LdN236: PLURV - Die Wissenschaft hat immer recht

Der Wert einer solchen Unterscheidung ist z.B., dass man damit sehr wohl eine Ideologie wie z.B. den Marxismus (oder meinetwegen auch den Neoliberalismus) zerlegen kann in

  1. überprüfbare Tatsachenbehauptungen und
  2. normative Aussagen, also Bewertungen oder Zielvorstellungen, die man teilen oder ablehnen kann.

Dass Empirie ein schwieriges Geschäft ist (Stichwort „Replikationskrise“), macht sie nicht überflüssig oder irrelevant und stellt diese Unterscheidung nicht in Frage.

Eigentlich sind Aussagen der Kategorie 1 und 2 auch schon formal ganz gut unterscheidbar (außer im Feuilleton, wo sprachliches Imponiergehabe wichtiger ist als gedankliche Klarheit).

Die Unterscheidung zwischen normativ und deskriptiv kann man doch auf alles Mögliche anwenden ohne dass es eine Ideologie ist. Selbst wenn du eigentlich so etwas wie Weltanschauung meinst, lässt sich zwischen diesen so nicht Unterscheiden und genau das ist das Problem der Totalitarismustheorie.

Mal abgesehen von der Frage ob und inwiefern man neutral und damit objektiv deskriptives Wissen herstellen kann, hilft die strikte differenz zwischen Tatsache und Ideologie nicht dabei zu analysieren, wie sich Ideologien konstruieren und historisch entwickelt haben.

In den epistemologischen Debatten auf die du glaube ich anspielst geht es, um die kategorialen Vorprägungen welche den objektiven Chrakter deskriptiver Aussagen infrage stellen bzw nach normativen Hintergrundprämissen gefragt wird. Nicht, um die formale Unterscheidung zwischen normativ und deskriptiv.

Ich habe nicht gesagt, das empirie nutzlos ist ich habe nur daraufhingewiesen dass Empirie ohne theoretische Einbettung kaum Aussagekraft hat.

Was ist denn eine Weltanschauung letztlich anderes als eine Ideologie?

Sie muss dabei ja auch nicht „helfen“. Aber es ist in jedem Fall eine empirische Frage. (Gute Empirie bezieht sich natürlich auf Theorien oder führt zur Theoriebildung, da gebe ich Dir Recht.)

Was ich jenseits dieser Anmerkungen sagen will, ist eigentlich, dass ich ein gewisses Problem mit marxistischen Theorien in der Wissenschaft habe und das ist, dass hier oft nicht eigentlich Wissenschaft betrieben wird, sondern Politik. Dass nicht die Theorie überprüft wird, sondern als Argumentationshilfe genutzt wird, um Dinge in einer bestimmten Weise zu interpretieren und bestimmte Schlussfolgerungen nahezulegen.

Die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Aussagen wird dabei oft verwischt (oft durch schwer verständliche Sprache) oder explizit negiert (wie in der sog. Kritischen Theorie).

Was Ideologie ist hängt von Ideologiebegriff ab und das hängt von der analytischen Nützlichkeit im Hinblick auf dein Forschungsziel und der theoretisch konsistenten Konstruktion.
Der Begriff der Weltanschauung beschreibt halt kaum etwas.

Naja aber verschiedene theoretische Perspektiven führen halt zu verschiedenen Schlussfolgerungen und Interpretationen. Ich mein, wenn deine theoretische Perspektive nur aus dem eigenen Sexismus und ahistorischen Vorstellungen von Sexualität und Individuum besteht kommt man auch auf Schlussfolgerungen, dass alle Frauen grundsätzlich ihre Sexualität als Ware verkauft hätten (siehe theory of sexual economics).
Man überprüft sie halt auf ihre Konsistenz und Erklärungskraft, dass ist ja genau die Überprüfung der Theorie. Theorien die nichts erklären oder deren Zusammenhänge anderen Erkenntnissen wieder sprechen werden verworfen. Einige Theorien überleben auch, wenn diese institutionell nur stark genug verankert sind (die Wiwis stören sich ja bis heute nicht daran, dass die psychos dem Homo oeconomicus modell widersprechen). Aber „der“ Marxismus ist nun wirklich nicht stark verankert in den heutigen Institutionen. Es sei denn alle konstruktivisten, poststrukturalisten und postmodernen sind jetzt auf einmal auch Marxisten. Gerade deshalb hat man den Positivismus ja verworfen ^^

Du meinst wahrscheinlich Adorno und Horkheimer, nicht alle Autoren der kritischen Theorie haben so geschrieben. Aber die sprachkritik ist nen alter Hut (letztes mal wars glaube ich die sokalaffäre), dessen Intension stets etwas fragwürdig ist. Denn während beispielsweise sokal oder auch lazarsfeld in seiner Kritik an Adorno stets sehr begrenzt auf Probleme hinweisen, wird dies meist nur benutzt ganze wissenschaftliche Bereiche oder Theoriegruppen zu delegitimieren. Dieser Verallgemeinerung bedienst du dich hier auch.
Eigentlich hätte ich gerne nen Verweis zu der Negationsbehauptung, andererseits finde ich die gegenüberstellung von empirisch und normativ seltsam. Deskriptiv/normtaiv und empirisch/theoretisch.

