LdN216 Wirtschaft vs. Kultur

Hallo,

in der LdN216 habt Ihr das Thema Wirtschaft vs. Kultur angesprochen. Euer Standpunkt war, man solle doch aus Gerechtigungsgründen auch die Wirtschaft mehr abwürgen (jetzt absichtlich total überspitzt formuliert), damit nicht nur die Kultur alleine leiden muss. Ich muss sagen da bin ich ganz schön aufgeschreckt, das halte ich gleich aus mehreren Gründen für einen zu diskutierenden Standpunkt.

Für mich persönlich geht es bei der Wahl der Corona Massnahmen primär nicht so sehr um Brachengerechtigkeit, als viel mehr darum den angerichteten Schaden möglichst zu minimieren.

So brutal das ist, aber wenn es ums nacke Überleben geht, erfüllt Kultur zunächst mal keinen Zweck. Zunächst mal brauchen die Leute ein Dach überm Kopf und müssen mit den fürs Leben notwendigen Waren versorgt werden. Danach kommt alles Weitere.
In einem marktwirtschaftlichen System brauchen die Leute ein Einkommen um den Lebensunterhalt dann auch bestreiten zu können. Das gilt im Übrigen auch um Kultur bezahlen zu können. Kurz gesagt, wenn wir die Wirtschaft abwürgen, wer soll die ganze Kultur denn dann bezahlen, selbst wenn sie wieder möglich ist?
Aus diesem Grund muss natürlich vor allem der gesamtwirtschaftliche Schaden so gering wie möglich gehalten werden. Das mag nicht gerecht wirken, aber es ist die Vorrausetzung dafür das wir auch zukünftig einen Kulturbetrieb finanzieren können. Sind erst massenhaft Menschen in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, dann kauft auch keiner mehr Karten für Konzerte, Theater oder Kino.

Was mich ehrlich gesagt auch ein wenig geärgert hat, dass kurz danach dann auch noch festgestellt wurde, das Pyrotechnik zu Silvester keinem Zweck dient. Ich halte das einen stark vom persönlichen Bias geprägte Sicht auf die Dinge. Aus einer persönlichen Warte betrachtet, mag so manche „Kultur“ ausschliesslich zu persönlichen Erbauung Anderer dienen, eine Eigenschaft die zumindest ich auch der Pyrotechnik-Tradition an Silvester attestieren würde.
Kurz gesagt, ich halte es immer ganz wierig Anderen Dinge untersagen zu wollen, die für einen selber nicht wichtig erscheinen. Da braucht es für mich deutlich mehr Argumente wie „das braucht man nicht, das kann weg“.

Gruß
Kite

Das Thema beschäftigt mich bzw. Meine Bubble sehr akut seit März, daher würde ich darauf gerne antworten, denn alleine der Titel…

„Wirtschaft vs. Kultur“ ist ja schon fast philosophisch betrachtenswert: Kultur ist an vielen Stellen Teil unserer Wirtschaft und Wirtschaft auch (leider) Teil unserer Kultur, wie es aussieht. Die beiden Bereiche kann man weder Trennen noch gegenüberstellen, glaube ich.

Sehe ich erstmal fast genauso, wobei hier schon bei dieser einfachen Zielsetzung in das Wort „Schaden“ viel hineininterpretiert werden kann / wird: Gesundheitlicher (psychisch/physisch?) und oder wirtschaftlicher Schaden? Da fängt es ja schon an sehr kleinteilig und kompliziert zu werden.

Kultur erfüllt in unserer Gesellschaft und Wirtschaft exakt den gleichen Erstzweck: in der Kultur stecken genauso Arbeitsplätze und Lebensunterhalte wie in anderen Branchen. Und es lässt sich nicht so einfach trennen, genauso wie Gastronomie und Einzelhandel nicht unabhängig voneinander sind: (Eins bedingt nicht direkt das Andere, aber) wenn der Einzelhandel in der Shoppingmall schließt, geht kaum einer mehr zum Foodcourt. - Wenn kaum einer ins Konzerthaus geht, geht kaum einer ins Nobelrestaurant nebenan, usw.

