LdN242 -- Fall Giffey nicht kleinreden

Zu den tendenziell positiven Anmerkungen zum Fall Giffey in der aktuellen „Lage“ möchte ich doch einiges an Wasser in den Wein gießen. Der eher guten Darstellung müssen dringend ein paar kritische Aspekte entgegensetzt werden.

Zunächst einmal: Ich kann ihre Leistungen als Ministerin nicht beurteilen, dazu fehlt mir das Wissen und dazu stecke ich auch zu wenig in den Themen drin. In ihrer und auch der medialen Darstellung kann man zumindest den Eindruck gewinnen, dass sie vieles erreicht hat und z. B. auch den Koalitionsvertrag, sofern dieser ihr Ressort berührt, umgesetzt hat. Was jedem hängen geblieben sein dürfte, sind blumige Formulierungen ihrer Gesetze, etwa das „Starke-Familien-Gesetz“ (was auch immer das genau sein soll).
Auf dieses Framing weist auch Anal Stefanowitsch, Sprachwissenschaftler und Anglist an der FU Berlin, in diesem leseswerten Thread hin (oder hier im Tagesspiegel T+). Das beherrscht sie und die SPD nahezu perfekt.

Ich finde absolut nicht, dass es sich beim dem Vorfall insg. um eine Bagatelle handelt. Viele Prüfungsordnungen an Universitäten sehen vor, dass Studierende ohne Wenn und Aber exmatrikuliert werden, wenn sie (i.d.R. mind. mehr als einmal) in ihren Haus-/Seminararbeiten plagiieren. Frau Giffey meinte offenbar, dass das alles ausgestanden sei, indem sie einfach sagte: „Ja, dann führe ich den Grad halt nicht mehr.“ Der ‚Doktor Prag‘ der CSU steht dem in nichts nach, der über „Die politische Kommunikation der CSU im System Bayerns“ ‚promoviert‘ hat und sich jahrelang mit diesem Grad schmückte – ja mei! Dazu passt auch die Haltung Merkels in der Guttenberg-Affäre 2011, dass sie damals keinen wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, sondern einen Minister berufen habe. Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle Studierenden, den gesamten wissenschaftlichen Nachwuchs und alle im Wissenschaftsbetrieb Beschäftigen!

Das Schlimmere ist jedoch, dass Frau Giffey anscheinend überhaupt nicht verstanden hat, worum es in den Sozialwissenschaften bzw. der Wissenschaft überhaupt geht oder wie man sie betreibt: Sie hat ihre Dissertation über sich selbst geschrieben! Sie hat über sich selbst promoviert, ohne jeglichen kritisch-reflexiven Abstand zu ihrem Forschungsgegenstand einzunehmen. Sie war zugleich Europabeauftragte in Berlin-Neukölln. Völlig absurd. Wenn sie dann noch sagt, sie habe eine „amerikanische Zitierweise“ gewählt und sich ihre gewürfelten Quellenangaben anschaut, platzt mir völlig die Hutschnur!
Auch die FU Berlin und vor allem das Otto-Suhr-Institut haben sich in diesem ganzen Verfahren nicht mit Ruhm bekleckert, weil möglicherweise eine ‚Beißhemmung‘ gegenüber aktiven Politikern/-innen besteht, die den Universitätsbetrieb dafür missbrauchen, ihre eigene Karriere in fragwürdiger Weise zu pushen. Als Doktormutter würde ich mich in Grund und Boden schämen (dabei ist Tanja Börzel im Bereich der Internationalen Beziehungen ziemlich renommiert…).

Ich teile die Einschätzung der „Lage“, dass sie nun die Karten offen auf den Tisch gelegt und jede/r selbst zur Abgeordnetenhauswahl entscheiden kann, ob er oder sie Frau Giffey für eine integre Kandidatin hält, die es verdient, die kommende Regierende Bürgermeisterin Berlins zu werden. Ohne Zweifel hat sie menschliche Qualitäten, die in der Politik zunehmend seltener werden, aber moralisch ist sie aus meiner Sicht verbrannt und unwählbar.

Zu bedenken ist zuletzt, dass der GB „Wissenschaft und Forschung“ seit 2016 durch die Senatskanzlei bzw. den Regierenden Bürgermeister selbst vertreten wird. Falls Giffey wirklich Regierende BM werden sollte, kann sie unmöglich diese Geschäftsverteilung so lassen, das wäre – zumal in einem Land mit Exzellenzuniversitäten – höchst unglaubwürdig! Und würde die Berliner Wissenschaftslandschaft in keinem guten Licht dastehen lassen.

Es sollte nicht oder weniger darum gehen, ob sie „ihr Wort gehalten“ hat (nur, weil das in der Politik seltener wird, kann das nicht der Maßstab sein), sondern mehr darum, was der eigentliche Grund für ihren Rücktritt ist.

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Die gute Frau hat ihre Dissertation selbst geschrieben bzw. selbst zusammenkopiert. Sie sollte während ihrer Promotion Kollgen und Kollginnen gehabt haben und sie sollte mehrere Dissertationen gelesen haben. Dadurch kommt ein Promotionsstudent in die Lage zu beurteilen, was in einer Promotion gefordert wird. Sie kennt auch ihre Eigenleistung und sollte wissen, ob das irgendetwas ist, was die Wissenschaft weiterbringt. Wenn sie also die Karten auf den Tisch legt, dann hätte das vor 1,5 Jahren erfolgen müssen. Es gibt noch die Möglichkeit, dass es aus Unkenntnis erfolgt ist, aber Unkenntnis ist auch so vorteilhaft, um einen Doktortitel zu erlangen.