Sehr passende, aber auch schön unwissenschaftliche Aussage zu diesem Thema: Ideologie ist wie Mundgeruch - das haben immer nur die anderen :wink:

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Erstmal grundsätzlich Zustimmung zu Deiner wissenschaftstheoretischen Ausführung inkl. Homo oeconomicus. Da sind wir offenbar nicht auseinander.

Möglicherweise sind sie nicht mehr streng genommen und im engeren Sinne marxistisch zu nennen. Aber diese Theorien haben doch typischerweise genau dieses normative Problem (sowie das Unverständlichkeitsproblem, s. Sokal.)

Ich dachte eigentlich, man hätte ihn wegen des Induktionsproblems verworfen, das dann Popper mit dem kritischen Rationalismus gelöst hat?

Naja, das ist meine Zusammenfassung. Nach meinem Verständnis haben die doch eine rein erklärende, nicht normativ-kritische Wissenschaft als affirmativ abgelehnt. Oder täusche ich mich da?

Meine Gegenüberstellung ist ja keine rein sprachliche Bildung von Gegensatzpaaren. Ich habe eine Wissenschaft, die mit Theorie überprüfbare Aussagen generiert und diese mit Empirie prüft und damit die Welt erklärt einer normativen Bewertung und Formulierung von Werten und Zielen gegenüberstellen wollen. Ich glaube, diese Unterscheidung gehen Sie, oder?

BTW: Sind wir jetzt eigentlich beim Du Oder Sie? Ich mache das mal so mal so…

So ein erfreulich kluger Beitrag !!!

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Na ich dachte beim du ^^

Ich geh mal von den epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Fragen weg. Ich glaube, beim Positivismusstreit und konstruktivistischen Fragestellungen werden wir uns nicht einig. Das hatten wir schon bei Harris.

Worauf wir uns sicherlich einigen können ist, das Publikationen deutlich regider überprüft werden müssen.
BTW es ist echt traurig was die Sokal Affäre produziert hat. Irgendwie wurde es scheinbar zu akzeptablen Praxis Fake Artikel zu schreiben, wie dies die sokal squadred tat. Trotz der angeblichen Intention stecken, ist sowohl die Art und die Kritik vor allem performativ und nicht inhaltlich. Entsprechend steckt gerade beim squadred auch die Intension dahinter über öffentlichkeitswirksame Deligitimation spezifischer Bereiche, gewisse Narrative zu bedienen. Weshalb sich der verantwortliche Prof natürlich auch über Orthodoxie des Gender beschwert. Etwas das ich bei dem Medichlorianer Artikel in molekularer Biologie nicht stattfand.
Mit Referenz auf die Reproduktionskrise und um die Sache noch auszuweiten, das Problem das unüberprüfte Studienergebnisse mittlerweile falsch in Medien (siehe TED talks) dargestellt, zeigt neben dem Problem der Logik des heutigen Wissenschaftssystem vor allem auf ein Problem im Wissenschaftsverständnis auf.
Das liegt allerdings weniger in der Frage wissenschaftstheoretische Paradigma, als vielmehr einer veralteten Vorstellung von Wissenschaft in der Gesellschaft.

Findest du nicht, dass hier eine Analyse der Verwertungslogik von Wissenschaft im kapitalistischen System ein Teil einer hilfreichen Analyse sein kann ?

Das theoretische Framework von postrukturalisten ist nicht marxistisch, gerade am Begriff der Aufklärung wird das deutlich. Unabhängig davon ob die Strukturmerkmale die du nennst wirklich gleich sind, ist es nicht sinnvoll Theorien mit unterschiedlichen Prämissen, die teils sogar im Konflikt zu einander stehen aufgrund oberflächlich gleicher Strukturmerkmale Zusammenzufassen, das war schon das Problem der Hufeisenschmiede der Totalitarismussler.
Zu mal ich nicht ganz weiß was du mit normativen Bezug hier meinst, ich habe ein wenig das Gefühl, dass du hier die Anwendung und die Theorien selbst hier vermischt. Gerade Foucault aber auch Derrida sind in ihren Theorien vor allem despriktiv. Meist wird Postrsturalist*innen doch eher Relativismus vorgeworfen. Diese Kritik findet sich auch in der kritischen Theorie wieder.

