LDN234: R-Studie zu Ansteckungsrisiko

Hallo,
irgendwie ist mir die R-Studie zu den Ansteckungsrisiken zu oberflächlich und zu unkritisch behandelt worden.

Wenn ich in die Studie (laut dem PDF in den Shownotes) rein schaue finde ich für Schulen und Büros unterschiedliche R-Wert-Anteile. Im Text ist auf Seite 3 der genannte Wert von 0,2 aufgeführt. Im Anhang in der Tabelle 1 ist allerdings von 0,3 die Rede.

So richtig ist mir beim Querlesen auch nicht klar wie sie auf diese Werte kommen. Alles nur mathematische Modellierung? Auf welcher Basis? Daher möchte ich die Werte einmal grundsätzlich kritisch hinterfragen. Nicht irgendeinen einzelnen Wert, aber die Relation zwischen den Werten. Denn ich frage mich da schon, wie es sein kann, dass ein Gastronomie-Besuch (innen, ohne Schutz) einen deutlich höheren R-Wert hat als Schulen (ohne Schutz): 0,5 vs. 0,3. Genauso finde ich die Relation zwischen Büro und privaten Treffen unlogisch. (0,3 vs. 0,6). Wenn ich als einzelner Ansteckender täglich ins Großraumbüro gehe, dann werde ich doch aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Menschen infizieren, als wenn ich mich 1-2 Mal in der Woche privat mit einer befreundeten Familie treffe. Gerade bei privaten Treffen hängt der R-Wert sehr von der Anzahl verschiedener Kontakte ab. Wie dies berücksichtigt worden ist, habe ich nicht gefunden?

Hinzu kommt, dass sich diese Bereiche auch noch überschneiden können. Im obigen Beispiel würde ich als Ansteckender z.B. mit einem privaten Besuch 3 Personen aus einem Haushalt anstecken. Eine solche Infektion senkt allerdings wiederum den R-Wert innerhalb eines Haushalts, da sich diese 3 Personen nicht nochmal innerhalb ihres Haushalts anstecken.

Wenn ich hier also nicht etwas grundsätzlich falsch verstanden habe, scheint mir diese Studie also in die beliebte Kategorie „Wissenschaft die Unwissen schafft“ zu gehören. Vor allem da es von der TU Berlin eine zweite neue Studie gibt, die auch R-Werte für verschiedene Lebensbereiche untersucht hat (mit realen Versuchen und Tests) und die zu ganz anderen Verhältnissen kommt:

https://depositonce.tu-berlin.de/handle/11303/12578

Fun Fact am Rande: Die Tagesschau vom 22.03.2021 hat die Zahlen dieser Studie in einer Grafik verwendet. Leider haben sie sie verfälscht, indem sie die hohen Werte für die Schule einfach mal weg gelassen haben (https://twitter.com/HerrNaumann/status/1374380348432257031)

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Eine Modellierung ist „Modus Covid“, aber als wissenschaftlich würde ich das in den Shownotes verlinkte Paper nicht unbedingt bezeichnen, sonst müsste da ja in der Tat etwas darüber drinstehen, wie sie auf diese Werte kommen. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Modellierung auf der anderen von Dir erwähnten Modellierung der TU aufbaut. Aber auch die rechnet ja mit sehr abstrakten Settings. Zudem erscheint mir die Idee, dass jeder Mensch quasi seinen persönlichen R-Wert hat, etwas fragwürdig. (Zur Diskussion über den R-Wert siehe https://talk.lagedernation.org/t/inzidenz-unter-10-oder-50/5756/11.) Dennoch taugt die Studie sicher zur Illustration, wie unterschiedlich risikoreich unterschiedliche Settings sein können.

