LdN228: Produktion/Zukunft von Corona-Impfungen und a bisl Jojo

Hallo zusammen
Wie so häufig eine sehr gute Folge, bin mittlerweile seit gut zwei Jahren am Zuhören, finde vor allem die juristischen Beurteilungen und Erklärungen immer hervorragend.
Jetzt wollte auch ich mal meinen Senf dazugeben, da die Thematik doch auch in mein Fachgebiet hereinragt. Ich arbeite im RnD eines Zulieferers der Biopharmaindustrie (für Produktion). Und ich würde gerne klarstellen, dass ich seit über 9 Jahren in der Schweiz lebe, wo die Dinge politisch, gesellschaftlich und medial doch deutlich anders laufen; ich bin also von den Massnahmen in Deutschland nicht direkt betroffen.

Zur Impfstoffproduktion:
Ihr habt es in der Folge 227 ja bereits kurz aufgegriffen, aber ich wollte auch nochmals betonen, dass die jetzt vermisste grössere Investitionsbereitschaft in neue Produktionsanlagen im letzten Jahr mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht zu signifikant grösseren Produktionsmengen jetzt geführt hätten. Ich sehe dabei folgende Hinderungsgründe, die nicht durch Zuschütten mit Geld gelöst werden können:

  1. Verfügbarkeit der Anlagen für neu zu errichtende Standorte: Die Menge an Anbietern und deren Produktionsmengen für Anlagen ist aller Wahrscheinlichkeit nach letztes Jahr voll ausgelastet gewesen (das ist eine Vermutung meinerseits). Es handelt sich bei diesen Anlagen ja auch nicht um Maschinen, die irgendwo unter beliebigen Bedingungen herstellbar sind, da die Herstellung der Anlagen selbst auch qualifiziert sein muss.
  2. Verfügbarkeit eines qualifizierten Personalstamms: Die ablaufenden Prozesse folgen zwar mehr oder minder strengen Rezepturen, jedoch muss das Personal dafür qualifiziert sein, sowie trainiert und eingespielt, damit keine oder zumindest wenig Fehler passieren. Zum Beispiel hat Biontech das Werk in Marburg eben nicht selbst aufgebaut und neues Personal eingestellt, sondern von Novartis ein existierendes Werk übernommen.
  3. Verfügbarkeit der Rohstoffe: Hier gilt das gleiche wie bei den Anlagen selbst. Produktion muss hochgefahren werden, unterliegt aber als Rohstoff für die Produktion natürlich selbst auch bestimmten Qualitätskriterien und Qualifizierungsbestimmungen, ist daher nicht einfach so in neuen Werken skalierbar. Da hilft es auch nicht, dass Moderna und Biontech praktisch zum ersten Mal diese Molekülart - und dann gleich in riesigem Massstab - zugelassen bekommen haben.
  4. Lagerung und Vorausproduktion: Dies ist klar mein schwächstes Argument hier, ich habe bisher aber keine Argumentation in diese Richtung gehört, daher würde ich es gerne darlegen. Gross angelegte Produktion im Voraus der Zulassung kann nur in dem Massstab erfolgen, wie es Lagerung und vor allem Haltbarkeit zulassen. Die Lagerung ist wohl speziell bei Biontech/Pfizer schwierig, aber als Limitierung auch generell gültig. In diesem Punkt erlaubt mehr Geld hauptsächlich das Risiko eines erfolglosen Zulassungsersuchs und der damit einhergehenden nutzlosen Produktion abzufedern.

Notiz am Rande: Im Vergleich zu UK und Israel (ich glaube LdN 227) sollte auch erwähnt werden, dass dort der AstraZeneca Impfstoff bereits länger als mittlerweile 2 Wochen (EU) zugelassen ist.

Für das Big Picture:
Auch würde ich gerne nochmals hervorheben, dass wir innerhalb von weniger als 12 Monaten mehr als einen zugelassenen (nicht einmal per Notfallzulassung) Impfstoff zur Verfügung haben. Im Frühjahr 2020 wurde von etwa 18 Monaten geredet, inklusive aller nicht sicherheitsrelevanter Shortcuts. Es läuft mit Sicherheit nicht alles ideal, speziell im politisch beeinflussbaren Bereich (siehe Terminvergabe, Auszahlung von Hilfsgeldern, …), aber wir stehen auf der Impfseite mit Sicherheit besser da als es vor 12 Monaten prognostiziert worden wäre, wenn auch nicht aufgrund politischer Entscheidungen, sondern der Arbeit der Wissenschaftler und Ingenieure.
Es gab diesbezüglich auch einen sehr interessante Beschreibung des deutschen politischen Systems (und seiner Shortcomings) im Schweizer Radio (gibt es auch als Podcast ohne mögliches Geoblocking):

Dies stimmt mich zuversichtlich, dass es die deutsche Bürokratie vielleicht nicht schnell, aber im Endeffekt doch schaffen wird. Hoffen wir, dass es schnell genug geschafft wird, also im Sommer, wenn die Impflieferungen eine Grössenordnung höher ist als heute.

