LdN310 Iran: Proteste dauern an, Ausgang offen

Die Proteste im Iran halten an, das Auswärtige Amt empfiehlt allen Deutschen die Ausreise.

Das Regime bekommt trotz Anwendung schwerster Gewalt den Protest der Bevölkerung nicht gestoppt.

Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich die Situation entwickeln kann.

Umsturz oder Machterhalt des Regimes, Machtergreifung anderer Radikaler, Militärputsch, Bürgerkrieg bis hin zum vielleicht schlimmsten Szenario, einen weiteren Failed State in der Region. Vielleicht mit sehr viel Glück die Entstehung einer Demokratie.

Wie schätzt ihr die Lage ein oder prognostiziert die Zukunft?

Die Lage ist extrem komplex. Es gibt so viele Länder, die dort eigene Interessen verfolgen (Russland, USA, Israel, Saudi-Arabien, Türkei), die sich größtenteils diametral entgegen stehen. Russland will das Regime stützen, die Türkei aus anderen Gründen auch (Stichwort: Kurdenfrage; die Türkei will keinen „Failed State“ im Iran, weil es dann dort wie in Syrien kurdische Unabhängigkeitsbewegungen geben könnte - und das wird die Türkei im Zweifel völkerrechtswidrig mit militärischer Gewalt niederschlagen, während die NATO wegschaut, was ihr Bündnispartner dort so treibt…), die USA, Saudi-Arabien und Israel hingegen sind die traditionellen Erzfeinde des Regimes.

Die Konsequenz ist, dass wenn das Regime im Iran fällt, etliche Interessenparteien dort versuchen werden, das Machtvakuum zu füllen. Und das kann wirklich in jede Richtung gehen. Die letzte Revolution hat den pro-westlichen Schah (nebenbei absolut kein lupenreiner Demokrat) abgelöst und die religiösen Extremisten haben die Situation ausnutzen können, um die Macht für über 40 Jahre zu halten. Das prägt eine Gesellschaft - leider. Ob sich die Demokratiebewegung, die aktuell die Straßen dominiert, wirklich gegen die verkrusteten religiösen Eliten durchsetzen kann, ist zumindest fraglich.

Und dann stellt sich die Frage, welche anderen Staaten sich dort einmischen werden - denn auch wenn alle sagen, dass das eine Sache des iranischen Volkes sei, ist es leider absolut normal, dass jeder Staat die von ihm bevorzugte Bewegung auf direkte oder zumindest indirekte Art unterstützen wird. Wenn Russland die Hardliner aufrüstet und die Saudis, Israelis und der Westen die Demokratiebewegung unterstützen, kann das ganz schnell in einem Stellvertreter-Bürgerkrieg enden.

Die Hoffnung ist, dass die Demokratiebewegung so lange durchhält, dass das Regime abtreten muss und die religiösen Hardliner bereit sind, Zugeständnisse zu machen. Also ich erwarte nicht, dass der Iran plötzlich eine Demokratie wird, aber wenn es ein paar Schritte in diese Richtung gehen könnte, wäre das schon ein riesiger Glücksfall.

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Ich finde, dass ihr, Philipp und Ulf, sehr schön das Problem der Abwesenheit brauchbarer Konzepte für eine gesellschaftliche und staatliche Neuordnung des Landes diskutiert habt. Mir fehlt momentan auch die Kreativität, vielleicht auch der Mut, mir vorstellen zu können, dass die herrschenden Klassen des Landes (Klerus, Revolutionsgarden und deren Goons (Basij, andere Teile des revolutionären Sicherheitsapparates) den Laden abgeben werden. Ich befürchte tatsächlich, dass sie lieber verbrannte Erde zurücklassen oder den Konflikt vollends internationalisieren (ich möchte ungern hier von Syrien 2.0 reden, aber so etwas in die Richtung kann ich mir leider gut vorstellen).

