LdN 338: Justiz und rechte Gewalt

Sorry, aber erwartest du, dass ich auf Vorwürfe antworte, die eine klar parteiische Seite ohne jeden Beweis erhebt, ein Vorwurf, der selbst ausschließlich auf Mutmaßungen und losen Indizien basiert?!? Und das noch, bevor überhaupt die schriftliche Urteilsbegründung draußen ist?

Den oben geposteten Link zu akweb.de kann man hier nicht wirklich aus Diskussionsbasis nehmen, weil er offenkundig und in einem enormen Maß parteiisch ist. Dieser Artikel soll Stimmung machen, die Darstellung dort ist in jedem Fall, selbst wenn im Prozess nicht alles optimal gelaufen ist, maßlos übertrieben. Hier ist wieder mein klassisches Problem: Ja, ich hätte es auch gerne, wenn der Artikel des akweb die Wahrheit wäre, denn in meinem linken Grundbias fände ich es super, wenn es so wäre, wie in dem Artikel geschildert - Staatsanwaltschaft und Gericht alle doof, Lina E. in Wirklichkeit unschuldig (und ja, darum geht es in dieser Argumentation!), links gut, rechts böse, alles super. Aber ich bin mir absolut bewusst, dass die Schilderung dort ganz klar politisch motiviert und denkbar „aufgeblasen“ ist.

Selbst wenn einzelne Indizien und Aussagen problematisch sind, müsste man die Frage stellen, ob diese Indizien und Aussagen am Ausgang des Prozesses etwas ändern würden. Denn darauf wollen die Verteidiger und Autoren des akweb-Artikels ja hinaus. Deshalb stellte ich auch die Frage, ob du davon ausgehst, dass Lina E. unschuldig ist oder du der Meinung bist, das Strafmaß sei viel zu hoch. Denn nur wenn das zutrifft, macht es überhaupt Sinn, einzelne Aussagen und Indizien dieses 97 Verhandlungstage langen Prozesses anzugreifen. Denn das bei 97 Verhandlungstagen definitiv nicht jedes Detail 100% korrekt ist, ist eine Selbstverständlichkeit, es arbeiten schließlich an allen Stellen nur Menschen.

Wie gesagt, ich verstehe jeden Unterstützer von Lina E, der mit dem Urteil unzufrieden ist - und jeden, der damit unzufrieden ist, dass jetzt gegen Links so massiv ermitteln wird, während gegen Rechts über Jahrzehnte verschlafen wurde. Aber wenn jetzt plötzlich Leute so tun, als wollten sie hier den Rechtsstaat gegen Indizienprozesse und Kronzeugenregelungen verteidigen, ist das in etwa so, wie wenn Windkraftanlagen-Gegner plötzlich den Rotmilan gefährdet sehen oder wenn Stuttgart-21-Gegner plötzlich ein Herz für die Zauneidechsen (oder den Naturschutz allgemein) entwickeln.

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Um mal eine Antwort im Daniel_K-Style zu geben: Die Verteidigung ist in einem Gerichtsverfahren per definitionem Partei - ihre Ansichten sind also immer notwendigerweise parteilich, das ist nichts fallspezifisches.
Daraus allerdings abzuleiten, dass es überflüssig ist, sich mit deren Argumentation auseinanderzusetzen, finde ich ein abenteuerliches Argument. Sowohl die Interviews als auch der ak-Artikel enthalten ja nicht bloß Meinungen, sondern auch zahlreiche Argumente und Informationen zum Ablauf der Ermittlungen und des Verfahrens. Wenn Du keinen Sinn darin siehst oder keine Lust dazu hast, dich mit dieser inhaltlichen Kritik auseinanderzusetzen, ist das ja völlig legitim. Aber behaupte doch bitte nicht, dass das entweder unmöglich, sinnlos oder illegitim wäre. Und bitte unterstelle nicht weiter anderen, dass es ihnen hauptsächlich um die Unschuld einer Angeklagten oder um das Strafmaß ginge. Warum beziehst Du Dich stattdessen nicht einfach auf das, was Leute tatsächlich schreiben?!?