So wie ich es in den Nachrichten mitgekriegt habe, ist sie ein Promotionsbetrügerin. Dass hervorgehoben wird, dass sie „ihr Wort gehalten“ hat, ist geschicktes Framing von der SPD. Heißt aber in Kombination dass sie sich zur Wahl stellt, aus meiner Sicht nichts anderes, als dass sie den Fehler nicht einmal eingesteht, noch dass es ihr leid tut. Und für die SPD ist es ebenfalls ein Armutszeugnis, denn haben die denn niemand besseren?

Die Zusammenfassung in der Wochendämmerung von Holger hat meine Ansicht wesentlich besser getroffen: https://wochendaemmerung.de/

Dieses Narrativ, das hier (aber auch in der Lage) vertreten wird bzw. worden ist, ist zu kurz gedacht. Ich beziehe dieses Zitat auf den Kontext, dass Frau Lambrecht als Justizministerin für die knapp 4 Monate nun das Familienministerium kommissarisch übernimmt. Dies hat in meinen Augen drei gut begründete Gründe:

  1. Zum einen hat das Familienministerium die gesamte Legislaturperiode hinweg mit dem Justizministerium zusammengearbeitet (bspw. Abstammungsrecht, Frauen in Führungspositionen). Auch die noch in den letzten drei Sitzungswochen des Deutschen Bundestages zu beratenden Eingaben des Familienministeriums eng zusammen mit dem Justizministerium zusammengearbeitet hat, bspw. die „Einführung“ von Kinderrechten ins GG (Grundrechtsteil).

  2. Zum anderen hat das Familienministerium alle von Frau Giffey vorangebrachten Initiativen schon in den Deutschen Bundestag eingebracht, sodass eine kommissarische Leitung einer „anderen“ Ministerin hier wenig negativen Einfluss hat. Des Weiteren sind in jedem Ministerium Staatssekretäre, die die Ministerin beraten etc.

  3. Zudem wäre ein Einarbeitungszeit in das Ministerium bei noch 4 Monaten bis zu einem Wechsel für eine komplett neue Ministerin zu kurz, um effektiv zu arbeiten. Da ist die Ministerin, mit denen das Haus schon eng zusammenarbeitet, eine einfache und pragmatische Lösung. Hierfür spricht auch, dass gerade am Ende der Legislaturperiode (so ca. letztes halbes Jahr) dieses Vorgehen eine gängige Praxis der jeweiligen Regierungen in Deutschland ist und es bisher noch nie geschadet hat. Frau Lambrecht hat auch angekündigt, dass sie dieses kommissarische Amt nicht nur verwalten möchte, sondern die noch zu beratenden Eingaben aktiv mitgestalten möchte.

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Ich wollte gerade selbst ein Beitrag zu diesem Thema erstellen, also Entschuldigung vorab, dass meine Antwort etwas länger und ausschweifend ausfällt:

Persönlich finde ich, dass die Lage bei diesem Thema in der letzten Folge journalistisch völlig versagt hat, leider. Ich war wirklich enttäuscht von dem Beitrag. Warum? Folgendes habt ihr übersehen und ich hoffe, dass ihr das in der nächsten Folge nochmal nachtragt:

Ihr sagt, dass Frau Giffey zumindest schwere handliche Fehler gemacht hat vielleicht sogar absichtlich getäuscht.
Das is falsch. Schon der erste Prüfungsbericht der Universität kommt zu dem Schluss, dass Frau Giffey an einigen Stellen vorsätzlich getäuscht hat. Dies wurde öffentlich durch eine Anfrage der AFD (ausgerechnet) im Berliner Senat. Nachlesen kann man das hier: Spiegel Chronik über Giffeys Plagiatsaffäre

Übersehen habt ihr auch, dass Giffey ihr Versprechen, ihr Ministeramt aufgeben zu wollen vermutlich in dem Wissen getan hat, dass sie ihren Doktortitel trotz Untersuchung der Uni nicht verlieren wird. Da hätte ich mir von der Lage die gleiche kritische Berichterstattung gewünscht wie zum Thema Maskenaffäre zum Beispiel.
Was wurde da gemauschelt? Wieso spricht die Uni eine Rüge aus, die es laut Hochschulverortnung gar nicht gibt?
Wieso wird der Untersuchungsbericht erst nach massivem Druck des Asta veröffentlicht? (Der sehr linke Asta hat sich hier lustigerweise mit der AFD im Geiste zusammengetan).

Wieso führt Frau Giffey daraufhin ihren Titel nicht mehr tritt aber nicht zurück? Wenn man einen Titel nicht mehr führen will, hat man Ihn da nicht praktisch verloren?
Das die Uni dann auf massiven Druck hin das Verfahren wiederholt, ist natürlich beschämend für die Uni und fast schon als Schuldeingeständnis zu werten, dass beim ersten Verfahren gemauschelt und getrickst wurde. Die Einschätzung der LAGE hierzu ist?

Dann möchte ich noch auf das meiner Meinung nach sehr dumme Argument eingehen, dass die Bürger von Berlin ja jetzt wissen wen sie ggf wählen.
Meint ihr das Ernst? Ihr schmeisst damit ja praktisch 50% des demokratischen Prozesses aus dem Fenster.
Kandidaten werden ja normalerweise von den Parteien nach Tauglichkeit ausgesucht und aufgestellt. Jetzt stellen wir uns doch mal die Frage, ob Frau Giffey die gleichen Chances gehabt hätte aufgestellt zu werden, wenn zu dem Zeitpunkt ihrer Aufstellung bereits bekannt gewesen wäre, dass sie eine Betrügerin ist.
Falls ja, müsste man der SPD einige kritische Fragen nach ihrem moralischen Kompass stellen, falls nein, hat sich Frau Giffey also jetzt eine Position ergattert, die ihr nicht zusteht. Es gab ja sicher noch andere Politiker in der SPD die gerne als Kandidat aufgestellt worden wären.

