LdN212 Darstellung des Positionspapiers der KBV

In der Lage wurde gesagt, dass Streeck und seine „Gesinnungsgenossen“ (?) keine Optionen zur Senkung der Fälle angeboten hätten. Das stimmt aber so nicht. Einerseits hat Streeck selbst auf Nachfrage (sinngemäß) gesagt, wenn man jetzt sofort die Fälle schnell senken wolle, können man das nur mit einem Lockdown erreichen. Andererseits haben die Teilnehmer der Verlautbarung deutlich gemacht, dass die bestehenden Hygieneregeln grundsätzlich ausreichten, würden sie nur konsequent angewandt und auch in alle gesellschaftlichen Schichten vermittelt. Die Frage nach einer alternativen Strategie (die auch von anderen Medien gestellt wird) finde ich irreführend. Die Hygieneregeln sind die Strategie der Gruppe. Ob sie zur Kontrolle der Pandemie geeignet ist oder nicht muss sicher diskutiert werden. Eine wichtige Kritik der Experten war ebenfalls, dass es die Politik über den Sommer versäumt habe, eine langfristige Strategie zu entwickeln. Bei allem guten Willen für unsere Regierung kann ich nicht umhin, mich dem anzuschließen.

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Ich habe die Lage immer dafür geschätzt, dass sie sich auch bei komplizierten Themen die Mühe macht, unterschiedliche Positionen erst mal möglichst neutral zu beschreiben und dadurch nachvollziehbar zu machen - bewerten kann mensch sie dann ja immer noch. Von diesem Grundsatz scheint Ihr Euch beim Thema Corona leider verabschiedet zu haben. Ich habe mich schon mehrfach geärgert, weil Eure Darstellung so klingt als gäbe es nur auf der einen Seite Menschen, dem Kurs von Drosten, RKI und Merkel/Ministerpräsident:innen folgen sowie auf der anderen Seite Querdenker und andere Spinner.
In diesem Sinne fand ich auch Eure Darstellung des KBV-Papiers in der LdN 212 ehrlich gesagt tendenziös. Sie mehrfach in einem Atemzug mit den Äußerungen von Gauland zu erwähnen (und auch noch nach dessen Positionen) und dann die Kernbotschaft noch nicht einmal korrekt wiederzugeben, suggeriert, dass es sich nicht um etwas handelt, dass man ernst nehmen müsse. In der LdN 213 war das Framing, die Autor*innen des Paipers würden aussschließlich „die“ Risikogruppe schützen wollen und ansonsten auf Schutzmaßnahmen verzichten - das ist schlicht falsch und suggeriert, dass es sich bei Gassen, Streeck und Schmidt-Chanasit letztlich um Corona-Verharmloser handelt.
Das KBV-Papier verdient meiner Meinung nach eine ernsthafte Auseinandersetzung. Die Kernbotschaft ist eben nicht, dass Corona ungefährlich ist oder man es einach laufen lassen sollte, sondern dass der bisher beschrittene Weg, ohne langfristige Strategie auf mehr oder weniger kurzfristige ordnungspolitische Maßnahmen zu setzen, zum Scheitern verurteilt ist. Das wird durch den erneuten Lockdown - der im Grunde eine politische Bankrotterklärung für die politischen Maßnahmen der letzten Monate ist - meiner Meinung nach noch bestätigt: Anstatt zu informieren, aufzuklären und Unterstützungsangebote zu machen, wird vorwiegend mit Angst, Verbot und Beschuldigungen gegen bestimmte Gruppen (die berühmten Partyjugendlichen) agiert. Das mag bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen funktionieren, aber auch hier ist die Frage, wie lange. Zudem schlägt das KBV-Papier vor, die Corona-Maßnahmen stärker im Kontext anderer Erkrankungen und Gesundheitsrisiken zu betrachten - auch das halte ich zumindest für diskussionswürdig, fand aber bei Euch keinerlei Erwähnung.

Zum Thema Risikogruppen: Hier klang Eure Darstellung in der LdN213 so, als gäbe es Leute mit und ohne Risiko bzw. als wäre das ein festes Attribut. Das macht so aber keinen Sinn. Vielmehr haben Menschen ja je nach Alter, Allgemeinzustand und Vorerkrankungen ein unterschiedlich hohes Risiko. Und da finde ich die Idee, den Schutz von Menschen mit besonders hohem Risiko zu prioisieren, ehrlich gesagt nicht verkehrt. Dass Euch (und auch vielen Politiker:innen) nach einem Dreivierteljahr zum Thema „Schutz von Risikogruppen“ nichts weiter einfällt als Isolierung, spricht Bände. Auch hierzu liefert das KBV-Papier m. E. einige Denkanstöße.

