LdN 426 Koalitionsvertrag Gesundheit Interview Christian Karagiannidis

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Vielleicht ist es hilfreich, hier einmal gelebte Erfahrung aus einem effizienteren Gesundheitssystem mit Hausärzten als verpflichtenden Primärversorgern zu teilen. Ich lebe jetzt seit fast 5 Jahren in den Niederlanden und die wurden von eurem Gast ja explizit als ein Vorbild in Sachen Effizienz genannt.

Zunächst einmal funktioniert hier vieles mit dem Hausarztsystem gut. Die Registrierung mit einem Hausarzt ist recht einfach, auch nach einem Umzug. Man kriegt recht zügig einen Termin und nach Überweisung auch da zügig eine Behandlung. Vieles funktioniert online, man füllt selten mit der Hand irgendwelche Formulare aus etc.

Aber es gibt auch große Probleme mit diesem System. Es ist hier ein weit verbreitetes Meme, dass ein niederländischer Hausarzt einem, egal was das Problem ist, immer Ruhe und Paracetamol empfiehlt und einen nach Hause schickt. Ich habe von vielen Leuten gehört, dass sie sich beim Hausarzt mit ihren Problemen überhaupt nicht ernstgenommen fühlen und den Eindruck haben, dass der Hausarzt einen vor allem schnell wieder loswerden will.
Es ist oft sehr schwierig, vom Hausarzt eine Überweisung an einen Facharzt zu bekommen. Ich kenne mehrere Menschen in meinem Umfeld, die lang andauernde gynäkologische Beschwerden mit einem hohen Leidensdruck hatten und damit gerne zur Gynäkologin wollten. Das wurde aber vom Hausarzt abgelehnt. Eine Bekannte wurde erst ernstgenommen, als sie im Behandlungszimmer vor Verzweiflung in Tränen ausbrach.
In so einem Hausarztsystem ist es extrem wichtig, dass die Hausärzte einen sehr guten Job machen, weil sie eine so entscheidende Funktion haben. Wenn die Hausärzte falsche Entscheidungen treffen oder überlastet sind, hat das schwere Folgen.

Das führt mich zu meinem zweiten Punkt: In den Niederlanden hat man inzwischen an einigen Orten Schwierigkeiten, eine Hausärztin zu finden, die noch neue Patientinnen annimmt. Auch das hat gravierende Folgen. Wenn die Hausärztin die erste Ansprechperson für quasi alle Fragen sein soll und man dann keine Hausärztin finden kann, steht man dumm da.

In Summe möchte ich hier einfach betonen, dass so ein System nicht einfach alle Probleme löst. Gerade wenn es schlecht gemacht ist oder es zu wenig Personal gibt, kann dieses System schnell schlechtere Ergebnisse liefern als was es momentan in Deutschland gibt.

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Die im Interview erörterte Möglichkeit der Kostendämpfung durch Einführung eines Selbstbehaltes ist m.E. ein durchaus probates Mittel die Ausgabenseite der Sozialversicherungsträger zu entlasten. Und anders als es das Interview vermuten lässt ist dies ja kein Novum im deutschen Gesundheitssystem, sondern ausgerechnet dort, wohin der Blick gern bei dem Wunsch nach größerer Kostenbeteiligung geht bereits Realität: bei den Beamten. Ich bin in Schleswig - Holstein beschäftigt im öffentlichen Dienst und habe einen jährlichen Selbstbehalt von 400,-€. Da die Beihilfe 50% der Kosten ärztlicher Behandlungen deckt zahle ich also jährliche Arztkosten bis 800,-€ zur Hälfte selbst, der Rest über die private Zusatzversicherung. Hiervon ausgenommen sind Kosten für Vorsorgeuntersuchungen, so dass kein Anreiz besteht diese nicht vorzunehmen. Insgesamt also durchaus sinnvoll und sozial gestaffelt ein wie ich finde gutes Modell, die Ausgabenseite im Griff zu behalten

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Es ist doch kein Wunder, dass die deutschen so oft zum Arzt rennen. Man braucht schließlich als Arbeitnehmer ab dem vierten Krankheitstag eine Krankschreibung vom Arzt. In Dänemark ist das so geregelt, dass man den Arbeitgeber anruft und sich krank meldet. Will dieser ein ärztliches Attest als Beweis, muss der Arbeitgeber die Kosten dafür bezahlen. Dänische Arbeitgeber ziehen deshalb das Vertrauen in ihre Arbeitnehmer vor. Und sie wollen, dass man sich richtig auskuriert, damit man keine Kollegen ansteckt. In Deutschland hingegen wird erwartet, dass man sich möglichst gar nicht krank meldet und wenn, dass man so schnell wie möglich wieder arbeiten geht, auch wenn man noch deutliche Symptome hat. Also steckt man die Kollegen an, die dann auch wieder zum Arzt rennen.