Grundsätzlich zum Plagieren: Ich promoviere gerade selbst, von daher betrifft mich das besonders. Frau Giffey ist eine Betrügerin, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dazu mal ein Vergleich: Falls ich das richtig verstanden habe, hat Frau Giffey einen Wikipedia Artikel übernommen, dieses Zitat aber Habermas zugeschoben. Das ist in etwas so, als würde eine Architektin eine Stahlkonstruktion entwerfen, zu Berechnung der Tragfähigkeit aber Werte übernehmen die von Holzmaterialien stammen. Hinzu kommt noch der geistige Diebstahl von dem Verfasser, der den Wikipedia Artikel geschrieben hat.

Sollte Frau Giffey Bürgermeistering von Berlin werden, wäre sie Schirmherrin über die Uni, die sie betrogen hat. Moment… da fällt mir noch ein Name ein, da wussten die Leute auch wen sie wählen und das er betrügt: Boris Johnson.
Ihr Journalisten habt die Aufgabe uns vor solchen Zuständen zu bewahren, also fragt bei der Uni nach: Was wurde da gemauschelt. Wieso gibt es zwei Berichte? Was sagt der ASTA zu der ganzen Situation? Welchen Einfluss hatte die Berliner SPD auf die UNI in diesem Prozess?

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Danke, dem ist bedingungslos zuzustimmen! Die gebrachten Argumente in der „Lage“ waren so schwach und teilweise populistisch („Warum auch? Als wenn’s da was zu tun gebe…“, „Habt ihr keinen mehr, der das machen könnte?“ usw.), dass ich darauf gar nicht eingehen wollte.
In einigen anderen Beiträgen hier im Forum bin ich darauf eingegangen, wie so ein Ministerium arbeitet – und da muss man einfach sagen, dass es die letzten Wochen der Legislatur, von denen ohnehin der größere Teil die anstehende Sommerpause abdeckt, praktisch keinen Unterschied macht, ob die Hausleitung kommissarisch besetzt ist oder jemand offiziell im Amt ist und wer irgendwo seinen Wilhelm druntersetzt. Die Rolle eines Ministers oder einer Ministerin wird dramatisch überschätzt. Ich kann verstehen, dass es in symbolischer Hinsicht nicht gut rüberkommt und sich die Feuilletonisten freuen, weil sie wieder ein ‚Aufreger-Thema‘ haben, über das sie sich wochenlang auslassen können („Daran zeigt sich der Stellenwert von Kindern, Jugendlichen und Familien in Deutschland“), aber: Es ändert nichts.
Das Argument, man würde noch irgendwen auf den letzten Metern mit einem Ministerposten versorgen, ist überhaupt nicht „völlig bescheuert“ (38:38), sondern natürlich würde das aus bestimmten Kreisen – und sei es eine aufgebrachte Twitter-Bubble – genau so angebracht werden, was bei vielen verfangen würde („Die da oben genehmigen sich jetzt noch Ministerposten und bringen ihre Schäfchen ins Trockene!“). Inhaltlich ist es natürlich unzutreffend und Quatsch. Aber wie man es in diesem Fall auch gemacht hätte: Kritik wäre so oder so gekommen. Wenn nicht von der einen, dann von der anderen Seite.

Übrigens: Vielleicht können wir uns wenigstens in diesem Thread darauf einigen, dass wir nicht – wie es sonst die ganze Medienwelt (und dazu falsch) macht – von ‚Titel‘ schreiben, sondern von einem ‚(akademischen) Grad‘. Den Unterschied sollte man kennen, wenn man schon angibt, selbst zu promovieren (@MarS)…

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Dennoch kann man hervorheben: Sie hat ihren Rücktritt eingereicht.
Etwas, worauf man bei Sven Scheuer, Philipp Amthor, Georg Nüßlein, Alfred Sauter und Eduard Lintner immer noch wartet.

Sicher kann man sich fragen, ob eine Politikerin, die bei der Doktorarbeit mindestens geschlampt hat, ein gutes Vorbild ist. Daran festzumachen, ob jemand ein guter Politiker ist, halte ich aber etwas übertrieben.
Das sieht man, siehe meine Liste oben, an anderen Faktoren.

Ich mach mal wieder des Teufels Advokat, weil es doch langweilig ist, wenn alle hier in’s gleiche Horn stoßen :wink:

Ich sehe die Sache mit Giffey nicht ganz so kritisch. Das Argument, dass sie im Falle ihrer Wahl zur Berliner Oberbürgermeisterin die Schirmherrin über die Universität wäre, ist relativ irrelevant, weil sie keinen tatsächlichen Einfluss auf das Geschehen an der Universität hat - zum Glück sind Hochschulen hierzulande doch sehr autonom und Eingriffe durch die Politik in eine einzelne Universität sind nahezu ausgeschlossen.

Insgesamt ist halt die Frage, wo man hier die großen Probleme sieht - in den Betrügern oder im System. Und ich muss ehrlich sagen: Ich sehe das große Problem im System.

Warum müssen - vor allem in SPD, CDU und FDP - immer alle Leistungsträger promovieren? Warum wird ein Doktor-Titel, der nachweist, dass eine Person zur eigenständigen Forschung in der Lage ist, im Tagesgeschäft der Politik missbraucht, um damit „Fachkompetenz“ nachzuweisen?

Politiker forschen nicht - Politiker wenden bestenfalls Wissen an, eine Kompetenz, die mit jedem Universitäts-Abschluss vermittelt wird. Das Problem ist bei Politikern ähnlich wie bei Ärzten: Der Doktor-Titel wird nicht gemacht, weil man „in die Forschung“ will und damit „hinter der Sache steht“, sondern er wird aus Prestigegründen und weil die Gesellschaft ihn erwartet gemacht. Viele Leute würden z.B. nicht zu einem Arzt ohne Doktor-Titel gehen, obwohl der Doktor-Titel absolut nichts über die Qualifikation des Arztes aussagt. Wie gesagt, ein Doktor-Titel qualifiziert zur Forschung, er hat keinerlei Aussagekraft über die Fähigkeiten in der Praxis.

Es ist damit eines der Demokratie-Probleme unseres Systems. Der Bürger denkt, ein Politiker mit Doktor-Titel sei „besser“ als einer ohne - und dadurch kommt es vor allem in konservativen Parteien (denen Prestige noch wichtiger ist) zu einem starken Druck auf die Karrieristen, einen Doktor-Titel zu erwerben, obwohl man ihn offensichtlich nicht für seinen eigentlichen Zweck anwenden will. Das ist ganz großer Mist, denn diese Doktor-Titel entwerten einfach den Doktor-Titel allgemein.

Das typische Beispiel: Ein Doktor-Titel in Medizin wird unter Forschenden grundsätzlich erstmal belächelt. Weil jeder Arzt einen Doktor-Titel haben will (in der Erwartung, dass die Patienten das verlangen) sind die wissenschaftlichen Anforderungen im Rahmen der Doktorarbeiten einfach lächerlich niedrig. Viele Ärzte bekommen dann den Doktor, indem sie eine Arbeit über irgendeine aktuelle Forschung eines großen Pharma-Konzerns schreiben, der Konzern unterstützt sie dabei und die wissenschaftliche Wertigkeit ist gleich Null.

Wir sollten daher als Gesellschaft generell darauf hinwirken, dass die Bevölkerung den Doktor-Titel als das sieht, was er ist: Eine Befähigung zur wissenschaftlichen Forschung. Nicht mehr, nicht weniger. So lange der Druck auf die Karrieristen in den Parteien so hoch ist, einen Doktor-Titel zu erlangen, so lange wird es all die Guttenbergs, Koch-Mehrins, Schavans und Giffeys geben… es hat einen Grund, warum sich diese Fälle bei Politikern häufen - denn wer wirklich in die Wissenschaft will, bescheißt beim Doktor nicht, denn das würde auffallen :wink: Für Politiker ist der Doktor-Titel leider eine typische „Einmal und nie wieder“-Sache - und da ist der Reiz, unsauber zu arbeiten oder gleich einen Ghostwriter zu beschäftigen, ziemlich groß…

Apropos, ich möchte nicht wissen, wie viele Doktorarbeiten von Politikern durch Ghostwriter verfasst wurden… was wir bei Vroniplag und co sehen ist meines Erachtens nur die Spitze des Eisbergs und nur ein Symptom dieses zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Problems.

Ob Frau Giffey wegen der 2010 betrügerisch abgegebenen Doktorarbeit nicht Berliner Oberbürgermeisterin werden sollte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das war ein Fehler, sogar eine Straftat, und das spricht natürlich nicht für die Franziska Giffey von 2010. Andererseits bewerte ich Menschen lieber nach ihren Taten in den letzten Jahren - und eine so schwere Tat, dass ich ihr 11 Jahre später dafür ein Politikverbot erteilen wollte, ist es auch wieder nicht. Als Familienministerin hat sie denke ich eine zufriedenstellende Leistung erbracht. Zum Glück bin ich kein Berliner und muss hier nicht entscheiden, aber ich halte sie wegen der Sache nicht für unwählbar…

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Die Kompetenz Auswahl der Parteien ist die Ochsentour nicht der akademische Abschluss. Unabhängig der Probleme dieses Auswahlverfahrens kann wohl ein technokratischer Anspruch oder auch ein schichtspezifischer Anspruch (etwas anderes sind Bildungsabschlüsse dann doch meistens nicht) hier wohl keine Lösung sein.

Allerdings finde ich hier die Perspektive auf die Hochschulen und die Forschung auch etwas befremdlich bis kitschig. Es klingt ja so als seien hier einige Leute im wissenschaftliche Betrieb unterwegs, da müssten einem doch die Probleme des Betriebs klar sein. ich hatte ja den Spaß an einer sogenannten Exellenzuniversität zu studieren. Diese Unis sind weit davon entfernt sowas wie die Ivyleague zu sein und unter der Studierendenschafft (auch bundesweit) war Exzellenz eher der Treppenwitz der schlechten Univerwaltung. Mal davon abgesehen, welche noch so reaktionäre Ideologie teilweise das Prädikat Wissenschaft erhält oder der Frage inwiefern denn der medizinische Doktor wissenschaftlichen Standrads genügt bzw. der allgemeinen Tendenz mit Hilfe statistischer Verfahren buchstäblich Signifikanz zu erzeugen, bleibt halt auch die Frage der Rahmenbedingungen. Schlechte Betreuung und Überarbeitung von Doktorand_innen die parallel noch Lehre machen müssen ist ja nichts neues. Klar ist es forschungsethisch nicht vertretbar was Giffey gemacht hat. Es taugt allerdings nicht zur moralischen Empörung, wenn der ganze Wissenschaftsbetrieb sowas ermöglicht und durch gewisse Praktiken auch fördert. Die Hochschulen und die Wissenschaft geht davon nicht unter aber vielleicht mal diese unsäglichen akademischen Titel. ^^
Wie OP auch letztlich schriebt bleibt doch die Frage, wie das Thema der Arbeit zustande kam, warum die Betreuung nichts gemerkt hat und schließlich wie das ganze überhaupt durch kam. Das richtet sich allerdings eher an die Uni als an Frau Giffey.

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Man sollte an dieser Stelle vielleicht darauf hinweisen, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, aktuell als Senator auch für das Ressort „Wissenschaft und Forschung“ zuständig ist. Das ist natürlich kein in Stein gemeißelter Zuschnitt, aber dass der Wissenschaftssenator in Berlin „keinen tatsächlichen Einfluss“ auf die Universitäten hat halte ich doch für eine sehr steile These. Hier werden ja nicht zuletzt die Struktur- und Finanzierungspläne für Forschungseinrichtungen verhandelt.

Ich würde auch der These widersprechen, dass wissenschaftliche und politische Kompetenz nichts miteinander zu tun haben. Wer in Qualifikationsarbeiten richtig zitiert und korrekt mit Forschungsliteratur umgeht beweist damit eine Reihe von Kompetenzen: Man verhält sich redlich gegenüber der Leistung anderer. Man beweist, dass man in der Lage ist, unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte zu vermitteln und Vielstimmigkeit zu organisieren. Man erweist außerdem Qualitäten im Management von Überkomplexität. Ich halte das für Eigenschaften, die eine Gesellschaft in ihren politischen Repräsentant*innen schätzen sollte. Mindestens aber sollte man die ostentative Ignoranz sanktionieren, sich diesen Anforderungen zu stellen. Franziska Giffey hat mithin bewiesen, dass sie dazu entweder nicht willens oder aber nicht in der Lage ist. Beides hielte ich zumindest für eine orange flag, wenn es darum geht, ein hohes politisches Amt zu bekleiden.

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Und als was soll die Bevölkerung den Doktor-Grad sehen bzw. macht sie das nicht schon (lassen wir mal Dr. med. außen vor)?
In meinen Augen bedeutet „die Befähigung zur wissenschaftichern Forschung“ insbesondere die Grundhaltung, die eigenen Hypothesen als ungenügend zu betrachten. Folglich versucht man stets seine eigenen Hypothesen zu widerlegen bzw. zu korrigieren (und anderen die Möglichkeit zu geben dies zu tun).
Für diese Grundhaltung braucht man eine gewisse geistige Reife und es ist ein erschöpfender Weg um sie sich zu erarbeiten. Nur wenn man wirklich an einer Thematik interessiert ist, investiert man die grob 3-6 Jahre (und zwar Vollzeit!), die dazu nötig sind. Der Doktor-Grad soll diesen Reifegrad attestieren (ähnlich wie z.B. das Abitur oder der Universitätsabschluss einen gewissen Reifegrad attestieren sollen).
Dementsprechend ist es nachvollziehbar wenn „die Bevölkerung“ erwartet, dass Promovierte nicht nur Fachexperten sind, sondern tendenziell auch eher in der Lage sind zur Lösung eines komplexen Problems beizutragen. Nicht mehr und nicht weniger.

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Die vorsätzliche Täuschung des Promotionsausschusses ist (leider!) keine Straftat, oder habe ich ein Straftatsbestand übersehen? Aber ich (und dieser Thread-Titel) sehe ja gerade das Problem darin, dass die Berichterstattung diese Täuschung nicht als „einer Straftat ähnlich“ bezeichnet sondern als Fauxpas à la „Schummelei“.
Die Berliner Wahl steht nun eher unter dem Eindruck, dass Frau Giffey „halt mal wie damals in der Schule etwas abgeschrieben hat“ als dass sie „eine Betrügerin“ ist (wobei letztere Bezeichung natürlich auch nicht so verwendet werden darf, da nicht rechtskräftig wegen Betrugs verurteilt).

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Aber für mich gehört bei Giffey zu den Taten in den letzten Jahren eben die Frage, wie sie mit ihrem Fehlverhalten von 2010 umgeht. Und ich kann eben bisher nicht erkennen, dass sie hier ein falsches Verhalten eingestehen und anerkennen möchte, sondern sie versucht mittels Framing der Sache von damals einen Spin zu geben, der sie für heute nicht mehr relevant erscheinen lassen soll. Das ist für mich das große Problem.

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Was mir bei dem Ganzen fehlt, ist eine Betrachtung des Uni-Betriebs, bzw. der Promotionsprüfung selbst, die so viele Affären möglich gemacht haben.

Wie viele ‚falsche‘ Doktoren mag es wohl geben die nicht neu geprüft werden, weil sie nicht so im Rampenlicht stehen.

Das ist für mich jedenfalls der größere Skandal als die jeweiligen Einzelfälle.

