Lieber Ulf und Philipp, liebe Foristen,
mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass im Rahmen der Diskussion zur Impfpflicht bzw. deren Verhältnismäßigkeit immer wieder der selbe Fehler bei der Abwägung gemacht wird, der auch Ulf in dieser Lage unterläuft.
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Gesetzes ist die allgemein-abstrakte von der individuellen Ebene zu unterscheiden. Ulf beschreibt den „Eingriff“ in die körperliche Integrität des Einzelnen als gering und begründet das allein damit, dass die Impfung für den Einzelnen einen sehr überschaubaren medizinischen Nachteil mit sich bringt. Der Pieks tut weh und man hat 1-2 Tage geringe Nebenwirkungen, wenn überhaupt. Das ist natürlich inhaltlich völlig korrekt.
Diesem Eingriff stellt er aber den gesamtgesellschaftlichen Nutzen des Gesetzes entgegen. Die individuelle und allgemeine Ebene werden also vermischt! Der allgemein-abstrakte Nutzen für die Gesellschaft muss stattdessen mit dem Eingriff auf der entsprechenden Ebene abgewogen werden. Zum Vergleich, die Vorratsdatenspeicherung ist für das durchschnittliche Individuum ein völlig belangloser Eingriff, denn die Chance, dass die Daten tatsächlich abgerufen werden ist quasi null. Die Streubreite der Maßnahme ist das Problem! Die VDS betraf extrem viele Individuen der BRD, faktisch fast alle. Das ist auch bei der Impflicht zu berücksichtigen. Nicht der eine Pieks darf dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen entgegengehalten werden, sondern kumuliert mindestens alle Unfreiwilligen. Das sind aktuell etwa 10-15 Mio.
Wenn wir uns also fragen, ob die Entlastung der Spitäler eine Impfpflicht rechtfertigen kann (das will ich grundsätlich nich verneinen), müssen wir schon beachten, dass eine immense Zahl von Menschen zu einer Behandlung gezwungen werden, die sie nicht wünschen!
Hier tritt nun der nächste Fehler zu Tage. Die körperliche Unversehrheit ist kein rationales bzw. objektives Recht. Sie liest sich in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit als eine Freiheit, die auch irrationale Entscheidungen schützt. Die Schwere der Imfpflicht kommt also nicht daher, dass die gewöhnlichen Nebenwirkungen milde sind. Denn das sind sie. Sondern daher, dass sie ohne Willen der Betroffenen geschehen! Die aktuelle Diskussion tut sich mEn schwer damit, diesen Schutz des irrationalen Willens anzuerkennen. Er ist aber von der Verfassung vorgesehen. Ob das gut ist, muss jeder für sich wissen.
Ich persönlich bin unentschieden. Ich denke eine Imfpflicht kann aus sicherheits- bzw. verfassunsgrechtlicher Perspektive gerechtfertigt werden. Aber nicht weil der Eingriff nicht schwerwiegend wäre. Die Durchbrechung des Willen von Millionen Betroffenen macht ihn auf abstrakt-allgeimer Ebene durchaus sehr erheblich, auch wenn die jeweils individuellen Nachteile objektiv gesehen gering sind. Es wird darauf ankommen, wie hoch der Nutzen ist. Sollte unser Gesundheitssystem tasächlich so vulnerabel sein, dass eine katastrophale Überlastung droht, wird man die Pflicht wohl rechtfertigen können.
Viele Grüße
Lukas