Ich möchte hier aber auch eine andere These einspielen: Solange die Iraner im Land und in der Diaspora nicht gnadenlos ehrlich zu sich selber sind bei der Frage, wie es zu dieser Islamischen Republik kommen konnte, wird es eben auch keinen notwendigen meta-gesellschaftlichen Heilungs- und Vergebungsprozess geben, der so unbedingt notwendig ist, damit eine neue, konstruktive, positive politische Identität entstehen kann, die eine demokratische, fortschrittliche Gesellschaft bilden kann. Jedoch sehe ich selbst bei meiner eigenen Familie die typischen Verdrängungsreflexe im Umgang mit der eigenen Geschichte: Schuld an der Islamischen Revolution waren die Amerikaner, die Briten und die Franzosen, immer gerne auch die Araber. Eltern, die selbst 1979 kreischend und Brusthaare bei Khomeinis Ankunft rausreißend für die Bildung dieser „Republik“ (was für eine Vergewaltigung der Wortbedeutung…) waren, schweigen nun. Ihre Kinder und Enkel müssten nach Aufklärung verlangen, vielleicht ähnlich wie die 68er Generation in Deutschland. Das passiert jedoch nicht oft genug. Ich bin selbst überwältigt und begeistert von dem Mut und dem Drive der Menschen, insbesondere der Mädchen und Frauen. Was mir aber sehr fehlt, ist eben eine kritische Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, um nicht dem nächsten Rattenfänger in die Falle zu laufen oder vom Regime, das irgendwann mal alle noch verbleibenden Skrupel über Bord wirft, zermalmt zu werden. Und sollte das Regime merken, sie können nicht mehr „gewinnen“, und das Land gleitet ihnen aus den Händen: Was sollte sie davon abhalten eine Politik der verbrannten Erde zu fahren? Überlegen wir uns dann mal die Lage für die Region… im Libanon, Irak, Jemen. Würde Israel nicht noch nervöser werden, wenn es den Feind noch nicht mal mehr fest identifizieren könnte? Vor einem Jahr wäre das für mich das klassische Black-Swan Szenario (katastrophal aber höchst unrealistisch). Jetzt ist es mindestens ein Worst-Case.

Ich sehe leider in der Diaspora eben keine wirklichen intelligente Modelle für eine zukünftige Gesellschaftsordnung im Iran. Ohne die Proteste, die wunderschönen Bilder und Lieder wird dieses Regime nicht zu überwinden sein. Aber ohne konkrete, konstruktive und positiv formulierte Ideen einer neuen iranischen Gesellschaft wird der Wandel im Heroismus dieser mutigen Menschen stecken bleiben. Die Islamische Republik wurde im Hass geboren. Hass gegen die USA, Hass gegen Israel, Hass gegen bestimmte Minderheiten etc. Ein neues Iran kann - wenn es mehr können soll als die Islamische Republik - nicht alleine aus dem Hass gegen jene Republik entstehen.

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Mir hat das letzte Update in der Lage zu dem Thema auch sehr gut gefallen, insbesondere bezogen auf die Unklarheit, wie es danach weitergehen soll. Eine Sache sehe ich allerdings anders. Am Anfang des Updates habt ihr davon gesprochen, dass in Deutschland vor allem wenig berichtet wird, weil es wenig Neues gäbe. In der Woche vor Folge 308 hat das Evin Gefängnis gebrannt, in dem die iranische intellektuelle Elite eingesperrt ist, in Berlin waren 80.000 Menschen aus Solidarität mit den Menschen im Iran auf der Straße und 100.000 Menschen sind am 40. Tag von Mahsa Aminis Tod in Kurdistan zu ihrem Grab gepilgert. Aktuell hat das Parlament die Todesstrafe für gefangene Demonstranten gefordert, was momentan knapp 15.000 Menschen sind. In Baluchestan wird auf brutalste Weise gegen die Demonstranten vorgegangen. In Berlin wurden Demonstranten vor der iranischen Botschaft bei einer Mahnwache angegriffen. Genauso, wie im Ukraine-Krieg könnte man auch bei den Protesten im Iran regelmäßig die aktuellen Entwicklungen darlegen und diskutieren.

Über meine Freundin, die Iranerin ist, bekomme ich mit, dass die iranische Community teilweise wirklich verzweifelt ist darüber, dass sie alles tun, um Aufmerksamkeit auf die Situation im Iran zu lenken, und aus Politik und Medien häufig nur wenig Resonanz bekommen. Iraner*innen bitten in sozialen Medien immer wieder darum: Be our Voice. Regelmäßige Updates helfen, dass wir das Geschehen dort im Blick behalten und nicht vergessen.

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