LdN320: Folgen der verzögerten Panzerlieferungen

An einigen Stellen hier im Forum habe ich als Kommentar zur Folge 320 einige Kritik an der Aussage von Philip und Ulf gelesen, Scholz hätte durch sein Zögern „tausende“ tote ukrainische Soldaten zu verantworten. Nun kann man darüber streiten, ob die Bezifferung durch Ulf und Philip korrekt war. Auf die Monate gerechnet (erstmals wurde im Juni 2022 der Wunsch nach Panzern geäußert), ist die Aussage meiner Ansicht nach korrekt, bzw. müsste man genauer sagen „mit-verantwortet“, wegen nicht rechtzeitiger Hilfe. Hauptverantwortlich für jeden Kriegstoten in der Ukraine ist natürlich die russische Führung.
Mein Eindruck ist, dass sich viele hier gegen die Vorstellung wehren, eine verzögerte Waffenlieferung hätte keine Verschlechterung der Lage für die Ukraine zur Folge. Verzögerung und Zurückhaltung immer und stets mit de-eskalierendem Verhalten gleichzusetzen ist irreführend und man kann vor diesem Hintergrund dem Bundeskanzler durchaus diese Irreführung zum Vorwurf machen, da er sein zögerndes Handeln von der Öffentlichkeit m.E. als de-eskalierend verstanden wissen will (man weiß es ja leider nicht so genau).
Ich würde an dieser Stelle den Punkt noch einmal stark machen wollen und gerne zur Diskussion stellen, dass wir uns klar machen sollten, dass auch eine verzögerte oder behutsame Waffenlieferung viele, unter Umständen sogar mehr Menschenleben kostet. Wenn man einer Analyse des ISW folgt, dann hat die verzögerte Panzerlieferung die Ukraine einige gute offensive Gelegenheiten gekostet, den Krieg zu verkürzen und die ukrainische Armee in den verlustreichen Positionskampf gezwungen. Es mag einerseits beruhigend sein, sich auf die Lesart des Regierungshandelns von Olaf Scholz einzulassen, dass er sich nach besten Kräften bemüht, mit Besonnenheit den Konflikt möglichst klein zu halten. Es ist aber einfach nur die halbe Wahrheit, wenn wir uns auf dem Gedanken ausruhen, mit verzögerten Waffenlieferungen könnten wir die Gewalt eindämmen oder es würde weniger Tote geben.
Hier die Analyse des ISW (hab ich an anderer Stelle schon einmal gepostet).

Das ISW bezieht sich hier nicht auf Deutschland speziell sondern auf Verzögerungen bei westlichen Waffenlieferungen allgemein und welche Auswirkungen das auf den Kriegsverlauf hatte. Hier haben sie auch eine entsprechende Grafik dazu:

Ich kann die Lektüre nur empfehlen für all diejenigen, die sich für den Zusammenhang zwischen Waffenlieferungen, Kriegsverlauf und Verzögerungen bei der Lieferung interessieren. Hier ein paar Schlüsselzitate:

The Russians have taken advantage of these delays and failures to benefit from the windows of vulnerability their own defeats and incompetence produced by mobilizing manpower and equipment and starting to rationalize their own forces.
[…]
The continual delays in providing Western materiel when it became apparent that it is or will soon be needed have thus contributed to the protraction of the conflict.
[…]
Recent Western commitments to provide Ukraine with the tanks and armored vehicles it requires for further counter-offensive operations are important, but the delays in making those commitments may have cost Ukraine a window of opportunity for a counter-offensive this winter.
[…]
The West will need to avoid drawing the erroneous conclusion that future Ukrainian counter-offensives are impossible based on a timeline imposed by the West’s own delays in providing necessary material and meteorological conditions.

Die Analyse des ISW unterstreicht nochmal die Aussage in der LdN 320 über den Preis des Nicht-Handelns und führt die Folgen recht deutlich vor Augen.

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Die Ukraine betont ja auch immer wieder, dass jede Verzögerung der Waffenlieferungen mit ukrainischen Leben bezahlt wird. Das kann man leider definitiv so sagen. Selbstverständlich hat der Westen keine „Verpflichtung“ zur Waffenlieferung und damit auch keine direkte „Schuld“ an den Konsequenzen später Lieferungen, wobei das die juristische Betrachtung ist. Moralisch kann man natürlich von einer Schuld sprechen…

Die große Frage ist tatsächlich, wie sich der Konflikt entwickelt hätte, wenn der Westen unmittelbar nach der gescheiterten Großoffensive der Russen im April 2022 entschlossen hätte, der Ukraine alles zu liefern, was lieferbar ist - und zwar so schnell wie möglich. Es ist gut möglich, dass der Krieg dann jetzt schon vorbei wäre, weil die Gegenoffensiven der Ukraine zumindest die Ostukraine hätte überrennen können (die Krim wohl eher nicht…).

Das Problem ist und bleibt, dass wir der Ukraine nur das liefern, was unbedingt nötig ist, um einen Sieg Russlands zu verhindern. Wir liefern weiterhin nicht das, was die Ukraine bräuchte, um den Krieg tatsächlich zu gewinnen. Wir haben weiterhin andere Prioritäten (z.B. die Einsatzbereitschaft der eigenen Armeen hoch zu halten, obwohl außer Russland kein Feind ersichtlich ist - oder den Schutz unserer Technologie im Hinblick auf die Abrams-Panzerung, oder die „Deeskalation“, indem der Ukraine keine Waffen geliefert werden, die genutzt werden könnten, die Nachschubrouten in Russland zu zerstören), die uns wichtiger sind als der Sieg der Ukraine. Und wie gesagt: Das halte ich für falsch.

Tyrannen wie Putin kann man nur mit einer maximalen Gegenwehr begegnen. So lange Putin denkt, dass er den Konflikt gewinnen kann, wird er weiter machen, so lange er denkt, dass er mit Atomdrohungen die Unterstützung der Ukraine reduzieren kann, wird er auch das tun. Ich sagen weiterhin: Russland sollte viel mehr Angst vor einem direkten Kriegseintritt der NATO haben, als die NATO Angst davor haben sollte. Eben weil die Kräfteverhältnisse klar zu Gunsten der NATO stehen. Dass wir uns dennoch so von Russland unter Druck setzen lassen ist einfach albern. Nicht Russland sollte „rote Linien“ ziehen, sondern die NATO.

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Kommt drauf an, was du als Eskalation verstehst.

Eskalation, die
1.der jeweiligen Notwendigkeit angepasste allmähliche Steigerung, Verschärfung, insbesondere beim Einsatz militärischer oder politischer Mittel
[…]
2.[unkontrollierte] Verschärfung, Ausweitung eines Konflikts

Was sonst soll die schrittweise Erhöhung der militärischen Schlagkraft einer Konfliktpartei sein, wenn nicht eine Eskalation? Freilich ist damit nicht automatisch der Umkehrschluss wahr, dass ein Verzicht auf (oder eher: Verschleppung der) Unterstützung eine De-Eskalation darstellen würde. Es ist aber zumindest wohl eskalationsverzögernd. Unsererseits wenigstens, Russland hält sich unterdessen vermutlich nicht mit diesen Überlegungen auf. Ich persönlich gestehe Scholz diese Ehrenrettung allerdings ebenfalls nicht zu. Wenn er seine Handlungen in diesem Sinne positiv verstanden wissen will, soll er sie bitteschön auch (so) begründen.

Das ist die falsche Ebene. In diesem Konflikt hat keine Partei die Absicht Menschenleben zu schonen, sondern unter Einsatz von ihnen - und zwar möglichst wenigen eigenen - den Sieg für die „richtige“ Seite zu erringen. Wenn die jeweilige Staatsgewalt ihre Subjekte zum töten und getötet werden abkommandiert, dann kostet das ganz offensichtlich Menschenleben statt sie zu retten. An dieser Grundsätzlichkeit ändert auch überlegene westliche Waffentechnologie nichts - jedenfalls dann wenn man ganz großzügig auch russische Leben als Menschenleben ansieht. Solche Mutmaßungen stellen den real erlittenen Verlusten dann eine fiktive Einsparung gegenüber, die sich auf alle möglichen Annahmen stützen. Die größte von allen ist dabei, dass dann ja der Krieg vorbei wäre, und wir in Summe ganz menschenfreundlich Tote gespart hätten. Dabei ist das in der Realität von so vielen Wenn’s und Aber’s abhängig. Wie du sagst: unter Umständen. Unter anderen Umständen vielleicht nicht. Da finde ich es - wenn es denn unbedingt sein muss - schon sinnvoller von der Bewahrung von

zu sprechen. Das ist einfach ehrlicher, und immerhin aus anderen Gründen ein verfolgenswertes Ziel.