Sehr, sehr gute Punkte. Halte ich auch für höchst plausible Motive.
Generell begehen wir ja viel zu oft den Fehler, Putins Aktionen danach zu bewerten, wie sie auf uns bzw. „den Westen“ wirken und vergessen, dass für ihn oft wichtiger ist, was seine Aktionen innenpolitisch innerhalb Russlands für Folgen haben.
Auch so ein aktuelles Beispiel: die Annexionen. In der medialen Darstellung bei uns überwiegt massiv die Frage, ob er damit jetzt den Einsatz von Atombomben ermöglichen will. Als ob er dafür im Falle eines Falles irgendein von sich selbst unterschriebenes Blatt Papier bräuchte, das diese Regionen zu russischem Territorium erklärt. Ist natürlich Quatsch, braucht er nicht, aber wofür er tatsächlich die interne Einstufung als russisches Gebiet benötigt ist für das massenweise Heranziehen von Wehrdienstleistenden in den Krieg. Die darf er gemäß russischer Gesetze erst ins Spiel bringen, wenn es um Landesverteidigung geht. Hinzu kommt, dass sich die Verträge der in den letzten Monaten für viel Geld auf Zeit verpflichteten Leute so weit ich gehört habe automatisch und unbegrenzt verlängern, sobald ihr Einsatz im Inland stattfindet und nicht mehr im Ausland. Und da das alles rein interne russische Regelungen sind, spielt es für diese Effekte auch keine Rolle, ob der Westen, also wir, die Scheinreferenden anerkennen oder nicht. Daher die dilettantische Durchführung, die nicht mal den Versuch erkennen lässt, das objektiv und fair erscheinen zu lassen.
Russland hat vielleicht keine Zeit mehr bis zum tiefsten Winter auf irgendeine wundersame Wendung in der westlichen Welt zu warten.
Für morgen ist die Annektion der vier ukrainischen Regionen angekündigt. Die gehören dann nach russischer Lesart zum eigenen Staatsgebiet. Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es aber so aus, dass die ukrainischen Streitkräfte schon in ein paar Tagen die Rückeroberung der Region Luhansk angehen werden, nachdem die Russen aus der Region Kharkiv schon fast vollständig vertrieben sind. Luhansk ist bisher die einzige ukrainischen Region (neben der Krim), die von russischen Truppen vollständig besetzt werden konnte. Wie würde das denn aussehen, wenn die Ukraine da nun einmarschiert, quasi einen Tag nachdem Putin das feierlich zu russischer Erde erklärt hat? Wenn das passiert, kann er sich später alle Drohungen in die Haare schmieren.
Ich vermute, dass nun in den nächsten Wochen alle Karten gespielt werden, die man auf der Hand zu haben glaubt. Von Seiten des Westens zusätzliche Sanktionen und Waffenlieferungen - von Seiten Russlands alles, was Putin sich traut.
Prinzipiell könnte das wirklich allen Akteuren angedichtet werden. Genau so hat jeder Gründe, sowas nicht zu tun.
Die USA profitieren klar - russische Exportkapazität geschwächt, Deutschland kann nicht mehr „einknicken“, Absatz für eigene Produkte sicherer. Andererseits wäre es plump, falls sie als Täter entlarvt werden, würde dass die Transatlantischen Beziehungen stärker beschädigen als der Nutzen aktuell (denke ich).
Für die Polen wäre die Rechnung denke ich ähnlich.
Die Bundesregierung hätte vielleicht auch ein Interesse daran - die Diskussion im Parlament/ Gesellschaft ist durch, kein „NS2 öffnen“ mehr, Fokus auf wichtigere Themen. Andererseits gibt es dann wirklich kein russisches Gas mehr, selbst wenn Russland einknickt.
Russland verliert natürlich das Druckmittel - Sanktionen gegen Gas. Dafür kann es jetzt russlandtreue Linke und Rechte weiter aufwiegeln, vielleicht sogar einige ebenfalls zu Gewalt motivieren. Eine Gefährliche Mischung entsteht da definitiv, selbst wenn es nicht Russland war. Zumindest werden Zweifel innerhalb des Nato-Bündnisses gesäht, ob nicht doch die USA die Täter sind.
Und die mögliche Drohung - wir haben unsere Pipeline zerstört, wir sind auch bereit, andere Pipelines oder gar Energieinfrastruktur in euren Ländern anzugreifen.
Um zu demonstrieren, dass man Satelliten abschießen kann, zerstört man schließlich auch einen eigenen.
Warum sollte eine Take-or-Pay-Klausel in Kraft bleiben, wenn höhere Gewalt verhindert, dass du überhaupt „taken“ kannst? Du wärst ja willig, du kannst nur nicht. Damit ist die gesamte Klausel IMHO außer Kraft. Genau wie dein Recht, zu „taken“, nichtig ist, wenn du durch höhere Gewalt am Bezahlen gehindert wirst.
Ganz abgesehen davon, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU inzwischen sowieso so zerrüttet sind, dass irgendwelche privatwirtschaftlichen Vertragsbedingungen eh nicht mehr erfolgreich durchsetzbar sein dürften, für keine Seite, und das ganze daher meiner Ansicht nach überhaupt keine Rolle mehr spielt. Wenn ein EU-Unternehmen Gazprom in Russland verklagt, lacht Russland und ignoriert das einfach (findet ja glaube ich gerade statt seitens Uniper, wir dürfen also dieses Schauspiel live verfolgen - meine Wette lautet, dass Uniper keinen Cent von Gazprom bekommt). Und wenn Gazprom ein EU-Unternehmen auf Zahlung irgendwelchen Geldes für nicht erhaltenes Gas verklagen sollte, geht die EU hin und erlässt einfach ne Sanktion, die diese Zahlung unterbindet, dann ist das höhere Gewalt und hebt den privatwirtschaftlichen Vertrag, der Grundlage der Klage ist, auf.
Dazu gilt eben auch noch, dass bei Take-or-Pay eben nur dann zu bezahlen ist, wenn man das angebotene Gas nicht abnimmt. Wenn die Gegenseite nicht wie vertraglich vereinbart liefern kann, dann muss die abnehmende Seite auch nicht zahlen. Es muss also nicht mal eine höhere Gewalt im Spiel sein, sondern reicht aus, wenn die Gegenseite „keine Lust“ hat zu liefern. Das ist dann einfach eine Leistungsstörung in Form einer Abweichung von der eigentlich geschuldeten Leistung.
Die ganze Diskussion um das Bezahlen müssen war vor allem zu Beginn des Krieges relevant. Damals haben wir darüber diskutiert, ob ein Aussetzen der Abnahme nicht problematisch ist, weil wir dann trotzdem zahlen müssten. Also ohne, dass irgendein Embargo beschlossen wird, sondern, dass man das Gas einfach durch andere Quellen wie LNG ersetzt. Das wegen Take-or-Pay in der Tat kritisch gewesen und man ist zu dem Schluss gekommen, dass es nur über ein EU-Embargo und damit den Fall höherer Gewalt gegangen wäre. Dann wollte Gazprom aber nicht mehr liefern und die Diskussion war eigentlich hinfällig (und jetzt erst Recht).
Mal angenommen, dass Putin und die Ukraine sich morgen auf einen Waffenstillstand mit anschließendem Friedensvertrag einigen würden (wie immer das gehen soll), bin ich mir sehr sicher, dass die Lobbyisten von BASF und Co. sofort bei Habeck auf der Matte stünden und fordern, dass man doch jetzt wieder das billige Gas vom „friedlichen“ Russen kaufen soll.
Das billige Gas von Russland ist und bleibt ein massiver wirtschaftlicher Vorteil.
Selbst wenn jetzt beide Nordstream-Röhren zerstört wären, glaube ich nicht, dass das Thema damit beendet wäre und wir nicht irgendwann auf die eine oder andere Art wieder große Mengen russisches Gas kaufen werden.
Natürlich werden wir das. Das ging ja auch vor 2012, als die erste Nordstream-Leitung in Betrieb genommen wurde.
Aber Vorraussetzung ist die russische Niederlage in der Ukraine. Danach wird es in Russland ohnehin politische Veränderungen geben, die einen Neustart der Beziehungen ermöglichen.
Bis dahin ist Russland jedoch unser Feind. So klar sollte man das sagen.
Der Punkt mit der politischen Veränderung ist hier ganz zentral.
Also selbst wenn Putin einen „gesichtswahrenden Ausweg“ aus dem Ukraine-Krieg finden würde und sich an der Macht halten könnte, wäre kein „Zurück zur Vorkriegszeit“ möglich. Nicht nur Putin, sondern der gesamte Parteiapparat " Einiges Russland" und letztlich das gesamte pseudo-demokratische System müssten erst aus der Macht getrieben werden, ähnlich wie die SED nach der Wiedervereinigung.
Kurzum:
Damit der Westen wieder Vertrauen zu Russland aufbauen kann, braucht es nicht weniger als eine völlige Revolution oder zumindest eine tiefgreifende Reformation des gesamten politischen Systems Russlands. Mit den Verantwortungsträgern des Angriffskrieges gegen die Ukraine kann es kein Zurück zur Normalität geben - und der Kreis dieser Verantwortungsträger erstreckt sich mindestens auf die gesamte Staatsführung und nahezu alle regionalen politischen Führungspersönlichkeiten.
Reparationszahlungen sind spezifisch Zahlungen aufgrund Kriegsschäden, richtig? Geben wir uns nicht gerade allergrößte Mühe, das Narrativ am Leben zu erhalten, wir seien keine Kriegspartei?
Dazu stellt sich natürlich auch die Frage, wer hier geschädigt ist.
Die Pipelines stehen im Eigentum der Nord Stream AG, die zu 51% von Gazprom (und damit indirekt dem russischen Staat) gehört - der Rest gehört diversen europäischen Konzernen (Wintershall Dea, E.ON, Gasunie und Engie), teilweise mit massiver Staatsbeteiligung, teilweise privatwirtschaftlich.
Dazu kommt die interessante Frage, wie die genauen Versicherungsbedingungen der Pipelines aussehen - aktuell geht man zwar davon aus, dass hier ein Fall von Staatsterrorismus / Kriegsschäden vorliegt, sodass keine Versicherung greift, aber ich würde mich schon interessieren, wie es aussieht, wenn kein Staat als Täter ermittelt werden kann und Russland behauptet, es könnte nicht-staatlicher Terrorismus dahinter stecken (z.B. Umweltschützer). In diesem Fall könnte eine Versicherung möglicherweise greifen und das ganze könnte zu einem der größten Versicherungsbetrüge der Geschichte werden (wenn Russland selbst dahinter steckt und über den Versicherungsbetrug die in den Sand gesetzte Investition wieder rausholen will).
Ausschließen kann man aktuell wohl einfach gar nichts…
In LdN306 wird bei ca. 32:30 behauptet, dass aufgrund der großen Menge an Sprengstoff nur ein staatlicher Akteur hinter der Sabotage stecken kann.
Dem liegt ein Missverständnis zugrunde:
Die schwedischen und dänischen Forscher sagen, dass die Explosionen die Kraft von einigen hundert Kilo TNT äquivalent hatte.
Daraus zu schliessen (wie in der Lage geschehen), dass tatsächlich TNT oder ein Sprengstoff ähnlicher Sprengwirkung genutzt wurde, ist jedoch vorschnell und ohne Untersuchungen nicht belegt.
Es gibt einige Sprengstoffe (Plastiksprengstoffe o.ä.) die eine deutlich höhere Sprengwirkung besitzen - und entsprechend leichter händelbar wären. Es wird die Sprengwirkung nur immer in TNT-Äquivalenten angegeben, genauso wie flächenmäßig immer alles in Fussballfeldern oder Saarländern gerechnet wird.
Die Einschätzung, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nur staatliche Akteure hinter der Sabotage stecken können, beruht auf unterschiedlichen Gründen:
Die Pipeline liegt in 70-80 Meter Tiefe. Man braucht daher entweder einen guten Tauchroboter oder professionelle Tec-Diver. Ein Freizeittaucher vom Schlauchboot kann hier ausgeschlossen werden, selbst wenn er Zugang zum Sprengstoff hätte.
Es ist denke ich jedem klar, dass die Sprengung nicht durch hunderte Kilogramm TNT erzeugt wurde, sondern durch moderne Sprengstoffe. Die Angabe, welche Sprengkraft genutzt wurde, deutet dennoch auf einen staatlichen Akteur hin, denn auch hoch-potente Sprengstoffe wie C4 oder Semtex sind für nicht-staatliche Akteure nur sehr schwer zu beschaffen.
Das nötige Know-How für eine Unterwassersprengung mit hoch-potenten Sprengstoffen dürfte auch nur bei professionellen militärischen Institutionen zu finden sein, sowas lernt man nicht im „Anarchist Cookbook“.
Der professionelle Ablauf, der es trotz Satalliten-Zeitalter schafft, dass es keine klaren Spuren des Verursachers gibt, lässt vermuten, dass u.U. U-Boote beteiligt waren.
Kurzum:
Es ist die Kombination von Tauchtiefe, verwendeter Sprengkraft und nötigem Know-How, welche in dieser Form nur bei militärischen Spezialkräften zu finden sein dürfte.
Und ja, man stellt sich sowas viel leichter vor, als es ist. Nein, auf eBay den Tauchroboter zum Selbstzusammenbau kaufen und mal eben selbstgemachten Sprengstoff da dran zu kleben ist kein realistisches Szenario, aus einer Vielzahl von Gründen.
interessante beiträge! was ich neu dazugelernt habe ist der ansatz, dass die sabotage durch russland aus innenpolitischen motiven vorgenommen wurde. das halte ich für vorstellbar.
dass der move für gazprom notwendig war, um vertragsstrafen zu umgehen, halte ich für sehr unwahrscheinlich. immerhin hatte gazprom bisher nie schwierigkeiten vorwände aus dem hut zu zaubern.
dass die sabotage eine warnung bzgl der fähigkeiten russlands sein soll, halte ich für nicht schlüssig. erst einmal ist völlig klar, dass pipelines oder unterseekabel ein leichtes und sensibles ziel für russland sind. ein leistungsnachweis ist hier wirklich überflüssig. torpedos auf piplines oder unterseekabel zu schießen, schaffen auch besoffene russen. riodoro hat gut erklärt, dass eine warnung nur dann sinn ergibt, wenn der empfänger die nachricht überhaupt einordnen kann. fischer hat bei spon gut formuliert
Als vorläufige Krönung seiner Dummheit sprengt der Bösewicht, um seinen Feinden damit zu drohen, ihre Pipelines zu zerstören, erst mal seine eigenen in die Luft – eine, wenn ich mal so sagen darf, doch recht ungewöhnliche Methode des Angriffs.
Fefe hat vor ein paar Tagen eine Leserzuschrift zitiert, die das Ganze mit natürlichen Ursachen zu erklären versucht:
In Erdgasleitungen bilden sich immer wieder Ablagerungen aus Methanhydrat/Methaneis, die die Rohre verstopfen können.
Im Normalbetrieb werden dem strömenden Gas Additive zugesetzt, um diese Ablagerungen zu verhindern/wieder aufzulösen. Oder man schickt gelegentlich einen Roboter durch, der die Leitung reinigt.
Das Gas in den Nord-Stream-Leitungen ist seit einigen Monaten nicht mehr bzw. nur wenig bewegt worden. Ruhendes Gas fördert die Bildung von Methanhydrat.
Es wäre demnach möglich, dass sich durch das Methaneis Druckunterschiede in den Leitungen aufgebaut haben, die sich dann explosionsartig entladen haben. Dass das zeitnah in einem begrenzten Gebiet passiert ist, könnte dann etwas mit Meeresströmungen und/oder dem Geländeprofil zu tun haben.
Vielleicht auch interessant: Hydrate plug removal - PetroWiki
Das ist kuriosererweise richtig und falsch zugleich.
Richtig, weil es nun mal eine tatsächliche Sabotage großen Ausmaßes war, die wohl für die meisten Leute überraschend kam, und weil die Aktion erhebliche Unruhe ausgelöst hat.
Falsch, weil es eine Demonstration in für Putin typischer Art und Weise war: maximal eindrucksvoll, nämlich so, dass es wirkt, als wolle er aufs Ganze und voll ins Risiko gehen, als kenne seine Eskalationsbereitschaft keine Grenzen - wobei er tatsächlich bei genauerem Hinsehen gar nix riskiert hat, die Leitungen sind zum jetzigen Zeitpunkt eh absehbar tot gewesen und gehörten zum größten Teil Russland, und der Schaden für uns ist auch minimal und wäre weit größer gewesen wenn er dieselben Bomben an andere Rohre im selben Gewässer platziert hätte.
Er will, dass wir glauben, dass er dasselbe auch bei einer tatsächlich wichtigen Pipeline, z.B. einer der norwegischen, oder bei LNG-Schiffen aus Amerika tun könnte. Könnte er vielleicht auch, wird er aber nicht, da diese Route sehr schnell in eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der NATO führen würde, die auch Putin eindeutig scheut.
In der Lage wurde genau das als Grund herangezogen, dass es sich nur um einen staatlichen Akteur handeln kann: Es wären „hunderte Kilo“ Sprengstoff verwendet worden. Das ist aktuell nicht belegbar und auch so nicht ausgesagt worden von den schwedisch-dänischen Forschern.
Ich sage ja gar nicht, dass es insgesamt nicht doch höchstwahrscheinlich ein staatlicher Akteur war.
Aber mal ein Beispiel, was für Normalos vor unseren Küsten tauchen:
Es gibt ein Tauchprojekt in der weitaus stürmischeren Nordsee, bei welchem eine kleine Crew aus wenigen Personen mehrere hundert Kiloplatten Kupfer aus einem Wrack bergen wollte und hierfür einige Tonnen Sand aus dem Wrack abgesaugt hat. So komplex schien das nicht zu sein - das richtige Equipment und wenige zigtausend Euro Finanzierung vorausgesetzt. Wurde sogar auf DMAX ausgestrahlt.
Ausschliesslich Staaten eine solche Aktion zuzutrauen unterschätzt Privatinitiativen.