LdN312 Koalitionsvereinbarungen zum Abstimmungsverhalten im Bundesrat

Gut, dass Ihr Euch des Themas der faktischen Sperrminorität der Bundesopposition bei Zustimmungsgesetzen annehmt. Ich bezweifle allerdings, ob Euer Vorschlag, dass die Koalitionsvereinbarungen in den Ländern keine Enthaltungsregelung für das Abstimmungsverhalten im Bundesrat mehr enthalten sollen, wirklich zielführend ist. Ich versuche, die Argumente mal kurz zusammenzufassen:

  • Als Bremse wirkt die „Enthaltungsvereinbarung“ ohnehin nur bei Zustimmungsgesetzen (wohl um die 40 % der Gesetze). Bei Einspruchsgesetzen erleichtert sie der Koalition in Berlin faktisch das Regieren, da Einsprüche des Bundesrates kaum mehr möglich sind (dass der Bundestag den Einspruch mit „Kanzler:innenmehrheit“ ohnehin überstimmen kann, lassen wir mal außen vor – es ist in jedem Fall eine Verfahrenserleichterung.
  • Wenn, wie von Euch propagiert, Koalitionsvereinbarungen in den Ländern eine „Zustimmungsvermutung“ vorsähen, befürchte ich, dass die von Euch erwartete Konzentration auf die Vertretung von Länderinteressen nicht einträte. Statt dessen würden in Bund wie Land mitregierende Parteien enormen Druck ausgesetzt, auch auf Landesebene für die Unterstützung der Bundespolitik zu sorgen. Ich befürchte, dass auch dann, die Belange der Länder in der Regel keine Rolle spielen würden („Der Kanzler kann sich noch nicht mal, bei der SPD MeckPomm durchsetzen!“).

Eine Lösung kann m.E. deshalb nicht in Koalitionsvereinbarungen erfolgen, sondern erfordert eine Reform unserer Verfassungsordnung:

  1. Reduzierung der Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze: Das bedeutet im Ergebnis, die Kompetenzen von Bund und Länder deutlich zu trennen und auch den Finanzverbund deutlich zurückzubauen. Das ist, wie der „Erfolg“ von Föderalismusreformen zeigt, allerdings höchst unwahrscheinlich und im „verkappten Einheitsstaat“ (Heidrun Abromeit) BRD letztlich wohl auch von den Wenigsten gewünscht.

  2. Umwandlung des Bundesrates von einer Vertretung der Landesregierungen in eine Vertretung der Länderparlamente (wie beim österreichischen Bundesrat). Die Pflicht zur einheitlichen Stimmabgabe wäre durch die Umwandlung in eine echte Parlamentskammer dann aufgehoben und zugleich würde sich der parteipolitische „Verzerrungseffekt“ durch die Regierungsbildung in den Ländern möglicherweise abschwächen. Zusätzlich könnte dies vielleicht der zunehmenden Auszehrung der Landeskompetenzen entgegenwirken, da aktuell zu beobachten ist, dass Landesregierungen der Kompetenzverlagerung an den Bund doch recht oft zustimmen, da der Verlust einer eigenständigen Politikgestaltung im Land durch den Zuwachs an „Mitdirektionskompetenz“ (Konrad Hesse) auf Bundesebene entschädigt wird.

  3. Beibehaltung der aktuellen Vertretung der Länder durch die Landesregierungen bei gleichzeitiger Abschaffung der einheitlichen Stimmabgabe: In einem solchen Falle entfiele die Notwendigkeit, sich auf ein einheitlichen Abstimmungsverhalten in den Landeskoalitionen zu einigen. Die Koalitionsvereinbarungen auf Landesebene hätten dann vorzusehen, wie die Stimmrechte der drei bis sechs Bundesratsvertreter:innen auf die Koalitionspartnerinnen zu verteilen wären.

Konsequent wäre die Umsetzung von Vorschlag 1 oder 2. Am wenigsten unrealistisch erschient mir eine Umsetzung von Vorschlag 3. Angesichts der großen Aversion der politischen Akteur:innen gegen tiefgreifende institutionelle Reformen, habe ich aber wenig Hoffnung, dass wir das Dilemma der als „Nein“ zählenden Enthaltung „abgeräumt“ bekommen. Zumindest die jeweilige Opposition im Bund hat doch gar kein Interesse daran, auf ihren Zipfel an Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bundespolitik zu verzichten.

