Ich halte inzwischen DIrektmandate im deutschen politischen System für komplett unnötig. Viele oben angebrachte Argumente für DirektkandidatInnen, insbesondere eine vermeindliche Unabhängigkeit der KandidatInnen, die auch einmal gegen die Parteilinie mit dem Kopf durch die Wand gehen, mögen in manchen Ländern eine Rolle spielen. Allerdings haben wir in Deutschland ein anderes politisches System mit einer anderen politischen Kultur.
Ich verweise auf drei Aspekte:
-
Primaries. In den Vereinigten Staaten werden KandidatInnen einer Partei (relativ) basisdemokratisch und öffentlich in ihrem Wahlkreis gewählt. Das bevorzugt starke DirektkandidatInnen, die ihren eigenen Kopf durchsetzen können. In Deutschland hingegen muss man in der eigenen Partei um das Direktmandat kämpfen. Damit werden eher brave ParteisoldatInnen für Direktmandate nominiert und Widerstand gegen die Fraktionsdisziplin wird eher bestraft (Ströbele ist eine sehr seltene Ausnahme und für einen Ströbele gab es 297 brave ParteisoldatInnen).
-
Fraktionsdisziplin durch Koalitionstradition. In D ist ein elementarer Bestandteil politischer Kultur, dass Absprachen in Koalitionen eingehalten werden. Das legt DirektkandidatInnen Fußfesseln an. Szenen, wie man sie aus UK oder den USA kennt, wo ein Abgeordneter wie ein Löwe gegen eine Atommüllendlager oder gegen die Schließung einer Militärbasis in seinem Wahlkreis kämpft, werden wir in Deutschland nicht erleben.
-
Eine international vergleichweise schwache Exekutive. In den USA und in Frankreich ist der Präsident direkt gewählt und es ist nicht ungewöhnlich, dass Exekutive und Parlamentsmehrheit unterschiedlichen politischen Richtungen angehören. In UK sind Misstrauensvoten aufgrund von Formalitäten (1922 Committee bei der konservativen Partei, formelle Ernennung durch den König) komplizierter. In Italien hat der Präsident mehr MItspracherechte bei der Ernennung der Regierung. Das schafft in diesen Ländern Freiräume für Abgeordnete, die über Eskalationsstufen verfügen, die in Deutschland fast sofort zum Fall der Regierung führen.
Ich finde unser sehr auf Ausgleich und Kompromiss ausgelegtes System deshalb nicht schlecht, aber wir sollten Direktmandaten nicht Cargocult-artig Eigenschaften zuschreiben, die sie in anderen politischen Systemen haben.
Dann wurde oben auch erwähnt, dass der derzeitige Reformentwurf zunächst einmal junge und weibliche KandidatInnen, die oft auf Listen weiter hinten stünden, benachteiligen würde. Ich würde entgegnen, dass gerade das System der Direktmandate junge und weibliche KandidatInnen benachteiligt. Wenn es im Bezirk nur eine vielversprechendes DIrektmandat gibt, dann wird sich das im Zweifelsfall der alte weiße Mann holen „weil der das ja schon mehrmals erfolgreich verteidigt hat“. Ganz konkret kann man das bei unserer bayerischen Lieblingspartei beobachten, die zur letzten Bundestagswahl mit einer paritätisch besetzten Landesliste angetreten ist und dennoch 32 Männer und 13 Frauen (Frauenanteil von 28%) in den Bundestag entsendet hat.
Wer also etwas für einen höheren Frauenanteil im Bundestag tun möchte, sollte Direktmandate abschaffen.
Zuletzt noch möchte ich auf die Gefahr hin, zum ceterum-censeo-Sager zu werden, noch einmal daran erinnern, dass es bei der Debatte ehrlicherweise nicht um Vor- und Nachteile von DirektkandidatInnen geht: