Wie im privaten Leben sollte man auch in der grossen Politik nicht ausschliesslich auf den Buchstaben von Gesetzen bzw. Verträgen bestehen. Falls es ein Macht- bzw. Möglichkeitsgefälle zwischen den Parteien gibt, sollte besonders die stärkere Partei auf die aktuelle psychologische Verfasstheit der schwächeren Partei achten. Naturgemässe ist die Empfindlichkeit der schwächeren Partei erhöht und die stärkere Partei macht einen Fehler, wenn sie die reale Überlegenheit auch noch grosstuerisch ausspielt - also demütigt.
M.E. hat der Westen ohne Not und ohne Nutzen das Land und die Menschen der zerfallenden Sowjetunion gedemütigt, indem er sie als Versager der Geschichte behandelt hat und ihnen bestenfalls zugestanden hat, das (aus heutiger Sicht immer fragwürdigere) Konsumverhalten des Westens nachzuahmen, und die entsprechenden Waren zu kaufen mit dem Geld aus Rohstoffverkäufen. Dass sich nur eine kleine Clique die Ressourcen unter den Nagel gerissen hatte und die Masse in ziemlicher Armut zusehen musste, dürfte die tiefe Demütigung noch verstärkt haben. Aber selbst diese räuberische Elite war längst nicht auf Augenhöhe mit den Westlern und hat ihre eigene Art von Resentiments entwickelt.
Die NATO-Osterweiterung war ein weiterer Nadelstich aus Sicht der Russen. Zu diesem Zeitpunkt war Russland noch keine Gefahr für die ehemaligen Satellitenstaaten. Rein nach unterschriebenen Verträgen mag die Erweiterung rechtens sein, aber die Zusagen des Westens an die demoralisierten Russen konnte man schon als Wortbruch verstehen. Aber der überhebliche Westen glaubte, für alle Zukunft oben zu bleiben und deshalb die Empfindlichkeit der Russen nicht ernst nehmen zu müssen.
Ich rechtfertige damit nicht das Mindeste von dem, was Putin 2014 tat und jetzt tut. Aber seine Kränkung über den Untergang des grossrussischen Reichs hätte vielleicht nicht bis zum Krieg geführt, wenn der Westen nicht fast wie eine Kolonialmacht sich verhalten hätte.
Der zweite Fehler des Westens ist m.E. bis zuletzt den wirtschaftlichen Gewinn über Humanität und Anstand zu stellen. Das Ähnliche passiert ja auch mit China, personifiziert in Ex-Kanzlerin Merkel. Wird schon gut gehen, Hauptsache wir sind unseren westlichen Konkurrenten immer eine Nasenlänge voraus. Es wird aber nicht gut gehen. Wer in Russland oder China investiert hat, wird wohl viel Geld verlieren. Alle Abhängigkeiten müssten so schnell wie möglich gekappt werden, sicher zu einem hohen Preis.
Die LdN-Analyse fand ich aber insgesamt sehr gut. Dazu auch sehr gut DLF-Politikpodcast mit zwei ehemaligen Russland-Korrespondenten Deutschlandfunk - Der Politikpodcast | deutschlandfunk.de