Hallo zusammen,
Ich bin seit längerem meist stille Zuhörerin und großer Fan der LdN, möchte mich nach der letzten Folge aber gerne auch einmal an den Kommentaren beteiligen.
Ich habe bei dem Beitrag zu 218/218a und der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche Bauchschmerzen. Die meisten meiner Bedenken/Kritikpunkte wurden in den vorherigen Kommentaren schon erwähnt, da kann ich nichts mehr zu beitragen. Aber ein Punkt ist mir doch noch sehr wichtig und hat bisher wenig Beachtung gefunden: mit der Aussage „das Fass sollte besser nicht aufgemacht werden, der Kompromiss ist doch insgesamt gut“ (nicht der genaue Wortlaut, ich habe es nur grade nicht besser im Kopf, ich hoffe, es ist einigermaßen OK paraphrasiert) wird der Gesellschaft insgesamt etwas die Mündigkeit abgesprochen, diese Diskussion zu führen und einen progressiveren Kompromiss zu finden. Damit will ich nicht bestreiten, dass die Debatte hochemotional und sehr toxisch werden könnte - aber ich möchte sagen, dass es durchaus auch anders möglich ist. Das beste Beispiel dafür ist Irland. Dort habe ich die letzten Jahre gelebt und war sozusagen „live“ mit dabei, als das Thema Schwangerschaftsabbrüche für einige Zeit das komplette Land beschäftigt hat. Der Grund: bis 2018 waren Schwangerschaftsabbrüche in Irland unter allen Umständen illegal - ohne Ausnahme. (Hier möchte ich dazu gar nicht weiter auf die Hintergründe dazu eingehen, das würde zu weit führen. Sollte sich jemand für einen den letzten Fälle interessieren, der das katastrophale Ausmaß dieses Verbots darstellt, kann einfach nach „Savita Halappanavar“ googeln).
Der Verfassungszusatz, der das Verbot geregelt hatte, stand 2018 im Mittelpunkt eines Referendums. Die Frage war: Soll dieser Verfassungszusatz bestehen bleiben (und Schwangerschaftsabbrüche damit nach wie vor verboten) oder soll er entfernt werden (und dann in einem nächsten Schritt eine neue, liberalere Regelung geschaffen werden). Der „Wahlkampf“, der dem Referendum voranging, war sehr intensiv. Insbesondere die „pro life“-Seite wurde finanziell extrem stark von ultrakonservativen Gruppierungen aus den USA unterstützt und sie haben die volle Munition aufgefahren - Bilder von toten Embryos, etc. Und trotz allem hat es die „pro choice“ Seite geschafft, den öffentlichen Diskurs zu dominieren und mit einer Kampagne, die die Stimmen von Betroffenen in den Vordergrund gestellt hat, die empathisch und emotional war und gleichzeitig klar Fakten und Zahlen kommuniziert hat, breite Zustimmung in der Bevölkerung zu finden. Am Ende hat im katholischen Irland eine Mehrheit der Bevölkerung für eine liberalere Regelung bei Schwangerschaftsabbrüchen gestimmt.
Mein Fazit: die Angst vor den Folgen einer Debatte, bei der unter anderem die Selbstbestimmung der Hälfte der Bevölkerung im Mittelpunkt steht sollte uns niemals davon abhalten, diese Debatte zu führen. Es ist möglich, diesen Diskurs in unserer Gesellschaft zu führen (und meiner Meinung nach schon lange überfällig).
Disclaimer: mir ist natürlich bewusst, dass die Situation in Irland inhaltlich eine andere ist, als bei uns und dass die Reform der Gesetzeslage eindeutig dringlicher war als in Deutschland. Mein Punkt bleibt aber nach wie vor: eine Debatte ist möglich und auch dringend nötig, um die anderen hier im Forum genannten Probleme anzugehen und die tiefer liegenden Aspekte der Debatte sichtbarer zu machen.