Ich unterrichte Einführung Biochemie, zweites Studienjahr, 330 Studierende (weil auch fuer nicht-Biochemiker), neben meinem Forschungslabor und Verwaltungsarbeit. Meine Uni hat im letzten März alles komplett auf Online umgestellt, inklusive Prüfungen. Wir sind immer noch ausschliesslich online (bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 10), und ich nehme mal an, dass nur die Hälfte bis vielleicht 2/3 der Studierenden überhaupt in der Stadt sind. Der Rest ist aufs ganze Land und die Welt verteilt. Ach, vielleicht sollte ich erklären, dass ich in Kanada bin. Dass Studierende wegen der Situation länger studieren, käme überhaupt nicht in Frage (das fände ich im Übrigen auch wirklich problematisch). Online-prüfungen sind also unumgänglich und müssen verschiedene Zeitzonen ermöglichen, und Studierende beachten, die sogenannte “accessibility” Sonderregelungen haben (einige bekommen extra Zeit für Prüfungen).
Von daher würde ich sagen, natürlich geht es mit online Prüfungen. Hier gibt es nur wenige Unis die irgendetwas in Präsenz machen. ABER, es ist, meiner Meinung nach, immer nur zweite Wahl. Mein grösste Sorge bei online Prüfungen ist, dass soziale Untergleichheiten zwischen den Studierenden noch verstärkt werden. Es macht einen Unterschied, ob die Studierenden einen ruhigen Raum zuhause für sich alleine haben, wie gut die Internetverbindung ist, etc. Das ist gerade bei open book exams so, wo man also offiziell Dinge nachschauen darf. Wenn eine*r eine Verbindung hat, die super langsam ist, und eh schon alle naslang abstürzt, dann wird es schwer, auch noch etwas nachzuschauen. Und “closed book” Faktenabfragen macht online ja nun wirklich wenig Sinn, es sei denn man nutzt die online “proctoring” software, mit Aufnahmen vom Raum, konstanter Überwachung der Studenten, und lockdown des computers. Das ist schon ein riesiger Eingriff in die Privatsphaere (und bevorteilt wieder einmal die Studenten, die sich einen leeren Raum suchen können). Ausserdem könnte ich gar nicht all die 330 Videos von den Studenten während der Prüfung überwachen. Also haben wir multiple choice Examen mit Fragen pools innerhalb der Themen, so dass nicht alle Studenten die gleichen Fragen kriegen. Auch Multiple choice kann man so stellen, dass man nachdenken muss, und nicht nur Fakten abfgeragt warden müssen. Es dauert halt länger, sich solche Fragen zu überlegen, aber ich kann auch nicht schriftliche Antworten von 330 Studenten lesen. Das habe ich bis 180 Studenten noch gemacht, aber es ist einfach unmöglich. Unsere online Examen sind 12 Stunden lang offen, aber nachdem die Studierenden anfangen, haben sie nur eine bestimmte Zeit um fertig zu werden. Man muss etwas mehr Zeit pro Frage geben, weil manche ein langsames Internet haben könnten, und wir müssen während der Zeit ständig erreichbar sein, um technische Probleme zu bewältigen. Im Endeffekt kann man natürlich wesentlich leichter unehrlich sein. Der Notendurchschnitt ist angestiegen. Andererseits ist es im Moment für die Studenten sowieso schon eine wirklich harte Zeit, und ich sage mir, dass mein Kurs nur ein Zweitjahreskurs ist, und die psychische Gesundheit der Studenten Vorrang hat vor geringen Überschreitungen der Integrität seitens einiger Studenten. Da ist natürlich auch etwas Schönreden der Situation meinerseits dabei, weil ich einfach keine andere Möglichkeit sehe, die Examen mit einem machbaren Zeitaufwand anzusetzen. Bei Kursen für Studenten in höheren Jahrgängen ist es etwas anders, aber da hat man auch ein paar Möglichkeiten, die man in grossen Kursen nicht hat.
Also, insgesamt, online ist schon möglich, aber wirklich nicht ideal. Für wichtige Prüfungen (Staatsexamen etc) verstehe ich schon, dass Präsenzprüfungen (ode ein Gemisch) erwogen werden, auch für mehr Chancengleichheit. Meine Uni wäre dazu aber niemals bereit gewesen. Zum Glück dürfen wir wegen der niedrigen Coronainzidenz ins Labor, letztes Jahr war alles, inklusive Forschungslaboren bis einschliesslich Juni zu.
Noch ein letzter Kommentar, und der eigentliche Anlass, dass ich im Forum poste: Ich höre die Lage sehr gerne, jede Woche. Aber diese Diskussion (im podcast, nicht hier im Forum) hat mich doch etwas geärgert. Für mich hat es doch etwas überheblich geklungen, so als ob Philip und Ulf die Lösung haben, und die Unis das nur nicht sehen wollen, und die Profs einfach nur zu faul sind. So nach dem Motto “man muss doch einfach nur”, “das kann doch nicht so schwer sein”. Online Prüfungen sind nicht einfach zu gestalten, und haben auch viele Nachteile, egal wie gut sie gemacht werden. Online Prüfungen sind meistens entweder ein Eingriff in die Privatsphäre, ungerechter, weniger aussagekräftig, und/oder zeitlich kaum zu bewerkstelligen. Im Endeffekt sind das alles schwierige Abwägungen, die die Unis und Profs treffen müssen, und man kann nur hoffen, dass sie dabei den Studierenden zuhören. Aber die “einfach nur” Kommentare im podcast waren mir ein bisschen viel.
Gruss aus Kanada.
Barbara