Zugute halten möchte ich Euch, dass Ihr die rechtlich problematischen Aspekte der Corona-Verordnungen zumindest ansprecht. Aber der Vorschlag aus LdN 213, die verschieden Maßnahmen, die meist undifferenziert und zum Teil widersprüchlich sind und über deren korkrete Wirkung es größtenteils keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, per „copy and paste“ in Gesetzesform zu gießen, finde ich ehrlich gesagt gruselig.

Was sind denn die konkreten Vorschläge aus dem KBV-Papier, die wir unterschlagen oder sonst nicht korrekt dargestellt haben?

Streeck ist eine Marionette von Diekmann und dahinter steht (wie beim BILD-Sumpf üblich) eine Agenda der Desolidarisierung der Gesellschaft. „Mehr Eigenverantwortung“ bedeutet im Klartext: Wer unter die Räder kommt, ist selber schuld. Wer ausreichend Mittel hat, der kann sich bequem weitgehend isolieren, und wenn er doch krank wird, gibt’s eben das volle Programm der Donald-Trump-Behandlung. Wer dagegen ehrlich arbeitet, und vielleicht noch mit dem ÖPNV dorthin muss, der hat eben Pech gehabt und wir wünschen ihm alles gute, aber auf ein paar mehr oder weniger kommt’s doch nicht drauf an. Hauptsache die Aktien fallen nicht.

Nochmal zur Verdeutlichung Eure Darstellung des KBV-Papiers in der LdN 212 wurde sinngemäß mit den Worten eingeläutet, „Streeck und seine Gesinnungsgenoss:innen“(sic!) wollten im etwas Ähnliches wie Gauland. Als drei Punkte nennt Ihr 1. einen besseren Schutz von Riskikogruppen - aber das hätte die Regierung eh schon beschlossen. 2. nicht nur auf Neuinfektionen schauen - würde eh niemand machen und 3. eine langfristige Strategie - ja sicher, aber wie kriegen wir denn jetzt die Infektionszahlen runter?
Das heißt: Das Ganze wird durch den Verweis auf Gauland schon gleich als nicht diskussionswürdig abgetan. Die Kernbotschaft, nämlich dass es nicht um konkrete Maßnahmen geht, sondern um eine langfristige Strategie und eine andere Herangehensweise, wird gar nicht erst erwähnt. Und die drei genannten Punkte werden verkürzt wiedergegeben und gleich mit einer flapsigen Kommentierung versehen, die eher subjektive Bewertungen enthält als Sachargumente und zudem noch in sich widersprüchlich ist.

Die Frage nach konkreten Maßnahmen geht daher am Punkt vorbei. Mir geht es eher um die Art und Weise, wie über den vorherrschenden Umgang mit der Pandemie diskutiert wird, ganz im Sinne dieses Artikels aus der taz: Die steile These: Streitet mehr über Coronaregeln! - taz.de

Antwort LdN212

Es geht nicht ausschließlich um das Was, also den Inhalt, sondern auch um das Wie, den Kontext.

Ihr beklagt, dass das Papier keine Handlungsvorschläge für die aktuell sehr stark steigenden Fallzahlen beinhaltet. Das ist größtenteils richtig, aber das kann für ein Dokument, das im Laufe von Wochen während moderat steigender Fallzahlen entstanden ist und das sich auf eine langfristige Strategie konzentriert, nicht erwartet werden. Außerdem hat Streeck sich während der Pressekonferenz auch explizit dazu geäußert (Statement von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Virologen zu Corona-Maßnahmen - YouTube). Ob es klug war, das Papier gerade zu diesem Zeitpunkt zu veröffentlichen, darüber kann man sicher streiten. Auch das Herumgedruckse mancher Befürworter bei Nachfragen der Presse unterminiert die Seriosität des Ganzen. Dazu kommt noch, dass einige Mitgliedsverbände sich davon (m. E. vorschnell) distanziert haben. Fakt ist jedoch, dass gerade Streeck schon seit Monaten predigt, dass wir eine Langzeitstrategie brauchen. Jeder, wirklich jeder, der sich mit Muße und Verstand in den letzten Monaten mit der Thematik ernsthaft auseinandergesetzt hat, konnte erkennen, dass eine Impfung für breite Bevölkerungsschichten viele Monate entfernt ist und es keine tragfähige Strategie der Regierung gibt, wie wir bis dahin weiterleben sollen (zumindest keine öffentlich kommunizierte). Sämtliche offizielle Überlegungen dazu sind erst in den letzten drei, vier Wochen tröpfchenweise verlautbart worden und münden in einen neuen Lockdown, der nicht der letzte gewesen sein wird. Ganz so als habe man gehofft, über den Berg zu sein und sich dann nicht mehr damit beschäftigen zu müssen. In Wahrheit wird uns die Pandemiebekämpfung aber noch lange über das Wahljahr hinaus beschäftigen.