Und jetzt kommt die Frage zur „Branchengleichheit“ oder besser Branchengleichwertigkeit: Klar und offensichtlich sind Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie notwendig und sie müssen politisch abgewägt und entschieden werden. Jede Branche hat ziemlich ausnahmslos Einschränkungen hingenommen, außer vllt der Onlinehandel. Aber die Abwägung erscheint sehr lobbygesteuert, wenn man Einzelpärchen auf der Mikroebene gegeneinanderstellt: Fußball vs. Theater, Frisör vs. Tattoostudio, Kino vs. Businessmeeting… alles finanzielle Existenzen, alle mit einem vermeintlich nicht genau einschätzbaren Infektionsrisiko. Irgendwo wird politisch eine Grenze gezogen, die diskutiert werden darf (und muss).

Die Kultur ist auch ein Wirtschaftszweig und der ist in Deutschland nicht klein. Der wirklich elementare Unterschied ist, dass im Kulturbereich mehr (Solo-)selbständige arbeiten, die nur langsam eine Lobby bilden können, weil sie völlig anders vernetzt sind und nur sekundär marktwirtschaftlich vernetzt sind. „Ungerecht“ wird es hier: der Einzelne verdient hier unregelmäßiger - es ist natürlich für die Wirtschaft billiger, Kulturschaffenden und Künstlern ein reduziertes Durchschnittseinkommen zu zahlen, als den tatsächlich entgangenen Gewinn des Weihnachtsgeschäfts plus das was dafür schon an Vorbereitung geleistet wurde. Jeder wäre unzufrieden, wenn er neun Monate kein Einkommen hätte und „die Politik“ einem als Unterstützung 75% eines durchschnittlichen Monatseinkommens „anbietet“ ohne Perspektive, wann es denn wieder aufwärts geht.

Böse gegenformuliert: Wer soll denn denn das Feuerwerk bezahlen, wenn der Kulturbranche als Wirtschaftszweig kaum Einkommen ausgeglichen wird?

Ganz genau, aber es muss passieren, weil es fair (offenbar) nicht funktioniert und keiner in der Politik der Buhmann sein will. Mir ist Kultur wichtiger als der Gang zum Frisör; beides finanziert anderen direkt den Lebensunterhalt und hat ein gesundheitliches Risiko, aber es wird auch über meinen Kopf hinweg entschieden und nur sehr dürftig begründet. Als vermeintlichen „Ausgleich“ darf ich in der Vor- und Weihnachtszeit in übervolle Geschäfte rennen, um mir Feuerwerk zu kaufen, was ich nicht haben will. Das ist selbst für mich, die nicht mal direkt finanziell betroffen ist, nach gut neun Monaten Einschränkungen eine sehr bittere Pille zu schlucken.

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Ich finde übrigens interessant das man über Kultur spricht, aber nicht über Kultur als Teil der Wirtschaft. Ich glaube es wäre wichtig die Schließung und ihre Gründe besser zu kommunizieren. Aus meiner Sicht folgende:

  • vermeidbare, auch enge Begegnungen bei einer „Freizeit-Veranstaltung“, gerade bei sehr hohen Infektionsgeschehen
  • viele Kultureinrichtungen unter staatlicher Aufsicht (wäre ja peinlich wenn hier was was passiert)

Halte ich übrigens überhaupt für ein großes Problem, dass von der Politik die Maßnahmen oft nicht glaubwürdig und im Detail begründet werden. Da entsteht für den ein oder anderen immer mal wieder der Eindruck voll Willkür und blinden Aktionismus. Das ist nicht gut.

Gruß
Kite

Hallo Ellen,

zunächst zu Deinem Einwand wegen dem Titel des Themas, hast Du natürlich vollkommen recht. Das kann man nicht direkt gegenüberstellen. Ich habe das das nur provokant verkürzt aus der LdN übernommen. Die Herren habe da eben genau diese Gegenüberstellung gemacht. Darum genau dieses Aufhänger. :slightly_smiling_face:

Danke für Deine Ausführungen und das kann ich auch irgendwie alles so mit unterschreiben. Allerdings in einem Punkt irrst Du, der Bereich Kultur macht nur ca. 3,1% vom BIP aus, das Gastgewerbe sogar nur ca. 1,7%. Und genau in diesen zwei Bereichen die nur knapp 5% des BIP ausmachen, kommt es halt zu engen Sozialkontakten. Ganz nüchtern betrachtet währen die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland beim Wegfall dieser Bereiche besser verkraftbar, als ein flächiger Ausfall von Handel oder Industrie.

