Zu den tendenziell positiven Anmerkungen zum Fall Giffey in der aktuellen „Lage“ möchte ich doch einiges an Wasser in den Wein gießen. Der eher guten Darstellung müssen dringend ein paar kritische Aspekte entgegensetzt werden.
Zunächst einmal: Ich kann ihre Leistungen als Ministerin nicht beurteilen, dazu fehlt mir das Wissen und dazu stecke ich auch zu wenig in den Themen drin. In ihrer und auch der medialen Darstellung kann man zumindest den Eindruck gewinnen, dass sie vieles erreicht hat und z. B. auch den Koalitionsvertrag, sofern dieser ihr Ressort berührt, umgesetzt hat. Was jedem hängen geblieben sein dürfte, sind blumige Formulierungen ihrer Gesetze, etwa das „Starke-Familien-Gesetz“ (was auch immer das genau sein soll).
Auf dieses Framing weist auch Anal Stefanowitsch, Sprachwissenschaftler und Anglist an der FU Berlin, in diesem leseswerten Thread hin (oder hier im Tagesspiegel T+). Das beherrscht sie und die SPD nahezu perfekt.
Ich finde absolut nicht, dass es sich beim dem Vorfall insg. um eine Bagatelle handelt. Viele Prüfungsordnungen an Universitäten sehen vor, dass Studierende ohne Wenn und Aber exmatrikuliert werden, wenn sie (i.d.R. mind. mehr als einmal) in ihren Haus-/Seminararbeiten plagiieren. Frau Giffey meinte offenbar, dass das alles ausgestanden sei, indem sie einfach sagte: „Ja, dann führe ich den Grad halt nicht mehr.“ Der ‚Doktor Prag‘ der CSU steht dem in nichts nach, der über „Die politische Kommunikation der CSU im System Bayerns“ ‚promoviert‘ hat und sich jahrelang mit diesem Grad schmückte – ja mei! Dazu passt auch die Haltung Merkels in der Guttenberg-Affäre 2011, dass sie damals keinen wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, sondern einen Minister berufen habe. Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle Studierenden, den gesamten wissenschaftlichen Nachwuchs und alle im Wissenschaftsbetrieb Beschäftigen!
Das Schlimmere ist jedoch, dass Frau Giffey anscheinend überhaupt nicht verstanden hat, worum es in den Sozialwissenschaften bzw. der Wissenschaft überhaupt geht oder wie man sie betreibt: Sie hat ihre Dissertation über sich selbst geschrieben! Sie hat über sich selbst promoviert, ohne jeglichen kritisch-reflexiven Abstand zu ihrem Forschungsgegenstand einzunehmen. Sie war zugleich Europabeauftragte in Berlin-Neukölln. Völlig absurd. Wenn sie dann noch sagt, sie habe eine „amerikanische Zitierweise“ gewählt und sich ihre gewürfelten Quellenangaben anschaut, platzt mir völlig die Hutschnur!
Auch die FU Berlin und vor allem das Otto-Suhr-Institut haben sich in diesem ganzen Verfahren nicht mit Ruhm bekleckert, weil möglicherweise eine ‚Beißhemmung‘ gegenüber aktiven Politikern/-innen besteht, die den Universitätsbetrieb dafür missbrauchen, ihre eigene Karriere in fragwürdiger Weise zu pushen. Als Doktormutter würde ich mich in Grund und Boden schämen (dabei ist Tanja Börzel im Bereich der Internationalen Beziehungen ziemlich renommiert…).
Ich teile die Einschätzung der „Lage“, dass sie nun die Karten offen auf den Tisch gelegt und jede/r selbst zur Abgeordnetenhauswahl entscheiden kann, ob er oder sie Frau Giffey für eine integre Kandidatin hält, die es verdient, die kommende Regierende Bürgermeisterin Berlins zu werden. Ohne Zweifel hat sie menschliche Qualitäten, die in der Politik zunehmend seltener werden, aber moralisch ist sie aus meiner Sicht verbrannt und unwählbar.
Zu bedenken ist zuletzt, dass der GB „Wissenschaft und Forschung“ seit 2016 durch die Senatskanzlei bzw. den Regierenden Bürgermeister selbst vertreten wird. Falls Giffey wirklich Regierende BM werden sollte, kann sie unmöglich diese Geschäftsverteilung so lassen, das wäre – zumal in einem Land mit Exzellenzuniversitäten – höchst unglaubwürdig! Und würde die Berliner Wissenschaftslandschaft in keinem guten Licht dastehen lassen.
Es sollte nicht oder weniger darum gehen, ob sie „ihr Wort gehalten“ hat (nur, weil das in der Politik seltener wird, kann das nicht der Maßstab sein), sondern mehr darum, was der eigentliche Grund für ihren Rücktritt ist.