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Das stimmt zumindest für Berlin nicht. Der Senat (und an dessen Spitze die Regierende Bürgermeisterin) muss z. B. die Besetzung jeder einzelnen Professur genehmigen und kann dabei auch sämtliche Entscheidungen von Universitätsgremien ignorieren.
Viel entscheidender ist aber, dass ja Hochschulen kein politikfreier Raum sind, nur weil sie Wissenschaft betreiben - ganz im Gegenteil. Nicht nur bei der Besetzung von Stellen, auch bei der Verteilung von Geldern (insbesondere der sogenannten Drittmittel) spielen politische Connections eine enorme Rolle.
Und hier kommt Giffeys Doktormutter ins Spiel, die bei der ganzen Sache viel zu oft vergessen wird. Nicht nur hat sie angeblich nichts von Giffeys Betrug mitbekommen (wenn es stimmt, hat sie nicht gut betreut, wenn es nicht stimmt, hat sie es gedeckt). Börzel hat die Leute für die erste „Überprüfung“ von Giffeys Dissertation ausgesucht und steckt vermutlich auch hinter der kreativen Lösung einer „Rüge“ - die es formal nicht gibt (siehe Tagesspiegel dazu). Dazu muss man wissen, dass Tanja Börzel (zusammen mit ihrem Mann Thomas Risse) die Strippenzieherin am Otto-Suhr-Institut (Politikwissenschaft) der FU Berlin ist. Zentrale akademische Gremien sind seit Jahren in den Händen der beiden und ihrer Verbündeten. Auch eine gewisse Nähe zur Berliner SPD wird den beiden nachgesagt (darüber konnte ich aber auf die Schnelle nichts finden).
Götz Aly meint, der Fall Giffey sei eigentlich ein Fall Börzel und spricht in diesem Zusammenhang auch von Korruption https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.diskussion-um-doktorarbeit-giffey-und-das-gift-der-korruption.440449b5-b2cc-441a-b96e-444a3e625eb9.html. Aly vertritt in seinen Zeitungskolummnen zwar manchmal schräge Ansichten zu politischen Themen, ist aber ein renommierter Historiker, der auch in seiner Forschung gerne mal den Finger in die Wunde legt. Zugleich hatte er nie eine ordentliche Professur und schaut als „Outsider“ durchaus kritischer auf den Filz an den Unis als das vielleicht verbeamtete Professor:innen tun würden…
TL/DR: Es geht nicht nur um Betrug bei einer Doktorarbeit, es geht auch - freundlich formuliert - um politische Netzwerke und im schlimmsten Fall sogar um Korruption. #fallbörzel

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Gegenüber Aly gibt es die selben Vorwürfe ^^

Aber ich weiß ja nicht inwiefern man das als Filz bezeichnen kann, soziales Kapital ist halt in der Gesellschaft ziemlich relevant. Entsprechend bauen so ziemlich alle Leute Netzwerke auf, Almunis, Fördervereine, Hochschulpolitische Gruppen, Burschenschaften und Studierendenverbindungen, die Gesellschaften der Fachgemeinschaften. Es fängt ja schon bei einfachen Arbeitsstellen für Studierende an, Dozierende suchen sich Studierende, welche Sie protegieren. Entsprechend haben einige Studierende dann auch gleich mehrere Stellen und zugleich findet man im Mittelbau an den jeweiligen Lehrstühlen einen Dünkel der an einen Hofstaat erinnert. Stets loyal zum eigenen Prof, selbst, wenn die Arbeitsbedingungen immer schlimmer werden.

Mit höheren Positionen steigen dann natürlich die Dynamiken dieser Netzwerke insbesondere jene der Gefälligkeiten. Klar es gibt Grenzen, aber andererseits verselbständigen sich diese Dynamiken zwangsläufig, der Grad ist schmal und die Grenzen werden schnell arbiträr.

Ich weiß nicht, welche Vorwürfe gegenüber Aly du meinst, aber seine Forschung war auf jeden Fall originär.

Mit Filz meine ich, dass jemand wie Börzel ohne nennenswerte wissenschaftliche Leistungen, aber aufgrund der richtigen „Netzwerke“ haufenweise Drittmittel akquirieren kann, die dann wieder in die Pflege ebendieser Netzwerke investiert werden von denen m. E. auch Giffey ein Teil ist.
Du hast natürlich insofern Recht, als es letztlich „nur“ um real existierende Machtstrukturen an Hochschulen geht. Aber ich sage ja gerade nicht, dass der Fall Giffey/Börzel eine Ausnahme ist. Vielmehr macht der Fall deutlich, wie absurd die Annahme ist, dass wissenschaftliche Erkenntnis das ausschlaggebende Kriterium für eine Karriere im Wissenschaftsapparat oder für die Verleihung akademischer Grade wäre.

Geht auch mir nicht darum ob ich das jetzt teile der cicero ist als quelle auch so ne Sache. Naja ging mir nur darum darauf hinzuweisen das es halt Strukturbedingungen der heutigen Gesellschaft sind die halt vor der Uni nicht halt machen.

Na da mag der Fall noch trennbar sein, aber die Frage wissenschaftlicher Erkenntnis ist halt so eine Sache, schließlich rechtfertigen die wissenschaftliche Publikationen von Werner Patzelt in Dresden auch nicht, dass er über seine CDU Kontakte fast riesige Fördersummen bekommen vom Land bekommen hätte, ohne Ausschreibung. Wäre das einer linken Abgeordneten nicht aufgefallen, wäre das durchgegangen. Bei vielen Prof vermischt sich ja auch Wissenschaftliche Erkenntnis mit Ideologischen Vorstellungen. Entsprechend fließen dann auch Fördersummen innerhalb gewisser (ideologischer) Netzwerke. Unabhängig davon wie machbar diese Trennung wirklich ist und problematisch das wirklich ist, bin ich halt der Ansicht dass man das bedenken sollte, bevor man sich moralisch entrüstet über Leute die versuchen im System aufzusteigen. Zu mal es schlicht Unterschiede gibt zwischen einer aus der unteren bis mittleren Mittelschicht stammenden Giffey und einem Adelssprößling, wie Gutenberg bzw. Politikern die genug Geld haben, um sich in deutsche Studiengänge in osteuropäischen Ländern ein zu kaufen oder sich Ghostwriter zu kaufen.

