LdN228 – Nawalny

In der aktuellen Folge sagt Philip sinngemäß, dass Deutschland in Bezug auf Nawalny ja auch nicht einfach nichts tun könne. Sich so der Diskussion zu entledigen finde ich, sagen wir mal, unterkomplex.

Ich finde an dieser Logik einen Punkt sehr problematisch: Er geht der Prämisse einer vermeintlich neuen, idealistischen Außenpolitik auf den Leim, die in Deutschland insbesondere von den Grünen vertreten wird. Es wird suggeriert, dass bei Menschenrechtsverstößen nicht einfach weggeschaut, sondern vielmehr reagiert werden müsse. Damit lässt sich aber praktisch alles von Nichtkooperation mit einzelnen Staaten über Sanktionen bis hin zu militärischen Interventionen rechtfertigen. Schaut man sich dann aber an, wann solche Argumente gebracht werden bzw. solchen Argumenten Handlungen folgen und wann nicht, fällt auf, dass das merkwürdiger Weise genau auf der Linie einer alten Kalten-Kriegs-Rhetorik liegt.

Oder anders gesagt: Natürlich kann Deutschland auch einfach nicht reagieren, das tut es auch ständig. Wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken, wird weggeschaut und Libyen mit Schnellbooten aufgerüstet; wenn die Türkei einen mörderischen Vernichtungskrieg gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Syrien führt, wird weggeschaut; wenn Saudi-Arabien einen Oppositionellen zersägt, wird weggeschaut; wenn die Vereinigten Staaten Folterlager betreiben und Drohnenmorde von Deutschland aus steuern, wird weggeschaut. Wenn aber Russland (wie leider viele andere Staaten auch) versucht, sich eines Oppositionellen zu entledigen: Dann „müssen“ wir darauf reagieren. Ein Vergleich von verschiedenen Themen ist hier nicht als Whataboutismus gemeint (der Mordversuch an Nawalny soll dadurch nicht beschönigt werden), sondern als Analyseinstrument zum Herausarbeiten der sehr unterschiedlichen Reaktionen.

Es geht mir nicht darum zu fordern, dass Deutschland nicht reagieren sollte. Es geht mir um die Rechtfertigung. Es ist für mich nicht erkennbar, warum Deutschland hier reagieren „muss“ und woanders ständig beide Augen verschließt. Ich finde das Ergebnis ist: Es geht nicht um Demokratie oder Menschenrechte, Staaten handeln interessengetrieben, diese Interessen müssen offengelegt werden, dann kann man sinnvoll über Außenpolitik diskutieren.

Diese vermeintlich neue Außenpolitik ist in Wahrheit Kalter Krieg in Reinform. Das ist auch schön am jüngsten Atomwaffen-Papier der Heinrich-Böller-Stiftung erkennbar (wäre ein gutes Thema für eine Folge Lage der Nation).

Die LdN ist für mich auch deswegen so gut, weil oft kontrovers disktutiert wird, von linken bis wirtschaftliberalen Denker:innen bzw. Positionen alle zu Wort kommen. Leider vermisse ich beim Thema Außenpolitik diese Kontroversität in der Lage der Nation, das macht außenpolitische Themen leider zu einem immergleichen Sermon. Es werden in meinen Augen sehr oft nur Personen mit einer ganz bestimmten Auffassung eingeladen (so zum Beispiel der unerträgliche Ralf Fücks).

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Ich musste bei dieser Wortwahl auch schaudern. Irgendwas müsse man ja unternehmen. Das totalitäre Regime durch Risse in der Elite zum Auseinanderbrechen bewegen. Wer die Opposition stelle sei zweitrangig. Russland soll eine echte Demokratie bekommen.

Das ist viertel vor Regime-Change Rhetorik.

Davon abgesehen, dass man mit Recht fragen könnte weswegen wir uns denn zum Erzwingen einer „Verbesserung“ der Lage berufen sehen, wüsste ich nicht wann sowas je funktioniert hätte.