Die wichtigste Gemeinsamkeit dieser extrem heterogenen Theorien ist der Verweis auf den prägenden Aspekt der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die eigene Wahrnehmung. Die historische Problematik eines Neutralitätspostulats ist doch überhaupt nicht strittig. Die Konstruktion, jetzt habe man allerdings wirklich Neutralität erreicht, funktioniert immer nur über die historische Abspaltung und Grenzziehung, die es so nie gab. Thomas von aquin hatte einen Begriff von „empirie“ und Lockes philosophy basiert auf der Existenz Gottes. Entsprechend hätte sich die Rassentheorie und der Nationalsozialismus irgendwie entgegen der damaligen Vorstellung von Vernunft entwickelt. Warum sollte man sämtliche Theorien welche auf diese belegbare Problematik verweisen grundsätzlich als normativ stigmatisieren. Allein der Versuch der Auseinandersetzung mit dieser extrem schwierigen Problematik ist doch die Möglichkeit, nicht in die selben Fehler zu verfallen und damit so etwas wie Wissen zu erzeugen. Wie soll man denn bitte diese Einflüsse des praktischen Lebens in unserer Gesellschaft reflektieren, wenn man keinen Begriff davon hat, was zentrale Elemente seiner Strukturierung sind. Selbst Luhmanns rein deskriptive Systemtheorie basiert auf einem konstruktivistischen Ansatz.

Ich muss gestehen im Bezug auf Sokal, dass ich mich etwas schwer tue wenn sich fachfremde Menschen über Unverständlichkeit beschweren. das passiert halt, wenn sich Wissenschaften ausdifferenzieren. Es würde ja keiner hingehen und argumentieren, dass die theoretische Physik unverständlicher Unsinn wäre. Hier fehlt ja bei einigen Großtheorien auch der empirische Beweis. Es ist auch ehrlich gesagt auch ziemlich nervig sowohl von nawis aber auch ziemlich vielen anderen Leuten, zu glauben philosophy, sozialgeistes- und geisteswissenschaften seien selbst evidente Wissenschaften

Naja, normativ kritisch ist das Ziel als Endpunkt des Projekts kritscher Theorie. Die Analyse der Gesellschaft in ihrer Totalität kann allerdings durchaus auch in Teilen deskriptiv sein, sie darf halt dort nicht enden. Adorno hat sich ja selbst in empirischer Arbeit versucht mit F-Skala ^^. Dann gibts halt noch die positive Bezugnahme auf die Aufklärung, damit haben Adorno etc. jedoch wesentlich mehr gemeinsam mit den Positivsten als mit den Poststrukturalisten.

ich glaube auch um diese Punkte etwas zusammen zu führen, dass wir über die instrumentelle Funktion bzw. Gebrauch von Wissen eher zusammen kommen. Denn ich würde behaupten zumindest gesamtgesellschaftlich ist die Frage der Einordnung und der Verwendung von Tatsachen fast entscheidender als Frage ob wir von Tatsachen sprechen können oder nicht.

Gerne :wink:

Ich habe gar nicht unbedingt den Eindruck, dass wir da so wirklich anderer Meinung sind, aber ok, wir müssen das Thema nicht endlos auswalzen. Ich wollte ja eigentlich nur hinterfragen, wozu marxistische Theorien „hilfreich“ sein sollen - weil sie etwas erklären können oder weil du ihren normativen Zielpunkt teilst?

Da kannst Du ja nochmal drüber nachdenken :wink:

Das ist eine gute Frage. Also die Frage ist halt auch, wie das praktisch aussehen kann. Ich befürworte Open Access-Journals und Preprint-Server haben aus Geschwindigkeitsgründen in der Pandemie eine hohe Bedeutung erlangt. Wie kann da eine Qualitätssicherung aussehen?

Oder der Qualität des (Wissenschafts-)Journalismus. Aber Zustimmung: das theoretische Paradigma ist wahrscheinlich dabei nicht der Kern. Es werden eh wahrscheinlich primär empirische Befunde berichtet, d.h. die von mir kritisierten Ansätze bleiben eher außen vor (außer im Feuilleton natürlich), oder?

Ja, bestimmt. Ich finde die Frage aber sehr abstrakt. Hast Du konkrete Themen im Auge?

Du hast wahrscheinlich Recht. Hier müssten wir deutlich konkreter diskutieren - und ich gebe zu, dass ich da nicht tief genug drinstecke.