Ich denke, dass man hier unbedingt nach Bundesländern differenzieren müsste: Die Autonomie der Hochschulen unterscheidet sich ziemlich stark. Die Tendenz geht aber in jedem Fall von der Fach- zur Rechtsaufsicht. Im operativen Bereich haben die Ministerien i.d.R. keine Mitsprache (außer in Bayern, was ich so höre…), aber bei strategischen bzw. Grundsatz-Fragen ist man häufig auf Genehmigungen angewiesen. Die Haushaltsgesetzgebung (Stellenpläne usw.) ist auch nicht ganz außer Acht zu lassen. Ich könnte aber tatsächlich Beispiele nennen, wo es eine ‚beachtenswerte Nähe‘ (manche würden sagen: Klüngel) zwischen Politik und Wissenschaft gegeben hat und die Universität nicht ganz frei in ihrer Entscheidung war.
Abhilfe schaffen ließe sich ja einfach dadurch, dass man die Geschäftsverteilung ändert, denn, um es ganz platt zu sagen, es sieht einfach nicht gut aus, würde das so beibehalten werden. Kann mir auch nicht vorstellen, dass Frau Giffey selbst darauf Bock hat.

Hier stellt sich die Frage: Was war zuerst da? Ich habe keine Empirie dazu, aber ich glaube nicht, dass der häufigste Fall der ist, dass aktive Berufspolitiker sich überlegen, noch mal zu promovieren, wenn sie schon lange in der Politik sind (bei Scheuer & Co. mag dies anders gewesen sein). Im Fall Schavan konnte man ja sehen – und das war vor einer Weile gar nicht mal so unüblich – dass die Promotion das grundständige Studium abgeschlossen hat. Vermutlich hat es sich bei den meisten nach dem Studium irgendwie ergeben, irgendwo zu promovieren… Fraglos ist es aber so, dass gesellschaftlich viel zu wenig darüber bekannt ist, was einen ‚Dr.‘ überhaupt ausmacht und welche Anforderungen damit verbunden sind oder sein sollten.

Die Diskussion um die Promotion in der Medizin wollte ich gar nicht aufmachen, aber ich bin mit allem, was du schreibst, bei dir, @Daniel_K! Daher bin ich ohnehin dafür, in diesem Bereich ein Berufsdoktorat (wie bspw. in den USA) zu vergeben… (Mit dem möglichen Shitstorm aus der Profession finde ich mich ab ^^).

Natürlich kann man das trennen, vielleicht sollte man es auch. Ob Frau Giffey oder wer auch sonst ein/e gute Politiker/in ist, ist eher von subjektiven Überzeugungen und Wertmaßstäben abhängig. Und aus dieser Überlegung heraus halte ich sie für ungeeignet, weil sie mindestens unglaubwürdig (geworden) ist und zumindest mein Vertrauen nicht mehr ausnahmslos genießt. Das macht sich weniger daran fest, dass ihr der Grad vermutlich aberkannt wird, sondern vor allem daran, wie sie mit der Affäre insgesamt umgegangen ist. Und da würde ich schon sagen, dass sie anfangs versucht hat, das Ganze kleinzureden und – wider besseres Wissen – unehrlich war. Salamitaktik at it’s best: so wenig zugeben wie möglich, so viel zugeben wie nötig.

Dass der akademische Betrieb in seiner Gesamtheit viel zu wenig in den Blick genommen wird und es vor allem ein sytemisches Problem ist: definitiv! Erst seine Bedingungen reproduzieren ja diese Misere. In den letzten Jahren scheint mir aber das Bewusstsein z. B. für Betreuungsprozesse mehr in den Blick geraten zu sein, was sich ja an den entsprechenden Förderlinien der letzten 10 Jahre zeigt. Das deutsche Wissenschaftssystem hat ja noch so einige andere Überbleibsel, wo man sich im Ausland teilweise verwundert die Augen reibt…

Gibt es dafür eine Quelle? Das kann ich mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen. Dass es zur Kenntnisnahme geht, schon eher.
Edit (@kaigallup): Nach Recherche von Hochschulgesetz (§ 101 BerlHG) und den Berufungsordnungen stimmt das tatsächlich. Ich bin etwas erschüttert!

Woran machst du das fest?

Anbei noch ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Stefan Marschall im Deutschlandfunk Kultur (andere Verlinkung finde ich gerade nicht):
https://open.spotify.com/episode/2bJNV0O00JrJtcjMHT6atM?si=vQUvuV0aQb--sBOZGUDzwg

Edit: Nachtrag Berufungsverfahren Berlin

Gesellschaftliche Strukturbedingungen wirken auch an Hochschulen - meine Rede. Dass die inhaltliche Ausrichtung vieler sozialwissenschaftlicher Fakultäten in den 1970er Jahren dem Cicero nicht unbedingt gefällt, ist allerdings auch nicht wirklich eine Neuigkeit :wink:
Aber was man Aly sicherlich nicht vorwerfen kann ist, dass er mit dem Verfassen originärer Gedanken in wissenschaftlicher Form überfordert (gewesen) wäre.

Okay, das scheint in Berlin noch etwas spezifischer zu sein als in anderen Bundesländern.
Natürlich müssten wir uns dennoch die Frage stellen: Besteht ein realistisches Risiko, dass Frau Giffey, wenn sie die Wahl gewinnen würde, durch die Promotionsaffäre tatsächlich hier in einer negativen Weise zu fragwürdigen Handlungen neigen könnte? Das sehe ich eher nicht.