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Der Vergleich mit der Beihilfe überzeugt mich nicht: Wer sich als Beamter für einen PKV-Tarif mit Selbstbehalt entscheidet, wählt diesen in der Regel bewusst, um die monatlichen Beiträge zu senken – die Zuzahlung erfolgt gegenüber der Versicherung und ist unabhängig von der Beihilfe. Das hat mit den gesetzlich festgelegten Zuzahlungen in der GKV, auf die die Versicherten keinen Einfluss haben, nichts zu tun. Wie eine solche Eigenbeteiligung bei 70 Millionen gesetzlich Versicherten überhaupt konkret und praktikabel umgesetzt werden könnte, bleibt in der Diskussion offen – der organisatorische Aufwand wäre jedenfalls nicht unerheblich.

Solange wir ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem haben, kann es eh nicht funktionieren. Die GKV beruht auf dem Prinzip der Solidarität. Jeder gibt einen festen Prozentsatz vom Einkommen. Aber wenn die Reichen sich da raus ziehen und nur noch die ärmere Hälfte der Bevölkerung einzahlt, können wir die Kosten nicht decken. PKV gehören abgeschafft. Wenn alle gesetzlich versichert sind, können die Kosten gedeckt werden. Und ich meine alle: auch Selbstständige, auch Superreiche, Privatiers, Beamte,…

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Es geht nicht um einen PKV-Tarif mit Selbstbehalt um die Beiträge zu senken. Gemeint ist die Kostendämpfungspauschale im öffentlichen Dienst, also derjenige Selbstbehalt, der von den Beihilfestellen von der errechneten Beihilfe abgezogen wird. Dieser Selbstbehalt ist zB in Schleswig Holstein geregelt in § 16 BhVO und gilt gestaffelt von 210,- € bis 700,-€ für alle Besoldungsgruppen. Wie gesagt: Mit der PKV hat das nichts zu tun sondern ist ein Abzug auf den die Beamten eben keinen Einfluss haben. Und der organisatorische Aufwand ist nun ein ausgesprochen schwaches Argument, da dies bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst in mehr als der Hälfte aller Bundesländer seit mehr als 20 Jahren praktiziert wird.

Ich arbeite für eine indische Firma in Deutschland. Wir dürfen 2 Arbeitstage im JAHR ohne Bescheinigung krank machen. D.h. am ersten Tag irgendwie zum Arzt.

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So recht überzeugend ist die Gleichsetzung von Superreichen mit Beamten nicht, zählt doch hierzu auch etwa der Sachbearbeiter im Jobcenter dazu mit A6 und gerade etwas über 2500,- € brutto. …Wenn schon, dann bitte konsequent eine Bürgerversicherung unter Auflösung auch der 94 (!) gesetzlichen Krankenkassen, die mit jeweils eigenen Vorständen und Verwaltungen nicht unerheblich zur Kostenspirale beitragen, obwohl alle auf derselben Rechtsgrundlage (SGB V) arbeiten.

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Also, als in den Niederlanden ist das System hervorragend, was die Effizienz angeht.

  1. Nicht jeder bekommt einen Facharzt Termin, für etwas Aua. Und diese Termine haben Wartezeiten
  2. Man muss schon viel Pendeln, da der Hausarzt wirklich nur koordiniert, bewertet, leichte Infekte behandelt. Blut abnehmen, Ultraschall usw. findet in Gesundheitszentren oder in Krankenhäusern statt. D.h. man muss fahren
  3. Der Patient ist voll transparent in seiner Erkrankungsgeschichte. Die Niederländische Kultur hat damit überhaupt kein Problem, aber in Deutschland „ich weiß ja nicht“.
  4. Es werden sehr viele OPs vermieden. Neues Knie, Hüfte usw. gibt es selten. Es wird sehr viel Physiotherapie angewendet und es wird auch mitmachen verlangt.
  5. Die Krankenkassen können sanktionieren (in einem gewissen Maß), wenn der Patient dem ärztlichen Rat nicht folgt. Herzkreislauferkrankungen wegen Übergewicht, dann wird Diät verordnet. Bei nicht befolgen höhere Beiträge im Privaten Teil der Versicherung.
  6. Der Hausarzt hat die Medikamente des Patienten unter Kontrolle. Jeder Arzt verschreibt sein Medikament ohne Abstimmung mit dem Kollegen gibt es nicht.
  7. Extrem hohe Spezialisierung der großen Krankenhäuser. Ein „wir können alles Krankenhaus“ gibt es nicht.