Das verstehe ich nicht. Meinst du Theorien, bei denen das Problem auftritt oder Theorien, die es thematisieren/erklären?

Klar. Absolut.

Luhmann ist doch nicht deskriptiv. Er behauptet doch in jedem Satz irgendwelche Wirkungsmechanismen, die er meist als total selbstverständlich und durch Varela/Maturana, Bateson etc. nachgewiesen darstellt.

Das ist aber eine erhebliche Fallhöhe. Ich habe ja so einiges an großspurig formulierter Flachdenkerei aus dem Bereich der Sozialwissenschaft i.w.S. lesen müssen. Nichts gegen Fachterminologie, aber nicht alles, was schwer zu verstehen ist, ist wirklich kompliziert oder gar genial…

Hätte er sich mal darauf konzentriert, statt auf seine elitäre Pose …

Aber egal. Lass uns in der Tat mal das theoretische Kriegsbeil begraben und uns auf Sachfragen konzentrieren.
Schönen Abend noch!

Interessant. War mir bisher noch nicht bekannt. Danke für Deinen Input.

Zum Thema Qualitative Forschung: Ist doch eigentlich eine umfassende Analyse eines Phänomens mit dem Ziel Entwicklung neuer Theorien? Also eine induktive Vorgehensweise durch eine möglichst detaillierte Gewinnung von Informationen und einer eher interpretative Auswertung. Wird dabei nicht auch versucht, eine These zu formulieren und die Gegenthese zu falsifizieren?

Qualitative Forschung ist oft explorativ. Das heißt, sie zielt auf die Erschließung neuer Gegenstandsbereiche ab und/oder auf die Generierung von Theorien.
Wenn man Hypothesen formuliert und versucht, sie zu falsifizieren oder verifizieren (Popperianer*innen bitte überlesen), dann hat man ja schon eine Vorentscheidung für eine Theorie getroffen, von der man besagte Hypothesen ableitet. Man bewegt sich dann also vermutlich typischerweise nicht im qualitativen Paradigma.

Man kann sich das Ganze auch anders veranschaulichen: Da, wo Popper ansetzt, ist schon ziemlich viel Denkarbeit passiert. Wie genau die passiert, thematisiert er kaum. (Bzw. da, wo er es tut, weist er sie als eher unsystematisch/dem Zufall überlassen aus.) In qualitativer Forschung wird versucht, diesen Bereich systematisch anzugehen. (Lange her, dass ich Popper gelesen habe, also keine Gewähr auf Details.)

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Auf jeden Fall ermuntert Popper zu Transparenz und Kommunikation: Inetwa so „Ich zeig dir meine Erkennnisse, du zeigts mit deine - wir hören uns zu (im Bewußtsein vielleicht selbst falsch liegen zu können) und so können wir beide nur gewinnen!“. Diese Haltung als Tugend zu pflegen finde ich eine prima Systematik. (ja natürlich, auch try+error und andere Methoden sollen sich gern dazugesellen).

Das ist inetwa das Gegenteil von dem was heutige Ökonomie mittels - systematischer - Abschottung macht.

Da würde Popper m.E. zustimmen. Ist aber auch bei mir schon etwas her.

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Ich hatte mich in meinem Fall auf das Begriffsverständnis der Deskriptiven Linguistik bezogen, nicht auf einen mehr oder weniger sozialwissenschaftlichen. Den Rest der wissenschaftstheoretischen Diskussion lese ich aber mit großem Gewinn.

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In der SZ ist heute ein sehr ausführlicher Artikel über PLURV erschienen. PLURV als „Impfung für den Geist“ (leider hinter Paywall)

Gerade macht nun eine Art Werkzeugkasten die Runde, mit denen sich Desinformationen bekämpfen lassen. Unter dem Akronym PLURV sind die wichtigsten Mechanismen der Wissenschaftsleugnung im Gewand der Wissenschaft zusammengefasst: Pseudoexperten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen. Auch dieser Werkzeugkasten wird das Problem nicht lösen, aber er kann einen Beitrag leisten und ist einen längeren Blick wert.

(…)

Es gehe darum, „irreführende oder manipulative Argumentationsstrategien“ zu erkennen und so vor deren Wirkung zu schützen. Es handelt sich um eine Art Impfung des Geistes, wenn man so will, welche die Bildung kognitiver Antikörper stimuliere. Das klingt zwar ein bisschen gruselig, jedoch handelt es sich lediglich um gute, effektive Aufklärungsarbeit. Die Genese von Falschinformationen zu erklären und das Publikum einer abgeschwächten Dosis dieser Inhalte auszusetzen, wecke kritische Abwehrkräfte.