„Verfälschen“ finde ich einen ziemlich harten Vorwurf. Sie haben a) für die Fitnessstudion den Wert vertauscht (3,4, statt wie angegeben 5.8) und b) Schulsettings ohne Maske weggelassen, die es in der Praxis eh kaum noch gibt.
Gerade die Schulsettings zeigen aber, dass es so einfach wie im Modell in der Realität eben nicht ist. Dem TU-Modell zufolge müsste ja ein:e Infizierte:r je nach Besetzung und Masken in der Schule zwischen 3 und 11 andere Personen anstecken. Die Studien, die tatsächlich in Schulen stattgefunden haben, kommen aber auf viel niedrigere Werte - das habe ich woanders schon mal ausgeführt: LdN 225: Zu früh, um über Lockerungen nachzudenken? - #19 von kaigallup

Hallo, liebes Lage-Team,

auch ich wurde durch die von Euch zitierten Ergebnissen der Studie aufgeschreckt. Waren die weit verbreiteten Annahmen also so falsch und kontraintuitiv? Ist tatsächlich das Infektionsrisiko im (geschützten) Berufs-, Arbeits- und Wirtschaftsleben nur so hoch wie (ungeschützte) Schulen und nur ein wenig höher als wenig höher als (ungeschützte) Privatbesuche? Der (FFP2-geschützte) Einzelhandel weitgehend unbedeutend? Was ist mit ÖPBV? Und wurde der bei den Themen Arbeit, Schule und Privatbesuche berücksichtigt? Mir schienen die Ergebnisse Wasser auf die Mühlen derjenigen zu sein, die sich zum jetzigen Zeitpunkt für vorsichtige Öffnungen aussprechen. Und dass Vieles dem widerspricht, was ihr in den letzten Monaten angenommen hattet.

Nun, ein ernsthafter Diskurs muss erlauben, dass man in seinen gedanklichen Grundfesten erschüttert wird. Ich habe mir daher die Studie ausgedruckt und gelesen. Ich verstehe die wesentlichen Punkte des Papiers wie folgt. Ich bin aber kein Wissenschaftler, schon gar kein Naturwissenschaftler und daher steht alles, was ich im Folgenden schreibe, unter großen Vorbehalten - das ist ein „Ruf nach Schwarmintelligenz“ an alle Forenteilnehmer!