Das Problem in den Niederlanden ist, dass der Patient aktiv mit machen muss, was seine Gesundheit angeht. Diese Vollkasko Mentalität gibt es nicht. Dazu fehlen auch in den Niederlanden Ärzte und Pfleger. Besonders der Hausärzte fehlen, weil diese auch wesentlich schlechter bezahlt werden, als Fachärzte. Die haben jedoch auch eine viel kürzere Ausbildung.

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Ich habe die nicht gleichgesetzt. Und von mir aus können wir gern die vielen Krankenkassen abschaffen und stattdessen eine Bürgerversicherung haben. Wie das genau geregelt wird, ist mir egal. Mir geht es nur um die Abschaffung der PKV.

Gibt es einen bestimmten Grund, warum der Hinweis, dass in naher Zukunft die SV Beiträge auf über 50% gestiegen sein werden, unkommentiert gelassen wird? Sollte uns das nicht alle in helle Aufregung versetzen?

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Das wird der springende Punkt sein. Der Deutsche möchte ein System, das ihm alles liefert, und nichts abverlangt. Lieber lässt man sich einen Bypass legen und eine künstliche Hüfte einsetzen, als den Ratschlägen des Hausarztes zu Ernährung und Bewegung Folge zu leisten. Mit der Einstellung darf man sich auch nicht wundern, dass ein Drittel aller Besuche in Notaufnahmen unnötig sind - wenn man nen Kratzer hat, soll da Bitteschön ein Arzt drauf schauen. Dazu kommt offenbar auch eine sehr geringes medizinisch/physiologisches Grundverständnis, vermutlich werden auch deswegen alle Empfehlungen in den Wind geschlagen. In meinem Umkreis sind in den letzten 24 Monaten drei Väter an Krebs erkrankt, Alter zwischen 60 und 70. Bei allen ist es auf a) Lebensführung (Übergewicht, Alkohol, Diabetes) und b) völlige Ignoranz von Vorsorgeuntersuchungen zurückzuführen. Anstatt die 15 Jahre vorher was zu machen, hinterlassen sie nun Kinder und Enkelkinder viel zu früh und kosten dabei das Gesundheitssystem hunderttausende Euro.

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Ich fand den Anfang des Interviews absolut anstrengend und es hat mich sehr wütend gemacht.

Im Endeffekt hatten wir doch schon mal so eine Situation, in der der Hausarzt die Patienten verwiesen hat. Zu Zeiten der Praxisgebühr (nur in NRW?). Und man war sich doch recht schnell einig, dass das System total daneben war.

Mir war auch die Behauptung zu undifferenziert, dass nicht jeder 10 Mal im Jahr zum Arzt müsse. Für mich schwang da ein: „Geht weniger zum Arzt, ihr braucht das nicht!“ mit, das mir zu allgemein und zu neoliberal war. Ich denke da eher an Männer, die tendenziell zu wenig zum Arzt gehen. Ich denke da an Situationen, in denen gesagt wird, dass man besser einmal zu viel den Krankenwagen ruft als zu wenig. Oder besser einmal zu viel zum Arzt geht als zu wenig.
Hat man kleine Kinder, ist man eh häufiger krank. Soll man dann nie zum Arzt gehen, um 3 Mark 50 im Gesundheitssektor zu sparen? Ein Attest braucht man ja auch in solchen Fällen, also muss oft vorstellig werden.

Die Aussage zur Wartezeit auf Arzttermine fand ich mindestens zynisch, vor allem aber eher unwürdig und „menschenverachtend“ (ist ein vielleicht zu großes Wort, aber mir fällt gerade kein besseres Wort ein).
Ich dachte da an Fälle, die durch die Medien gingen, dass Menschen, während sie monatelang auf einen wichtigen Facharzttermin gewartet haben, gestorben sind.
Auch wieder sehr undifferenziert und irgendwie total negierend, dass es Fälle gibt, in denen man zeitnah auf einen Termin angewiesen ist.

Ich hätte mir von Philip und Ulf da mehr Intervention gewünscht.

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Und diese ganze digitale Gesundheitsaktengeschichte, da fehlte mir von dem Gast auch ein kritisches Mindset. Der CCC hatte doch die Missbrauchsanfälligkeit verdeutlicht, die die Politik ja auch schon nicht groß interessiert hat.

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Aber was ist mit den Vorsorgeleistungen wie den DMP - Programmen, wo man bei bestimmten Erkrankungen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen muss, damit sich die Gesundheit nicht verschlechtert?

Oder sind solche regelmäßigen Arztbesuche außen vor?

