LdN330: Ein Beispiel für unfaire Klassenjustiz

Hallo!

Vielen Dank für das tolle Interview - traurigerweise kannte ich die geschilderten Probleme sehr gut, denn eine Bekannte von mir hat genau das erlebt. Ich will hier ihren Fall kurz schildern, für alle, die noch ein anschauliches Beispiel wollen - und außerdem einmal in die Runde fragen, ob irgendjemand eine Idee hat, wie man ihr helfen kann?
Wir haben eine Spendenaktion gestartet, aber darüber ist kein Geld zusammengekommen (das Problem war zum einen, dass wir keine Medien-Erfahrung haben und zum anderen, dass meine Bekannte sich schämt und nicht offen auftreten wollte). Das ganze ist inzwischen ein paar Jahre her. Aber ich bin dankbar für jeden Tipp, was wir hätten machen können!
Ich habe den Namen geändert.

Hadia besucht seit 2018 eine Sprachschule, um Deutsch zu lernen. Sie hatte gehört, dass Schüler ein vergünstigtes Hessenticket bekommen, wenn Sie das bei einer Berufsschule beantragen. Deshalb hat sie einen Antrag gestellt und die Berufsschule hat ihr das vergünstigte Schülerticket ausgestellt. Gezahlt hat die Sprachschule.
Als sie das Ticket 2019 verlängern wollte, wurde ihr gesagt, dass dies nicht möglich sei – sie sei ja nur „Sprachschülerin“ und nicht Schülerin an der Berufsschule.
Hadia argumentierte überrascht: „Aber 2018 war es doch möglich!“
Die Reaktion darauf war: „Nein, das kann nicht möglich gewesen sein“.
Als Hadia daraufhin ihr unterschriebenes und gestempeltes Ticket aus 2018 hervorholte, wurde sie der Urkundenfälschung angeklagt.

Hadia hat einen Fehler gemacht und gibt das auch ganz offen zu: Sie hat das Schülerticket beantragt, weil sie dachte, sie hätte als Sprachschülerin ein Anrecht auf das vergünstigte Ticket. Es war ein ehrlicher, sehr nachvollziehbarer Fehler. Aber sie hat keine Urkunde gefälscht! Das Ticket wurde ihr fälschlicherweise ausgestellt - das ist nicht ihre Schuld und auch keine Fälschung!
Leider sprach Hadia noch nicht so gut Deutsch und legte deshalb keinen Einspruch gegen die Anklage ein. Das war 2019. Wie ihr geschildert habt, wurde sie darauf für schuldig erklärt - ohne dass sie überhaupt verstanden hat, dass sie angeklagt wurde.
Zwei Jahre später (!) bekommt Hadie einen Brief und muss eine Geldstraße von 300 Euro, eine Nachzahlung für das Ticket in Höhe von 2.205 Euro, sowie die Prozesskosten zahlen!

Das ist eine absurde Situation, aus mehreren Gründen:

  • Hadia hatte nicht ausreichend Deutschkenntnisse, um die Anklage zu verstehen.
  • Sie wusste nicht, dass sie – obwohl Sprachschülerin – kein Recht auf das vergünstigte Schülerticket hat.
  • Das Schülerticket wurde ihr genehmigt und von der Sprachschule gezahlt – trotzdem wird ihr jetzt Urkundenfälschung vorgeworfen!

Für eine junge Mutter ist das eine ungeheure Summe.

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Ein Fall, der traurig macht … nach deiner Schilderung spricht alles dafür, dass sie mit einer ordentlichen Verteidigung freigesprochen worden wäre.

