wollte ich weg. Daher habe ich durchaus viel Verständnis für diejenigen, die auch einfach weg wollen – egal ob das mit kulturellen, sicherheits, ökonomischen, oder anderen Gründen zu tun hat.

Ich sehe auch das Potential, dieses Thema als Strawman zu benutzen, um von anderen ernsthaften Diskussionen, zB von der Vereinfachung von Zuwanderung in Deutschland, abzulenken. Es gibt ja nicht wenige, die sagen, dass sie pro-Migration sind, denen aber in der Stunde der Wahrheit die Migration nicht wirklich gefällt.

Tja. Schwieriges Thema halt.

Es muss was besseres geben als das, oder? Das klingt für mich nicht wirklich nach nem Austausch, sondern eher so, „schlechtes Gewissen wegzahlen“.

Nicht alle bleiben in dem Land, in das sie auswandern. Habe eine Doku über Afrika gesehen, wo Leute in die Niederlande eingewandert sind, dort Erfahrung, Geld und Kontakte gesammelt haben, um als Unternehmer zurückzukehren. Sie haben nun den Platz eingenommen, den westliche Firmen inne hatten, verdienen gut bei niedrigen Lebenshaltungskosten und der Ertrag bleibt im Land.

So wie ich es verstehe, redet man von sogenannten „push“- und „pull“-Gründen, also warum man sich wie vom Herkunftsland weggeschoben oder zum anderen Land wie hingezogen anfühlt. Die Push-Gründen scheinen für die erste Emigration viel wichtiger zu sein. In meinem persönlichen Fall war’s ganz genau so: die Push-Gründen waren nötig damit ich überhaupt erst auf die Idee kam, wegzuziehen, und die Pull-Gründen haben nur das Zielland bestimmt.

Die These dass ökonomische Gründe in Entwicklungsländern weniger wichtig sind als zB politische unterstützt die Forschung durchaus nicht. Ein paar Abstracts:

‘Further studies’ was the major reason for emigration, followed by better career prospects… If their demands are adequately met, the majority of the expatriates were willing to return to Sri Lanka. link

The results revealed the main reasons for emigration according to push and pull factors related
to economic issues… However, non-economic reasons, particularly having relatives living abroad, influence the decision to migrate as well. link

Primary findings were that significant economic hardship and lack of opportunity motivated emigrants’ decisions to go to the U.S… Half of the participants indicated that they would not have emigrated if development programs had offered educational opportunities and jobs. link

The 2 most important factors behind this intent as pointed out by the students are poor salary structure… and poor quality of training in the home country… Other interesting factors… were the poor work environment and lack of rigor in teaching of residents in domestic university hospitals. link

Analysis of data have showed that… the main migration motivations identified are economic reasons [and] other factors affecting migration decision depend on country analysed. link

Push factors motivating migration most frequently include dissatisfaction with remuneration packages and working conditions, high levels of crime and violence, political instability, lack of future prospects, HIV/AIDS and a decline in education systems. link

Das kommt stark darauf an, wo man herkommt. Im Vergleich zu den USA, zum Beispiel, sind Gehalte bei ledigen Personen deutlich niedriger, auch wenn man das ganze Sozialsystem mit einrechnet. Als kleine Anekdote, als ich von den USA nach Berlin kam, musste ich mein verfügbares Einkommen – also nicht nur Netto, sondern mit KV, 401k, usw usv in den USA auch davon enthalten – ungefähr halbieren lassen. Bei meinem Arbeitskollegen aus Pakistan sieht’s aber deutlich anders aus.

Jein. Man sieht jetzt zB dass fast alle junge gebildete Leute (Ärzte und Ingenieuren voran) in der Türkei nach Deutschland ziehen wollen.

Rein monetär wird deren Lage vielleicht gar nicht so viel besser werden (vor allem wegen den katastrophalen Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt) aber was ich von denen höre an Gründen:

  • Die Arbeitsbedingungen sind hier unglaublich viel besser als in der Türkei. Wer dort ein Gehalt kriegt muss sich dafür bis zum Limit ausnutzen lassen.
  • Es gibt mehr Jobs vor allem auch in den Regionen.
  • Man kann hier bezahlbar eine Flasche Wein kaufen (in der Türkei von der islamitischen Regierung weitgehend verteuert).
  • Man kann hier Festivals und Clubs besuchen (von der Regierung meistens verboten).
  • Frauen die kein Kopftuch tragen wollen müssen hier weniger Angst haben belästigt und misshandelt zu werden.
  • Leute mit Regierungskontakten können in der Türkei tun was sie wollen ohne rechtliche Folgen.

Also ja, für nur ein bisschen mehr Geld kommt niemand aber die Leute haben das Gefühl dass es in der Türkei für sie keine Zukunft gibt.

Ich arbeite an einer der 135 Deutschen Auslandsschulen von denen sich sehr viele auf dem südamerikanischen Kontinent befinden, durchaus auch in weniger entwickelten Ländern wie Bolivien, Paraguay, Ecuador, Peru, Venezuela usw. Ich kann berichten, dass in diesen Ländern das Bevölkerungswachstum das lokale Arbeitsmarkpotenzial oft um ein Vielfaches übersteigt. Selbst gut ausgebildete junge Leute finden häufig keine angemessen bezahlten Jobs, einfach weil es so viele junge Leute sind. Wenn man es also schafft, über bestehende Netzwerke, beispielsweise die Deutschen Auslandsschulen und die PASCH-Schulen erste Sprachkenntnisse und Unterstützung für eine eventuelle Auswanderung nach Deutschland anzubieten, ist das auch für den lokalen Arbeitsmarkt in vielen der Länder eher sogar eine Entlastung. Außerdem heißt eine Auswanderung nach Deutschland ja auch häufig nicht eine Auswanderung für immer, sondern in vielen Fällen für eine gewisse Zeit. Wenn dann gut qualifizierte Arbeitskräfte aus Deutschland nach 15 oder 20 Jahren auf den südamerikanischen Arbeitsmarkt zurückkehren, profitieren beide Arbeitsmärkte davon. Mit Südamerika hat man kulturell und religiös sicherlich auch weniger Unterschiede als mit vielen anderen Regionen der Erde.

Leider werden den o. g. Netzwerken derzeit drastisch die Mittel gekürzt.

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