LdN210 - Annahme 'Kontaktverfolgung funktioniert aktuell' / Thema backwardsTracing

Hallo, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, trefft ihr in der LdN 210 die ja gestern 16.10. online gestellt wurde die Annahme, dass die Gesundheitsämter ‚aktuell die Kontaktverfolgung hin bekommen‘.

Ich lese gerade, dass in Hessen Stand heute 17. Oktober sieben Kommunen eine 7-Tage-Inzidenz über 50 haben.
Dazu Zitat: „Es wird angenommen, dass die Gesundheitsämter ab einer Inzidenz von 50 die Nachverfolgung der Infektionsketten nicht mehr leisten können“.

#1 Es ist doch auch so, dass die Bundeswehr bei der Kontaktverfolgung zuhilfe kommt ab Inzidenz 50? oder ab Inzidenz 75! Da kann ich die Annahme leider nicht nachvollziehen. Übersehe ich was?

#2 Zum Thema Kontakt Nachverfolgung gab es ja m.E. mindestens ein oder zwei Anläufe von u.a. Kollegen #Drosten und #Lauterbach, dass hier vor allem auf #backwardTracing fokussiert werden sollte um superspreader events schnell zu identifizieren. Seitens Behörden gibt es hier m.E. überhaupt keine Positionierung. Wenn das so wichtig wäre, sollte doch dringend ein solches Vorgehen in Form von Leitlinien zur Nachverfolgung vorgegeben werden! Würde mich freuen, wenn ihr das thematisieren würdet!

Grüße, Sebastian

Quelle: Coronavirus in Hessen: Die wichtigsten Nachrichten im Ticker ► Hessen verlängert erneut Corona-Hilfsprogramme | hessenschau.de | Panorama

Neuer Artikel dazu in der FAZ: „Gesundheitsämter finden immer seltener den Ursprung eines Corona-Ausbruchs“.

Zitat „Ansteckungen erfolgt im privaten Bereich, in Familien oder Wohngemeinschaften.“ liest sich zudem, als wurde auch hier nicht ermittelt wie das Virus in die Familie gelangt ist. Hat die Verfolgung noch nie wirklich funktioniert?

Das Problem ist, dass die beiden … die zwei verschiedenen Kontaktverfolgungsrichtungen nicht auseinander halten. Auf der einen Seite gibt es die Suche nach der Quelle der Infektion, also der Person bei der ich mich angesteckt habe und auf der anderen Seite gibt es die Suche nach dem Ziel der Infektion, also der Person(en) die ich infiziert habe.

Ersteres ist für die Gesundheitsämter weitgehend egal, insbesondere bei Covid-19. Das Ding hat eine Inkubationszeit von 3-6 Tagen (iirc, die aktuellen Zahlen, gemäß der wissenschaftlichen Literatur, hat das RKI auf seiner Seite). I.e. erst so lange nach der Infektion hab ich überhaupt Symptome, i.e. das ist der frühste Zeitpunkt an dem das Gesundheitsamt von mir mitbekommt (ignorieren wir mal die Verzögerung beim Testen und das ich ja auch erst noch nen Test organisieren muss). Modellierungen haben jetzt blöderweise nahegelegt, dass die Hälfte der Infektionstätigkeit nach 4 Tagen aber schon durch ist. D.h. selbst wenn die Gesundheitsämter die, nennen wir sie mal Rückverfolgung, leisten könnten, hat die keinen (unmittelbaren) Effekt.

Bleibt also noch die Kontaktnachverfolgung, i.e. rausfinden, wen ich angesteckt haben könnte. Das ist die Hauptaufgabe der Gesundheitsämter. Das bekommen die mittlerweile nur noch eingeschränkt hin. Das ist was jetzt gerade zusammenbricht. Und dieser Teil besteht „nur“ aus dem Abtelefonieren der Kontakte (was jetzt natürlich voraussetzt, dass ich mich an alle meine Kontakte erinnern kann).

Bei letzterem fällt natürlich auch ein Kontaktgraph raus, i.e. man bekommt zumindest mal für alle Kontakte von mir die ich angesteckt habe (sofern man sie tatsächlich testen lässt, was längst nicht mal für das Personal im Krankenhaus gegeben ist…) eine Verteilung des Risikos. Das sind halt blöderweise nur so 30% der Neuinfektionen, die damit beschrieben sind. Bzw waren, weil das sind Zahlen der letzen Woche, oder andersausgedrückt, beschreiben das Infektionsgeschehen von vor zwei Wochen, wo wir halb so viele Neuinfektionen hatten (NB: Exponentielles Wachstum ist keine Geschwindigkeit…).

Für eine Abbildung des Infektionsgeschehens und damit der Option den „Hauptinfektionstreiber“ bekämpfen zu können hilft dieser Ausschnitt aber exakt dann wenn man fast alle Neuinfektionen damit abgedeckt hätte. Selbst wenn das die Hälfte wäre (wovon wir 50% weg sind, weil 0,5*0,5=0,25~0,3=30%) wäre die Verteilung der Kontakte die ich melde immer noch sehr stark verzerrt, weil ich halt den Kontakt in der Straßenbahn nicht identifizieren kann. D.h. die Tatsache, dass wir keine Kontakte aus dem öffentlichen Verkehr kennen sagt nicht so viel darüber aus, ob es da Infektionstätigkeit gibt, sondern vor allem, dass man die da nicht sehen kann. Busse funktionieren wahrscheinlich darüber, dass man eine Gruppe von Infizierten (in einem Gesundheitsamt) bekommt, die alle gesagt haben: Ich war in der Linie 10 um 7 Uhr. Das typische S-Bahnsystem hat Menschen aus verschiedenen Gesundheitsämtern, über ICEs wollen wir gar nicht erst reden. (Ich wäre nicht unbedingt überrascht, wenn es wirklich (fast) keine Ansteckungen in Zügen gibt, die sind relativ gut belüftet und das reicht bei Flugzeugen ja auch, aber das folgt halt nicht aus "Gesundheitsämter haben die nicht auf ihrer Liste).

Tl;dr: Wir haben keine Ahnung wo 70%+ der Fälle herkommen auch wenn wir 70%+ der gemeldeten Kontakte nachverfolgen können.

[persönliche Angriffe gegen die Podcaster gelöscht - bitte sachlich bleiben]