Deine Vorschläge haben alle ihre Vorzüge, auch gegenüber dem Vorschlag, den wir in der Lage gemacht haben. Sie teilen aber alle einen Nachteil, den ich als „dealbreaker“ bezeichnen möchte: Sie setzen eine Änderung des Grundgesetzes voraus. Du schreibst richtig:

Deswegen scheinen mir deine Vorschläge letztlich ebenso klug wie akademisch.

Unser Vorschlag hingegen erfordert lediglich eine Änderung der Staatspraxis in den Ländern, also die politische Einsicht, dass eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen von Bund(estagsmehrheit) und Ländern im allseitigen Interesse ist - jedenfalls wenn man nicht nur auf tagesaktuelle Streitigkeiten schaut, sondern auf das Funktionieren unseres politischen Systems insgesamt.

Vielen Dank für das schnelle Feedback. Es absolut korrekt, dass Euer Vorschlag formaleinfacher umzusetzen ist, da er lediglich „Einsicht“ erfordert, aber keine Verfassungsänderung. Manche:r würde jetzt vielleicht argumentieren, auf die Einsichtsfähigkeit von Politiker:innen zu setzen, sei total illusorisch. Diese Auffassung teile ich ausdrücklich nicht. Gleichwohl meine ich, dass meine Vorschläge in der Umsetzung faktisch wahrscheinlicher sind, als Euer Vorschlag:

  • Denn für Euren Vorschlag müsste man in irgendeinem Land anfangen, die Koalitionsvereinbarungen - und damit die Praxis - zu ändern. Ob ein solcher Anfang aber gelingt, halte ich für äußerst zweifelhaft, da irgendeine Partei somit beginnen müsste, ein Blockade- (und damit Macht-) Potential aus der Hand zu geben.
  • Eine Verfassungsänderung hätte dagegen den Vorteil, dass in allen 16 Ländern gleichzeitig die Regelungen geändert werden.

Daher halte ich die Umsetzung meines „akademischen“ Vorschlags (halte ich übrigens nicht für eine ehrverletztende Attribution) für sehr unwahrscheinlich, die Umsetzung Eures aber noch für noch unwahrscheinlicher.

Aber ich lasse mich sehr gerne von der Realität eines Besseren belehren.

Eine Änderung der Staatspraxis in 16 Koalitionsverträgen dürfte eine Weile dauern. Vermutlich werden die Landesregierungen, die derzeit in der Bundesopposition sind, auch kein gesteigertes Interesse daran haben.

Mir kam beim Hören der LdN der Gedanke, dass es evtl. einfacher wäre, die Gesetzgebung dahingehend zu ändern, dass Enthaltungen nicht berücksichtigt werden. Also wenn bei einer Abstimmung die Ja-Stimmen, die Nein-Stimmen überwiegen (ohne Berücksichtigung der Enthaltungen) dann gilt das Gesetz als angenommen.

Damit hätte dann die vereinbarte Koalitions-Regelung auf Länderebene eben auch genau das zur Wirkung, nämlich eine Enthaltung aus strittigen, uneinigen Themen.

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Beim Hören der LdN 312 und 313 erschien mir die Änderung an den Koalitionsverträgen spontan auch wie ein Fix an der falschen Stelle. Wäre es nicht einfacher die Zustimmung zu Gesetzen im Bundesrat mit einer einfachen Mehrheit der Stimmberechtigten zu geben? Dann würden Enthaltungen nicht mehr wie Gegenstimmen wirken. Stattdessen gäbe es wirklich 3 verschieden wirkende Stimmoptionen für die Länder.

Ich verstehe, dass es leichter scheint, viele Koalitionsverträge in Zukunft anders schließen zu lassen, als eine Verfassungsänderung anzustreben. Sofern es Einsicht bei Politikern gibt, dass das eine gute Idee ist, wäre die Verfassungsänderung aber auch erreichbar.

Das ist der Knackpunkt.

Für besagte Verfassungsänderung braucht es Mehrheiten, da aber so ziemlich alle Parteien die bisherige Praxis ausgenutzt haben dürfte es schwer fallen die zu finden.

Der Hebel über die Koalitionsvereinbarung hat den Charme, dass es nur einzelne Landesverbände braucht um Wirkung zu entfalten.

This. Wahrscheinlich wäre eine Änderung des Grundgesetzes hier die eleganteste Lösung - ich glaube nur noch nicht so recht daran. Außerdem müsste man sich dazu auf eine konkrete Neuregelung der Abstimmungen im Bundesrat einigen - da gibt es ja einige Optionen, siehe oben.

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