„Gauland“, „Gesinnungsgenossen“ – damit wird eine gewisse Konnotation erzeugt. Finde ich jetzt nicht dramatisch, neutral ist das aber auch nicht. Insbesondere weil das Pandemie-Thema so kontrovers ist, dass die Pole des Meinungskontinuums schnell getriggert werden und dann keine sachliche Debatte mehr möglich ist. Der gendergerechten Sprache als Metathema eures Podcasts habt ihr nach meiner Wahrnehmung erheblich mehr Engagement gewidmet als der neutralen Ausleuchtung der Pandemiebewältigung. Im ersteren Fall geht es um ein respektvolles und gerechtes Geistes- und Sozialleben, in letzterem um dasselbe und zusätzlich noch um Leben und Tod.

In der Lage 213 habt ihr außerdem eine Aussage Sandra Cieseks über die Risikogruppen aufgegriffen. Ihre Äußerungen finde ich aus wissenschaftlicher Sicht unhaltbar und unverantwortlich. Diese „Risikogruppe“ ist keine homogene Masse von 22 Millionen Menschen die allesamt mit schwersten Covid-19-Verläufen zu rechnen haben. Nur weil man ein Medikament nimmt, ist man nicht automatisch vom Tode durch eine Atemwegsinfektion bedroht. Und wenn doch, dann gilt das auch noch für etliche andere Infektionskrankheiten. Schauen wir bloß einmal auf die Diabetiker. Blutzuckersenkende Mittel einschließlich Insulin sind Medikamente, Diabetes ist eine Krankheit, also gehören alle Diabetiker zur Risikogruppe. Laut der deutschen Diabeteshilfe gibt es mehr als 7 Millionen Diabetiker im Land, von denen etwa die Hälfte medikamentös behandelt wird (Diabetes in Zahlen | diabetesDE - Deutsche Diabetes-Hilfe). Das ergibt 3,5 Millionen Menschen mit Diabetes in ganz unterschiedlichen Stadien mit ganz unterschiedlichen Risikoprofilen. Die kann man doch nicht alle über einen Kamm scheren. Das gleiche gilt für die restlichen 18,5 Millionen vermeintlichen Risikoträger. Mir ist schleierhaft wie eine Berufswissenschaftlerin mit einer derart kruden Überschlagsrechnung in die Öffentlichkeit treten konnte. Was mich jedoch am meisten stört in der Debatte über die Risikogruppe(n) ist, dass wir immer nur ÜBER deren Mitglieder sprechen und zwar so: „Einmauern ist keine Lösung“. Wenn davon tatsächlich 22 Millionen Menschen betroffen sind, sollten wir auch einmal nachfragen, wie sie sich das Leben mit der Pandemie in den nächsten Jahren vorstellen. Denn man muss sich vor Augen halten, dass es eine gewaltige Schnittmenge geben wird zwischen denjenigen, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 haben und denjenigen, die von einem erhöhten Risiko für Komplikationen bei einer Impfung betroffen sein könnten. Und wenn die Impfrate so niedrig ausfallen wird, wie es aktuelle Umfragen suggerieren, dann erreichen wir die notwendige Populationsimmunität nicht, um diese Gruppe zu schützen (https://www.businessinsider.de/wissenschaft/gesundheit/corona-impfstoff-in-deutschland-liegt-die-impfbereitschaft-bei-58-prozent-in-frankreich-nur-bei-37-prozent-a/). Einen Vorgeschmack auf die Zukunft, für die wir keine vernünftigen Lösungen haben, hat Klaus Stöhr kürzlich in einem bemerkenswerten Kommentar bei Markus Lanz gegeben (https://www.zdf.de/nachrichten/video/panorama-lanz-corona-epidemiologe-100.html). Nimmt man noch die beunruhigenden Nachrichten aus Dänemark (mutiertes Corona-Virus bei Nerzen, das die Impfstoffentwicklung gefährdet) hinzu, wird deutlich, dass wir mit Hammer & Dance nicht weit kommen werden.

Sprache und Denken sind bekanntlich sehr eng miteinander verknüpft. Mit Hinblick darauf ist es vielsagend, wie die überwältigende Mehrheit derer die sich öffentlich dazu äußern, den Schutz von Risikogruppen mit deren Isolation gleichsetzt, ohne dass das irgendjemand gefordert hätte. Das KBV-Papier ist meiner Ansicht nach der Versuch, einer langen Kette von Einschränkungen/Lockerungen eine Alternative zur Seite zu stellen. Das sollten wir alle unterstützen und weiterentwickeln, anstatt es zu marginalisieren und entweder als Gegenpol zu den „richtigeren“ Ratschlägen anderer Akteure oder aber als redundant darzustellen, bloß weil es nicht perfekt ist.