LDN206 - Schwangerschaftsabbrüche/Falsche Furcht vor gesellschaftlicher Debatte

Hallo zusammen,

Ich bin seit längerem meist stille Zuhörerin und großer Fan der LdN, möchte mich nach der letzten Folge aber gerne auch einmal an den Kommentaren beteiligen.

Ich habe bei dem Beitrag zu 218/218a und der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche Bauchschmerzen. Die meisten meiner Bedenken/Kritikpunkte wurden in den vorherigen Kommentaren schon erwähnt, da kann ich nichts mehr zu beitragen. Aber ein Punkt ist mir doch noch sehr wichtig und hat bisher wenig Beachtung gefunden: mit der Aussage „das Fass sollte besser nicht aufgemacht werden, der Kompromiss ist doch insgesamt gut“ (nicht der genaue Wortlaut, ich habe es nur grade nicht besser im Kopf, ich hoffe, es ist einigermaßen OK paraphrasiert) wird der Gesellschaft insgesamt etwas die Mündigkeit abgesprochen, diese Diskussion zu führen und einen progressiveren Kompromiss zu finden. Damit will ich nicht bestreiten, dass die Debatte hochemotional und sehr toxisch werden könnte - aber ich möchte sagen, dass es durchaus auch anders möglich ist. Das beste Beispiel dafür ist Irland. Dort habe ich die letzten Jahre gelebt und war sozusagen „live“ mit dabei, als das Thema Schwangerschaftsabbrüche für einige Zeit das komplette Land beschäftigt hat. Der Grund: bis 2018 waren Schwangerschaftsabbrüche in Irland unter allen Umständen illegal - ohne Ausnahme. (Hier möchte ich dazu gar nicht weiter auf die Hintergründe dazu eingehen, das würde zu weit führen. Sollte sich jemand für einen den letzten Fälle interessieren, der das katastrophale Ausmaß dieses Verbots darstellt, kann einfach nach „Savita Halappanavar“ googeln).

Der Verfassungszusatz, der das Verbot geregelt hatte, stand 2018 im Mittelpunkt eines Referendums. Die Frage war: Soll dieser Verfassungszusatz bestehen bleiben (und Schwangerschaftsabbrüche damit nach wie vor verboten) oder soll er entfernt werden (und dann in einem nächsten Schritt eine neue, liberalere Regelung geschaffen werden). Der „Wahlkampf“, der dem Referendum voranging, war sehr intensiv. Insbesondere die „pro life“-Seite wurde finanziell extrem stark von ultrakonservativen Gruppierungen aus den USA unterstützt und sie haben die volle Munition aufgefahren - Bilder von toten Embryos, etc. Und trotz allem hat es die „pro choice“ Seite geschafft, den öffentlichen Diskurs zu dominieren und mit einer Kampagne, die die Stimmen von Betroffenen in den Vordergrund gestellt hat, die empathisch und emotional war und gleichzeitig klar Fakten und Zahlen kommuniziert hat, breite Zustimmung in der Bevölkerung zu finden. Am Ende hat im katholischen Irland eine Mehrheit der Bevölkerung für eine liberalere Regelung bei Schwangerschaftsabbrüchen gestimmt.

Mein Fazit: die Angst vor den Folgen einer Debatte, bei der unter anderem die Selbstbestimmung der Hälfte der Bevölkerung im Mittelpunkt steht sollte uns niemals davon abhalten, diese Debatte zu führen. Es ist möglich, diesen Diskurs in unserer Gesellschaft zu führen (und meiner Meinung nach schon lange überfällig).

Disclaimer: mir ist natürlich bewusst, dass die Situation in Irland inhaltlich eine andere ist, als bei uns und dass die Reform der Gesetzeslage eindeutig dringlicher war als in Deutschland. Mein Punkt bleibt aber nach wie vor: eine Debatte ist möglich und auch dringend nötig, um die anderen hier im Forum genannten Probleme anzugehen und die tiefer liegenden Aspekte der Debatte sichtbarer zu machen.

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Ach was, die Debatte ist unnötig, schließlich sind Frauen eine unwichtige Minderheit. :wink:

Im Ernst: Danke für den kleinen Einblick nach Irland!

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vielen Dank für den schönen Kommentar.

Ich möchte auch betonen, dass in Irland einige Konzepte schön ineinander greifen: Es gibt auch eine Vorgeschichte zum Referendum, und das sind die Bürgerversammlungen (siehe z.B.

). Man kann streiten, was Ursache und was Wirkung ist. Ich bin ein Fan von den Bürgerversammlungen, weil sie repräsentativer als Parlamente sind, aber auch nicht einfach direkte Demokratie (Volksabstimmungen): Die Leute müssen sich mit dem Thema beschäftigen und drüber diskutieren. Alle (Wähler) können das verfolgen und so wird eine wirklich vielfältige Debatte geführt.

Ein sehr schöner Einblick ist auch hier zu finden:

In einer weiteren Folge (Folge 8) wird auch von Versuchen in Deutschland berichtet und auch dass Politiker von der Qualität der Diskussion beeindruckt sind. Man fängt jetzt auch in Deutschland damit an:

Vielen Dank für den Beitrag. Ich hatte auch Bauschmerzen bzw. große Einwände bei dem Beitrag. Ich lese jetzt die andere Diskussion und sehe, welche Argumente schon ausgetauscht wurden.

Am 23.06.2022 wird es ernst:

Die erste Lesung ist schon durch und neben der Regierung unterstützen auch die Linken den Antrag. Union ist gegen Streichung und will nur Anpassung, näheres im verlinkten Text.

Die Expertenanhörung lief auch gut:

Die von der Bundesregierung geplante Abschaffung der Strafbarkeit von Werbung für Schwangerschaftsabbrüche ist von der Mehrheit der Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss am Mittwoch, 18. Mai 2022, unterstützt worden.

Sieht also so aus, als wenn speziell die FDP, wenigstens an der Front progressive Politik schafft. :slight_smile:

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