  1. Die Ergebnisse beruhen auf Modellrechnungen, nicht auf Messungen. Das ist ein durchaus valides Verfahren. Die Qualität der Aussage steht und fällt aber dann mit den Annahmen, die in die Modellrechnung einfließen. Basieren diese Annahmen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Da aber aus dem von Euch zitierten Bericht zum aktuellen Stand der Modellrechnungen genau diese Annahmen und deren Validieren nicht hervorgehen, kann zumindest ich die Qualität der Studie nicht beurteilen. Ich hätte dazu sehr gerne mal eine 2. Meinung durch fachlich versierte Wissenschaftler.
  2. Wie Ihr gesagt habt: Ganz voran stellen die Autoren die Feststellung, dass die 3. Welle nur dann vermieden werden kann, wenn Maßnahmen implementiert werden, die stärker wirken als die vom Januar. Wobei zu dem Zeitpunkt des Berichts wir ja schon voll in der 3. Welle waren!
  3. Wetter und Impfungen werden die 3. Welle nicht aufhalten - hattet Ihr auch gesagt.
  4. Wirksame Schutzmaßnahmen sind (in dieser Reihenfolge?): Masken, Impfungen, Schnelltests, Verlagerung von Kontakten nach draußen, Vermeidung von Kontakten im Innenbereich (Reduzierung der Personendichte), Einbau von Filtersystemen (was von der Politik bislang weitgehend ignoriert wurde). Hattet Ihr auch gesagt.
  5. Der Unterschied zwischen (ich nehme an: mit PPF2-Masken) geschützten und ungeschützte Kontakte ist „dramatisch“. Bekannt.
  6. In einer Gesamtstrategie sollten alle Bereiche beteiligt werden, statt in einem Bereich eine weitere Schutzmaßnahme hinzuzufügen: Eigner Haushalt, Arbeit, Schulen, Einzelhandel, Gastronomie, private Kontakte, Veranstaltungen, Öffentlicher Verkehr.
  7. Nicht nachvollziehen konnte ich die z.T. massiven Diskrepanzen der R-Wert-Beteiligungen von Haushalt, private Besuche, Arbeit und Schule zwischen der Zusammenfassung auf Seite 3 und den entsprechenden Werten in der Tabelle auf Seite 16. Siehe unten.
  8. Wenn ich alle R-Beitrags-Werte zusammen addiere, müsste ich doch auf den R-Wert der Mutante B117 ohne jeglichen Schutz kommen. Ist das tatsächlich 2,16? Oder fehlen da noch Bereiche?
  9. Der hohe Beitrag von Übertragungen im Haushalt (0,5) führen die Autoren auf fehlende Hotelquarantäne zurück, halten aber diese Übertragungen für „unvermeidbar“. Warum ist Hotelquarantäne nicht möglich?
  10. Völlig kontra-intuitiv erscheint mir der Wert für den Einzelhandel: Ungeschützt nur 0,1? Auch dass ungeschützte Kontakte bei der Arbeit nur mit 0,2 beitragen, fällt mir schwer zu glauben.
  11. Die Autoren fordern, dass private Treffen, Kontakte bei der Arbeit und Schulen stärker als bisher einbezogen werden müssen.
  12. Zur Eindämmung der Kontakte durch private Treffen verweisen sie auf Großbritanien, wo im Lockdown der Aufenthalt im öffentlichen Raum zum Zweck des privaten Besuchs verboten war, oder auf abendliche Ausgangssperren. Alternativ: Selbsttests oder Verlagerung nach draußen, entweder als freiwillige soziale Norm oder durch staatliche Kontrolle (ich glaube, die zählen hier nur die denkbaren Möglichkeiten auf).
  13. Zur Eindämmung von Ansteckungen in Büros empfehlen sie Maskenpflicht außerhalb von Einzelbüros oder Homeoffice oder Schichtbetrieb
  14. Zur Eindämmung von Ansteckungen in den Schulen: Maskenpflicht (wird außerhalb des Unterrichts unterlaufen), Schnelltests, Wechselunterricht - zwei von 3.
  15. Außerdem haben sie Wirkungen von Schnelltest-Strategien für Schulen modelliert. Dabei nehmen sie an, dass diese 70% der ansteckenden Personen erkennen und diese sofort nachgetestet werden und in Quarantäne gehen. Im Ergebnis können wöchentliche Schnelltests alleine nicht das exponentielle Wachstum stoppen (auch dann nicht, wenn auch im Arbeitsbereich 1x / Woche getestet würde). Ob wenigstens 2 Tests pro Woche ausreichen oder zusätzlich 20% aller Personen bei ihren Freizeitaktivitäten getestet werden müssen, ist mir nicht ganz klar geworden. Voraussetzung: Alle Schüler werden getestet und jeder Positive geht in Quarantäne. Wenn die Schnelltest zuhause durchgeführt werden, sind diese Voraussetzungen wenigstens zweifelhaft. Und: Solange nicht genügend Tests zur Verfügung stehen, um in Schule, Arbeit und Freizeit (private Treffen??) ein, besser 2x / Woche zu testen, braucht es unbedingt zusätzliche Maßnahmen.
  16. Zur Frage, wie das Infektionsgeschehen durch die Mobilität zwischen Regionen beeinflusst wird, d.h., ob es sinnvoll ist, dass einzelne Gebietskörperschaften unabgestimmt Maßnahmen ergreifen, sagen die Autoren: Gebiete mit niedrigen Fallzahlen können diese nicht aufrecht erhalten, wenn andere Gebiete, zwischen denen es einen Austausch gibt, das nicht tun (Zusammenfassung, TLDR diesen Abschnitt).

Gemäß der Tabelle auf Seite 16 sind die R-Wert-Beteiligungen (im Vergleich dazu die Werte auf Seite 3):

  • Private Besuche/Treffen/Feiern innen ohne Schutzmaßnahmen: 0,5 (0,6 - das ist der Wert „wenn Restaurants geschlossen und Feiern verboten sind“ ???)
  • Private Besuche/Treffen/Feiern innen mit Maske / im Außenbereich: 0,03
  • Arbeit ohne Schutzmaske: 0,3 (0,2)
  • Arbeit mit FFP2-Maske am Arbeitsplatz, Einzelbüro und Homeoffice (???): 0,03
  • Schulen ohne Masken und Wechselunterricht: 0,3 (0,2)
  • Schulen mit Masken und Wechselunterricht: <0,01 - wie erklärt das die aktuell stark ansteigenden Infektionen im Schüleralter?
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