Sie wird, wie vermutlich jede/r regierende Bürgermeister/in einen gewissen politischen Einfluss auf die Besetzung von neuen Stellen ausüben, aber vermutlich nicht mehr oder weniger als jeder andere SPD-Politiker. Insofern sehe ich hier einfach keine direkte Gefahr - außer für den Wahlkampf Giffeys, in dem das Thema natürlich den anderen Parteien prima Munition liefert…

Und das führt wieder von der Frage der individuellen Verantwortung einzelner Betrüger zur Frage der systematischen Probleme unserer Gesellschaft. Kurzum: Es ist ein weit größeres Problem, welches anhand des Falles Giffey offensichtlich wird und weniger ein „Giffey-Problem“.

Auch hier liegt wieder ein systematisches Problem zu Grunde:
Es gibt schlicht keine Strafen für so ein Verhalten, nicht mal wirkliche Untersuchungen.
2010 gab es schon die heute zum Glück standardmäßig verwendete Software zum Erkennen von Plagiaten. Heute wird solche Software zum Glück für jede Bachelor-Arbeit (sogar teilweise schon für einfache Hausarbeiten) verwendet, damals leider nicht. Und das ist schon ein Skandal für sich. Für Doktorarbeiten hätte solche Software grundsätzlich verwendet werden müssen, schon 2010.
Wenn eine solche Software anschlägt kann sich auch kein Betreuer der Doktorarbeit mehr herausreden, er hätte es nicht bemerkt. Und wenn hier ein maßgebliches Fehlverhalten des Betreuenden nachgewiesen wird, muss das auch klare Konsequenzen haben.

Aber wie gesagt, ich halte das Thema „Ghostwriter“ fast für das größere Problem, weil hier das Dunkelfeld vermutlich viel, viel größer ist. Schon bei Guttenberg wurde ja damals auch diskutiert, ob er seine Arbeit wirklich selbst geschrieben hat - das würde dann jedenfalls die „Überraschung“ ob der vielen Plagiate auch besser erklären… und mit Ghostwritern meine ich nicht nur gewerbliche Ghostwriter, sondern auch deutliche Unterstützung durch Netzwerke wie politische oder wirtschaftliche Interessengruppen (Stiftungen, Seilschaften usw.), die ihre Förderlinge weit mehr als zulässig unterstützen. Es wird im Rahmen politischer Seilschaften immer das Interesse geben, bestimmten Personen „zu helfen“, den für den Wahlkampf oder den parteiinternen Kampf um die Posten wichtigen Doktortitel zu erschleichen.

Leider ja, mit ganz wenigen hier i.d.R. nicht einschlägigen Ausnahmen (Anstellungsbetrug) - und genau das sollte auch geändert werden. Wenn es um Abschlussleistungen zur Erlangung eines höher qualifizierenden Abschlusses geht (also höhere Studienabschlüsse) sollte es eine Straftat sein, zu betrügen. Dass ein unreifer 18-jähriger beim Abi oder der Abschlussprüfung seiner Ausbildung spickt, dafür muss man nicht mit der Strafrechts-Keule dran - aber ab einem gewissen Qualifizierungsgrad, für den eine gewisse geistige Reife vorausgesetzt wird, wäre eine Strafvorschrift durchaus sinnvoll.

Anmerkung dazu: Ich bin grundsätzlich in den meisten Fällen eher gegen die Kriminalisierung durch Strafvorschriften, weil die meisten Straftaten (gerade die Straßenkriminalität) nicht rational erfolgen und daher der Erfolg von Abschreckung eher gering ist. Betrug beim Doktortitel hingegen ist neben Steuer/Wirtschaftsbetrug eines der klassischen Felder, in denen die Täter sehr rational agieren, weshalb in diesen Bereichen eine Abschreckung funktionieren kann.

Naja, hier haben wir schlicht unterschiedliche Meinungen, was der Job eines Politikers ist.
Der Politiker muss kein Experte sein, er braucht eine gewisse wissenschaftliche Kompetenz, um grob in der Lage zu sein, Ergebnisse der Wissenschaft verstehen zu können, aber er muss nichts „zur Lösung komplexer (wissenschaftlicher) Probleme beitragen“. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, der Politik die Probleme zu erklären und Lösungsansätze anzubieten - kein Politiker, egal ob mit oder ohne Doktortitel, hat neben seiner Tätigkeit als Politiker auch nur annähernd die Zeit, seine wissenschaftliche Qualifikation einzubringen (z.B. dadurch, dass er sich die Paper zum aktuellen Problem selbst durchliest). Der einzige, der das aktuell ein wenig versucht, ist der Lauterbach - aber auch da merkt man oft, dass er keine Paper liest, sondern eher die Zusammenfassung kommentiert - und das macht auch Sinn. Aber dafür bräuchte er keinen Doktortitel.

Was das Thema „geistige Reife“ angeht denke ich, dass hier das gleiche gilt wie in allen Bereichen: Die geistige Reife kommt nicht durch die Ausbildung, sondern durch die Anwendung in der Praxis. Jemand, der 20 Jahre in der Forschung gearbeitet hat, hat i.d.R. die von dir genannten Aspekte des wissenschaftlichen Ethos, wer seine Promotion nur als Stufe auf der Karriereleiter außerhalb der Wissenschaft versteht, wie es bei den meisten Politikern der Fall ist, eben nicht. Für Politiker ist die Promotion eben ein Selbstzweck, eine geradezu lästige Notwendigkeit. Und das ist das Problem an der Sache - denn diese Denkweise führt dazu, dass der schnellste Weg gewählt wird, nicht der Sauberste.

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