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chapeau! meiner meinung nach der hier bisher beste beitrag zum thema NS2/Nawalny.

der vielleicht wichtigste satz

In der US-Außenpolitik gilt ganz offensichtlich: wenn Verbündete (Saudi-Arabien, Israel) Menschenrechte verletzten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben usw. dann gilt: wegschauen. Wenn es „Gegner“/„die Anderen“ (Iran, Nordkorea, Venezuela) tuen, dann wird das Militär hingeschickt um die Demokratie zu schützen.
Eine solche Denk- und Handelsweise in der Außenpolitik würde ich so gut wie jedem Staat unterstellen - auch Deutschland. Allerdings machen es wenig andere Länder so offensichtlich wie die USA, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass ihre außenpolitische Machtposition erheblich stärker ist und von mehr Gewaltbereitschaft geprägt. Selbst wenn Staaten, denen Deutschland advers eingestellt ist, Verbrechen begehen, folgt oft nur eine verbale Verurteilung mit a la Heiko Maas jetzt mit Russland. Je nach Stärke des Vergehen, verhängen wir auch mal eine Sanktion.
Und aufgrund der von dir erwähnten Geschichte mit dem Kalten Krieg, wird Russland immer noch eher als Gegner gesehen. Russland selbst positioniert sich „anti-westlich“, insbesondere mit ihren globalen Machtbestrebungen wie in Syrien, die sich gegen EU/Deutschland-Kurs richten. Neo-kolonialistische Außenpolitik ist schließlich nur was für uns Wessis… (und nein, das ist nicht mein Versuch Russlands grausame Assad-Stützung zu rechtfertigen).
Daher finde ich den Hinweis gut. Es ist immer wieder wichtig historischen Kontext einzubeziehen und zu überdenken, warum es uns mehr stört wenn ein Land, was uns unsympathisch etwas tut VS wenn ein Land, was uns sympathisch ist, das Gleiche tut.

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Jedenfalls das ist doch ganz offensichtlich: Menschenrechte gelten universell, und ein Regime, das die Menschenrechte systematisch missachtet, sollte geändert werden. Von mir aus kann ja Putin gerne an der Macht bleiben, dann muss er aber demokratische Wahlen gewinnen, ohne sie zu manipulieren. Und er muss aufhören, die Menschenrechte politischer Gegner:innen systematisch mit Füßen zu treten.

Das sind übrigens Ansprüche, die mit Russland zunächst mal gar nichts zu tun haben, sondern für jeden Staat weltweit gelten.

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dann sollte man zwecks glaubwürdigkeit mit gleichwertiger vehemenz für die einhaltung der universellen menschenrechte eintreten. lennart hat sehr gute beispiele vorgebracht, dass es in der realität anders aussieht. die usa betreiben in polen geheime foltergefängnisse? och, naja … nicht so schlimm?!

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Ja das wär schön. Ich hoffe es ist ebenfalls offensichtlich, dass die Bilanz derartiger Versuche ziemlich vernichtend ausfällt. Wenn ich mir mal diese Liste beispielhaft ansehe, fällt mir da nicht eine einzige Nation auf, von der ich sagen würde dass sie nun besser dran ist. Bestenfalls eine Staatskrise, schlimmstenfalls ein durch Machtvakuum hervorgerufener Bürgerkrieg. Ein wenig mehr Bescheidenheit stünde uns da vielleicht nicht schlecht.
(Soweit ist die Diskussion um Russland zugegeben noch nicht, aber die Richtung finde ich besorgniserregend)

Ich verstehe nicht wie du das schreiben kannst, ohne dass dir dabei die von @lennart angesprochenen Widersprüche auffallen. Man kann sich natürlich streiten, ob nun Folterlager oder Angriffskrieg schlimmer sind als manipulierte Wahlen und Oppositionsunterdrückung. Es macht aber deutlich, dass die Grenze ab der man „etwas tun muss“ arg willkürlich gezogen wird, und schon gar nicht an Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten festgemacht ist.

Das würde ich völlig anders sehen. Alleine in Deutschland hat es schon zweimal geklappt: Wir wurden im 2. Weltkrieg vom Nationalsozialismus befreit, und in der DDR gab es eine friedliche Revolution. „Regime Change“ ist also durchaus möglich.

Natürlich ist eine ganz andere Frage, welche Mittel dazu sinnvoll sind. Kommando-Operationen der CIA haben sich sicherlich nicht gerade bewährt.