Zusätzlich sollte klar sein (wie Prof. Drosten im Corona-Update auch gesagt hat), dass in egal welchem Impf-Szenario die jetzige Situation nicht anders wäre als sie ist. Dafür hätte man im letzten Spätsommer anders handeln müssen. Wenn man sich allerdings dazu das damalige Medienecho auf den Soft-Lockdown ansieht, wird klar, dass selbst diese milden Massnahmen abgelehnt wurden. Ja, man hätte da wohl mutiger sein müssen, strengere Regeln einzuführen. Dies kann man jetzt kritisieren. Ich finde allerdings nur, wenn man selbst die Regeln damals auch für zu milde gehalten hat, ansonsten ist es doch eher scheinheilig, sich im Rückblick zu beschweren.

Seit den Diskussionen über Verschärfungen im November war Merkel durchweg für strengere Regeln als die Landesministerpäsidenten. Ich stimme daher mit der Kritik aus dem Spiegel nicht vollständig überein, dass Merkels sonst reaktive Politik hier überhaupt vorgekommen wäre. Der Lockdown hätte dann wahrscheinlich bereits Mitte November begonnen, nicht erst Mitte Dezember, und hätte für einen früheren und vor allem deutlich tieferen Inzidenzgipfel gesorgt.
Mir scheint die bisherige Politik daher nicht sonderlich Jojo-artig zu sein, ich habe eher den Eindruck, dass die anstehenden Öffnungen darüber entscheiden, ob man ein Jojo-Verhalten erhält oder nicht. Mein persönlicher Standpunkt liegt dabei auch auf Linie mit „No COVID“, wobei ein Plan per Inzidenz, nicht per Zeit, wirklich ne feine Sache wäre.

Zur Zukunft der Corona-Impfungen:
Ich denke es wird ähnlich wie bei der Grippe auf eine jährliche Impfung im Herbst hinauslaufen, die mögliche Mutationen über das Jahr hinweg mit aufnimmt und fakultativ durchgeführt wird. Es geht ja eben nicht darum, dass niemand erkrankt (im Sinne einer Erkältung), sondern darum schwere Verläufe zu verhindern. Wir sind in der Vergangenheit ja auch nicht jeden Herbst in einen Lockdown gegangen, weil viele Leute eine Schniefnase hatten. Ähnlich der Grippeimpfung, ist diese dann auch speziell für Risikogruppen (da wie hier u.A. die Älteren) angeraten. Aber ich denke nicht, dass dafür auf lange Sicht hin 60 Mio. Doppelimpfungen im Jahr ablaufen werden. Das wird wahrscheinlich nach 2 Jahren abflauen (ich kenne nur wenige Grippe-Geimpfte in meinem Umfeld, hauptsächlich ca. 30-Järige). Daher halte ich einen übermässigen Produktionsausbau für fragwürdig, speziell weil im Laufe der Zeit (und eher früher als später) weitere Impfstoffe auf den Markt kommen werden und sich diese langfristige Situation allein dadurch entspannt wird. Wie oben geschrieben lässt sich die kurzfristige Situation wohl nicht mit Geld allein entspannen.

Zum Abschluss Mit dem Blick aus der Schweiz fällt vor allem Folgendes über Diskussionen in Deutschland auf: Es herrscht bei den meisten Themen ein Klima der Empörung und Skandalisierung vor, das eine sachliche Diskussion immer schnell verdrängt und auf im Endeffekt nebensächliche Umstände lenkt, die im nachhinein niemandem geholfen haben und es auch in der Folge nicht werden. Das Big Picture scheint mir häufig verloren zu gehen. Als Beispiel seien Landespolitiker angeführt, die sich im Zuge der knappen Impfmengen über die EU beschweren, während die eigenen Gesundheitsämter immer noch faxen müssen. Die Beschwerde wird nichts ändern - ausser wahrscheinlich Verdrossenheit zu fördern - , die Modernisierung der Behörden liegt aber (eher) in ihrem Einflussbereich und würde z.B. Tracing vereinfachen. Ich sehe zwar dass meine Argumentation hier leicht zum WhatAboutism neigt, wollte aber hauptsächlich den medialen Einfluss dessen herausstellen (Fokus auf Impfmengen, Ablenkung von eigenen Shortcomings).

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