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Zugegeben etwas spitz formuliert, aber mich wundert wie einseitig das ganze Thema mit dem Gesundheitsexperten besprochen würde. Als ist es das Hobby von Millionen von Deutschen doppelte bzw zu viele Arztbesuche im Jahr zu machen. Ich glaube die Mehrheit der Bevölkerung wird …hier ganz klar nicht mehr als nötig zum Arzt geben. Wie immer wird es aber einen kleinen geringen Teil geben, die ein System missbrauchen.

Was aber in Eurer Diskussion weggelassen wurde, ist die Mehrbehandlungen und Doppelbehandlungen auf Grund von Ärztefehlern/Falscheinschätzungen und Fehlentscheidungen. Und über diese Liste mag leider niemand sprechen.

Warum müssen sich Ärzte nicht verpflichtend permanent fortbilden? Braucht es vielleicht so etwas wie einen Ärzte TÜV, ob wesentlich Standards überhaupt eingehalten werden? Darf bei einer geplanten OP auch der Wirbelsäulenspezialist einen Ellbogen operieren, obwohl er das kaum macht? Oder sollte er nicht lieber an ein spezialisiertes Krankenhaus verweisen? Warum darf mit eine Krankenkasse keine qualitative Empfehlung für ein Problem geben? Da kommt immer nur die Aussage wir sind zur Neutralität verpflichtet, bitte recherchieren sie selbst im Internet. Ich finde das persönlich ein Unding.

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Ärtzinnen und Ärzte sind verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden.

Dies geschieht über von der Bundesärztekammer anerkannten Fortbildungsveranstaltungen.

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Leider sollte man als Patient am besten schon selber wissen, was man hat und zum entsprechenden Arzt gehen. Ich bin über ein Jahr lang von einem Facharzt zum nächsten getingelt, weil jeder immer nur gesagt hat: „Ja, da ist etwas, aber ich weiß nicht, was das ist, jedenfalls bin ICH nicht zuständig.“ Hinweise, wer denn vielleicht zuständig sein könnte, gab es auch nicht.
Ich wünsche mir Gemeinschaftspraxen mit mehreren Fachrichtungen, die in solchen Fällen gemeinsam helfen. Dann geht man halt erst zur Müller, die dann beim Meier klopft, ob der mal mit drauf gucken kann usw.
Ich bin es so leid, jedem Arzt immer meine gesamte Krankengeschichte zu erzählen, wer mir was warum geraten oder verschrieben hat. Immer muss ich mehrere Seiten Fragebögen ausfüllen, meinen Allergiepass zeigen, dann nochmal auf die Allergien hinweisen, weil Ärzte so wenig Zeit haben, dass sie oft nur nach Schema F behandeln. Wir kennen alle den Witz vom Hautarzt, der für alles Cortisonsalbe verschreibt.
Ich fühle mich in diesem teuren System nicht gut aufgehoben.
Wenn immer von Vollkasko-Mentalität die Rede ist, finde ich das unmenschlich. Die Alternative ist ein Zwei-Klassen-System, in dem die schlechtere Gruppe nicht nur wie jetzt schon ewig im Wartezimmer sitzt, wenn man denn überhaupt in einer Praxis noch angenommen wird und in endlicher Zeit einen Termin bekommt. Diese Gruppe soll sich dann noch zwischen Miete und Gesundheit (Operation, Medikamenten etc.) entscheiden müssen?
Klar ist Eigenverantwortung wichtig. Da muss in der Schule viel mehr gelehrt werden, z.B. wie der Körper funktioniert, was er dafür braucht etc.
Aber während „echte“ Männer keinen Schmerz kennen und deshalb (?) nie zum Arzt gehen und fest glauben, dass sie ohne Fleisch nicht leben können, lernen Frauen von klein auf, dass ihre Schmerzen nicht echt sind, dass sie nie ernst genommen werden und dass Medikamente bei ihnen nie so wirken wie erwartet. Stichwort „medical gender bias“.

Ein Problem ist auch, dass Diagnose und Behandlung von ein und derselben Institution durchgeführt werden. Mit dem Auto geht man zum TÜV, der sagt, was gemacht werden muss und das lässt man dann in einer Werkstatt des Vertrauens machen. So müsste es auch in Bezug auf unsere Gesundheit sein: Die einen machen den Check, die anderen die Behandlung. So würde nicht automatisch immer das gemacht, was am meisten Geld bringt, sonder das was die Patienten gesund macht.

Leider stehen die 3 Punkte in meinem Post, für eine Edition/Löschung von eigenen Fallbeispielen/Erfahrungsberichten die den Rest jetzt als ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen dastehen lassen. Vielleicht könnte das Ganze ein Moderator wieder herstellen.