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Liebe Lage,
vielen Dank für das interessante Interview! Ihr habt mir, als Mitarbeiter der Justiz aus dem Herzen gesprochen. An mehreren Amtsgerichten und Staatsanwaltschaft habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergeht und diese Arbeit verlassen. Gerade weil ich das Gefühl hatte, dass aus welchen Umständen auch immer man sich nicht mit den Problemen der Angeklagten in der Hauptverhandlung (Hv) auseinandersetzen möchte. Leider kenne ich da viele Beispiele. Auch das System der Strafbefehle (SB) ist in der derzeit ausgeübten Praxis sehr fragwürdig.
Ich möchte jedoch anmahnen, dass ich persönlich die Darstellung der Vollstreckung so verkürzt empfinde, dass ich den Eindruck sogar als falsch empfinde. Zum einen wird ein rechtskräftiges Urteil/ SB vollstreckt, so dass es in der HV oder im SB ein rechtliches Gehör gab. Natürlich absolut diskutabel! Aber es wurde dargestellt, als würden " Verwaltungsbeamte" (dazu gleich mehr) einfach willkürlich entscheiden und die Urteilsfindung überspringen.
Zum Thema Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger war ich wirklich schockiert, da diese zweite Säule unserer dritten Gewalt so verkürzt dargestellt wurde. Zum einen sind es natürlich Fachjuristen, die übrigens ihr duales Studium größtenteils am Amtsgericht absolvieren, und somit keine stumpfen Verwaltungsbeamte, die sich keine Gedanken machen. Zum anderen sind die Rechtspflegerinnen auch nicht aus der Judikativen ausgeschlossen, führen sogar ihre eigenen Verfahren (keine Strafverfahren) unabhängig.
Abschließend möchte ich zu bedenken geben, dass die Prozesskostenhilfe nicht einfach bewilligt wird. Es darf keine Mutwilligkeit vorliegen.
Velen Dank und einen schönen Tag. Und vielen Dank auch für viele tolle Lagen.

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Ich war auch gelinde gesagt erschüttert darüber wie Rechtspfleger dargestellt worden sind, zumal Ulf ja Richter ist und es besser wissen müsste.

Weder sind das Verwaltungsbeamte noch gehören sie nicht zur Justiz. Es sind Beamte im gehobenen Dienst in der Justiz (studierte Fachjuristen, meist bei den Amtsgerichten zu finden), die zum Großteil richterliche Aufgaben übernehmen, die ihnen per Rechtspflegergesetz übertragen worden sind.

Und das nicht als Gehilfen, Assistenten oder sonstige Hilfspersonen sondern eigenständig und vor allem sachlich unabhängig, was es sonst im öffentlichen Dienst nirgendwo gibt (also niemand kann vorschreiben wie man zu entscheiden hat).

Auch die erwähnten Amtsanwälte sind Rechtspfleger mit Zusatzqualifikation nur mal am Rande.
Bei den Staatsanwaltschaften ist es zugegebenermaßen etwas anders, da die Rechtspfleger dort nicht unabhängig sind (die eine Ausnahme) aber die fehlerhafte Darstellung aus einer Position heraus ist unangebracht.

Das wäre das Gleiche, als wenn man Richter anhand einer speziellen Verwendung so beschreibt: „Das ist ein Typ, der liest Verträge durch und trägt das in eine Datenbank ein.“ (ein Richter im Handelsregister B - in Berlin eine normale Verwendung am AG).

Ich habe es zwar ähnlich empfunden, da ich selbst Rechtspflegerin bin. Aber so tragisch fand ich die Darstellung letzlich auch nicht.
Damit, das unseren Beruf nur die Menschen kennen, die schon mit uns zu tun hatten, müssen wir wohl leben. :wink:

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Ich fand es tragisch aus der Berufsperspektive heraus. Die Justiz ist schon extrem unterbesetzt und unattraktiv. Aber dann einen der besten Berufe im öD madig zu reden (quasi selbstständig im Gericht [zumindest an meinem AG]) - den eh schon niemand kennt - das muss dann wirklich nicht sein.

Wer soll sich denn da jemals bewerben, wenn das so dargestellt wird in einem Podcast mit hoher Reichweite auch bei Jüngeren, die vom Inhalt her da potentiell perfekt zu passen würden? Und das von jemanden, der selbst dort gearbeitet hat. Das hat mich primär gestört.

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