Deswegen habe ich von Ansprüchen gesprochen, also von Maßstäben. Dass die in der real existierenden Außenpolitik sehr häufig ungleich angewendet werden ist völlig klar, da würde ich @lennart zustimmen.

Was den Maßstab angeht, da bin ich voll dabei.
Eure Worte - in der Folge jedenfalls - bezogen sich aber ja nicht nur auf die Theorie, nicht nur auf Maßstäbe. Sondern was sich konkret dafür/dagegen tun lässt, z.B. evtl Nordstream canceln. Wenn du so willst die Durchsetzung dieser Ansprüche. Und da stellt sich nach wie vor obige Frage. Wieso müssen wir hier die Maßsstäbe durchsetzen, anderswo nicht.

Sicher kann das gutgehen. Aber es kann eben auch schiefgehen, im worst case mit gravierendsten Folgen für die Menschen vor Ort. Allein schon weil im Fall des Falles andere den Preis für meinen Irrtum zahlen müssten, wäre ich da etwas zurückhaltender.

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Ich würde mal behaupten, dass unter Regime Change für gewöhnlich ein von außen gesteuerter Austausch einer Regierung verstanden wird. Und die von dir genannten Beispiele sind da absolut ungeeignet: Das Deutsche Reich hatte einen Weltkrieg angefangen und wurde deswegen vernichtend besiegt. Ist sicher angebracht, wenn jemand einen Weltkrieg anfängt, hat aber außer Deutschland bisher niemand gemacht, deswegen keine besonders sinnvolle Option.

Das Ende der DDR wurde durch friedliche Proteste eingeleitet und konnte nur wegen des günstigen historischen Fensters (Stichwort Perestroika) und des Gewaltverzichts der Regierungen der DDR und der UdSSR funktionieren. Auch das kann klappen, ist aber von außen nicht wirklich steuerbar. Im Gegenteil würde ich davon ausgehen, dass eine Einflussnahme von außen die Gefahr gewaltsamer Intervention der fragilen Regierungen eher erhöht.

Die Bilanz dessen, was für gewöhnlich unter Regime Change verstanden wird, ist und bleibt katastrophal, da hat @BrewSwillis völlig Recht.

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Ich stimme BrewSwillis zu, die Aussage und vor allem die Formulierung ist äußerst missglückt. Andererseits sehe ich, dass die Aussage hier auch noch verteidigt wird - hätte ich ehrlichgesagt nicht erwartet.

Nun der Reihe nach:
Nawalny der Nationalist
„vor einigen Jahren gab es einige problematische Äußerungen“ - sowas wie „Russland den Russen“ oder das seien keine Menschen im Kaukasus, das seien Tiere (in anderen Reden waren es auch Kakerlaken) oder die Nagetiere in Georgien. Also das ist nicht mehr nur problematisch, das ist menschenverachtend. Er hat sich distanziert - schön und gut. Schaut man sich sein aktuelles politisches Programm (bzw das von 2018 an) steht da fast gar nichts mehr zu Ausländern. Das ist ebenfalls problematisch, denn Russland ist ein Land der Zuwanderer. Zuwanderer aus vielen Ex-Sowjet-Republiken, in denen die Lage noch schlimmer ist als in Russland (viele Usbeken, Tadschiken und Kasachen kommen nach Russland). Zum anderen gibt es ethnische Minderheiten. Russland ist ein Vielvölkerstaat (ca 150 Völker) und nehmen wir da mal die „prominentesten“ heraus: die Tschetschenen - auch dazu kein Wort in seinem Programm. Aber das sind Punkte, die MÜSSEN in einem politischen Programm vertreten sein. Das einzige was in Nawalnys Programm steht ist:„Russland wird Visumspflicht mit den Ländern Zentralasiens und des Südkaukasus (entspricht Armenien, Georgien, Azerbaidschan) einführen. Dabei werden die Prozeduren ein Arbeitsvisum in Russland zu erlangen für Bewohner entwickelter Länder radikal vereinfacht.“ (" * Россия введет визовый режим со странами Средней Азии и Закавказья, радикально упростив при этом легальные процедуры, необходимые для получения права на работу в России для жителей развитых стран." https://2018.navalny.com/platform/7/ ) Mit Nawalnys Vorgeschichte hört sich das dann wieder etwas unangenehm an.