Mit Blick auf die ganzen Einzelschicksale ist das natürlich zynisch und darum finde ich das keine schöne Diskussion, aber man bekommt doch ein Gefühl dafür wie das Gewicht der jeweiligen Lobby aussieht. Und irgendwie ist es leider auch logisch die kleinen Wirtschaftsbereiche mit hohen Risiko in den Fokus der Maßnahmen zu rücken.

Gruß
Kite

Ich denke, die Gegenüberstellung ist nicht zielbringend. Man hat ein wenig den Blick für das Große und Ganze verloren. Das Problem ist nicht, dass man sich zwischen Kultur und Wirtschaft entscheiden muss. Das Problem ist, dass die Bevölkerung allein nicht solidarisch genug ist, simpelste Schutzmaßnahmen (Maske, Social Distancing) einzuhalten. Dadurch ist Deutschland in einer so extrem schlechten Lage, dass man sich solche schrecklichen Fragen überhaupt stellt.

Man sollte alle Energie darauf verwenden, das Problem im Keim anzugehen und nicht über den Scherbenhaufen zu streiten. Der mangelnden Solidarität der Bevölkerung muss politisch ein wenig auf die Sprünge geholfen werden. Dann wird die Diskussion um Wirtschaft vs. Kultur hinfällig, weil man bei einem insgesamt extrem niedrigen Infektionsrisiko wesentlich mehr Bereiche/ fast alle öffnen kann. Siehe einer Reihe asiatischer Länder.

Ich glaube, zum BIP hatte ich noch gar nichts geschrieben. Unten füge ich mal den Link zu den Zahlen von „Alarmstuferot“, ohne dass ich sie im Detail geprüft hätte. Klar macht der Einzelhandel mehr Umsatz. Aber es wird immer ein Vergleich von Äpfeln und Birnen sein.

Wenn ich mir also die Zahlen der Veranstaltungsbranche anschaue, ist das kein kleiner Anteil von Umsatz und Lebensunterhalten (Kultur ist natürlich mehr als Veranstaltungen, aber diese sind ja der Teil, der momentan eingeschränkt ist.) Und wir reden hier nicht von 1 Monat Umsatzeinbußen sondern mindestens 9 und wo wir landen ist völlig offen. In dem Maße wurde der Einzelhandel nicht mal ansatzweise eingeschränkt. Es ist ein bisschen wie beim Feuerwerksvernot an Silvester - Unvälle durch Feuerwerkskörper binden angeblich jährlich 5% der Krankenhauskapazitäten, das ist wenig, aber haben wir die wirklich „übrig“? Auch Äpfel und Birnen, aber man darf darüber trotzdem diskutieren und sehr geteilter Meinung sein.

Und wenn dann sinngemäß argumentiert wird: „Kulturschaffende können ja Veranstaltungen online anbieten“ (war ein anderer Thread hier im Forum)… der Einzelhandel hat bereits zu großem Teil eine funktionierende online-Infrastruktur… würde ja reichen, Geschäfte (des nicht-täglichen Bedarfs), die auch online verkaufen drastischer einzuschränken, auch um kleine Einzelunternehmen zu stärken, oder? Der Gedanke kommt mir gerade erst, aber es wäre keine so dumme Idee, oder? Ich meine, wie viele Leute stehen dicht gedrängt an der Kasse von Saturn und Co. um eine KitchenAid zu kaufen, die es auch online gibt? Ist doch eigentlich merkwürdig.

Vor all diesen Hintergründen wird vom Kulturbereich sehr viel Solidarität erwartet und mit ziemlich viel Ignoranz belohnt.

https://alarmstuferot.org/fakten