Demokratie egal mit welchen Mitteln?
Wenn Nawalny sicher für eine stabile Demokratie stehen würde - vielleicht. In Russland mehren sich aber aus verschiedensten politischen Lagern die Stimmen, die Nawalny mit Jelzin vergleichen. Es wird zwar oft so dargestellt, als sei Jelzin der Freiheitsbringer in Russland und der Erlöser aus dem Reich des Bösen in dem er die Heilsbringende Demokratie einführte. Aber: Jelzin war auch derjenige, der sämtliche Betriebe für ein paar Pfennig privatisieren ließ. Er war derjenige, der die Duma mit Panzern hat beschießen lassen. Und er war derjenige, der viele Dollar von den USA (Xerox-Kisten-Affäre) annahm, als er in den Umfragewerten bei unter 10% lag, um die nächste Wahl zu gewinnen. Demokratie sieht anders aus.
Zurück zu Nawalny und des „von zweitrangiger Bedeutung sein“, wer da für die Demokratie kämpft. Aktuell kämpft Nawalny vor allem dafür, dass es einen Machtwechsel (egal mit welchen Mitteln und egal mit welchen Stimmen) gibt und das ist noch keine Demokratie. „Ob die Russen dann ihn für einen Nationalisten halten, den sie nicht haben wollen“ oder ob sie doch jemand anderen wählen… Aber wen sollen sie denn wählen? Alle wirklich demokratisch gesinnten Kandidaten werden schon so früh im politischen Prozess „aussortiert“, die kommen nichtmal so weit, dass man in Deutschland deren Namen kennen würde. Wer glaubt, dass Nawalny es so weit geschafft hat, weil er so ein toller demokratischer Politiker ist, der hat Putins Machtbesessenheit noch nicht verstanden. Und ganz nebenbei der Satz:„wenn du mit der Lupe da in Russland einen lupenreinen Demokraten suchst, da kannste lange suchen“ - den finde ich persönlich ein wenig despektierlich, aber vielleicht bin ich da auch nur alleine dieser Meinung.
„Demokratie - egal mit welchen Mitteln“ kann fast nur in die Hose gehen.

Und nun genug der Kritik: was mein Fazit zur aktuellen Situation in Russland ist: Nawalny ist kein besonders netter Mensch, denn sonst hätte er es nicht dahin geschafft, wo er jetzt ist. Dennoch: Nawalny zu vergiften, das zu dementieren und dann zu sagen:„na wenn wir wirklich gewollt hätten, ihn zu töten, dann hätten wir das auch wirklich zuendegebracht“ ist so weit unter aller Sau, dass mir dafür die Worte fehlen. Sowas gehört sich nicht und das hat nichts mehr mit einer normal funktionierenden politischen Elite zu tun. Das ist einfach nur unzivilisiert von den entsprechenden Entscheidungsträgern („die Russen“ an sich können da nichts dafür). Ihn jetzt unter fadenscheinigen Begründungen wieder in den Knast zu stecken und direkt noch mehrere Verfahren hinterherzuschicken hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Ich hoffe aber, dass die Proteste, die es jetzt in Russland gab/gibt (zuletzt am 14.02. die „Taschenlampenaktion“ zu einem Umdenken in der Gesellschaft führen. Zu viele der älteren Generation in Russland sind noch von Putin und den aktuellen Eliten überzeugt. Und selbst wenn sie ihn schlimm finden, das politische System ist schon so weit zerstört, dass es eigentlich keine Wahlalternativen gibt. Und dann heißt es im Endeffekt doch immer wieder „na wer soll es denn sonst sein?“. Meine Hoffnung liegt in der jüngeren Generation und in Personen, die bisher noch nicht politisch aktiv waren, die sich aber ähnlich wie in Belarus dazu entschließen könnten, sich zur Wahl zur stellen. Nawalny wäre für mich keine Option. „Demokratie - egal mit welchen Mitteln“ geht im Fall von Russland wohl nicht gut.

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