Pappkamerad aka Strohmann: Wer hier im Thread tut das? Hier äußern Leute Kritik daran, wie im konkreten Fall Indizienketten geknüpft und die Kronzeugenregelung angewandt wurden, nicht dass das überhaupt passiert.

Nein, hier äußern Leute Kritik daran, wie ihrer Meinung nach - und ohne Belege - angeblich Indizienketten geknüpft und Kronzeugenregelungen angewandt worden seien. Die Staatsanwaltschaft behauptet das Gegenteil, die Kronzeugen selbst wohl auch, und das Gericht scheint der Staatsanwaltschaft gefolgt zu sein.

Nochmal: Was willst du auf dieser Basis diskutieren? Diskussionen auf dieser Basis sind Glaubensfragen, keine Faktenfragen. Wer der Schilderung der Verteidigung glauben will, wird den Prozess für problematisch halten, wer der Schilderung nicht glauben will, wird den Prozess für okay halten.

Wenn ich jedes Mal einen Justizskandal sehen würde, wenn die Verteidigung nach einem Prozess Details kritisiert, wäre in der Tat jeder zweite große Prozess ein Skandal. Wie gesagt, dass Kronzeugen generell kritisch zu betrachten sind weiß das Gericht und wird es entsprechend auch berücksichtigen, dass die Verteidigung hingegen nach jedem Prozess mit Kronzeugen der Staatsanwaltschaft vorwirft, hier beeinflusst zu haben, ist wirklich - leider - normal, und hat deshalb hier keinen Skandalwert.

Die gesamte Argumentation des akweb und der Verteidiger, die hier kritiklos übernommen wird, zielt darauf ab, dass Lina E einen Freispruch erhält.

Sei mir nicht böse, aber ich halte diese Hoffnung für naiv. Es geh ja nicht nur um die 200 Morde, sondern auch um die ganzen anderen, kleineren Delikte. Bei denen ist der Rechtsdrall analog vorhanden. Heißt ein signifikanter Anteil der zuständigen Menschen arbeitet nach Maßstäben, die diesen Rechtsdrall aufweisen. Es sind hier deutliche Maßnahmen notwendig, um das zu durchbrechen. Schulung sämtlichen Personals und Einführung einer effektiven Kontrollinstanz z. B… Es ist nichts in dieser Art erfolgt, daher kann sich da gar nichts getan haben.
Dazu kommt, dass ich der Meinung bin, dass ganz gezielt die großen Geschütze gegen Links rausgeholt wurden. Es wurden in der Vergangenheit immer größere Geschütze gegen Links rausgeholt, siehe Wasserwerfer, und es wird in der Zukunft der Rechtsdrall weiter zunehmen. Neben der AfD gibt es noch FDP, CDU/CSU und auch SPD die zwar keine rechte Ausrichtung haben, aber de facto mit ihrer Politik Rechts stärken und die Demonkratie schwächen. Ich weiß auch nicht, wie wir das aufhalten können.

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Tja, sollte man meinen. Man sollte aber auch meinen, dass das bspw. genauso dafür gilt, den dienstlichen Zugriff auf Ermittlungs- und/oder Einwohnermeldedaten zu missbrauchen, um beliebig Daten von Menschenrechtsaktivistinnen abzugreifen und diese in Neonazikreise weiterzuleiten, oder gleich selber Morddrohungen zu versenden. (Oder auch einfach nur um irgendwelchen Zeuginnen private Dateanfragen zu senden.) Trotzdem passiert das immer wieder, denn die Wahrscheinlichkeit Ärger zu bekommen ist verschwindend gering, die Kollegen sehen nichts, hören nichts, sagen nichts, und wenn’s tatsächlich mal herauskommt, kann man sich in den allermeisten Fällen darauf verlassen, dass dienstrechtliche Konsequenzen irgendwo versanden zwischen Polizeiführung, Personalrat und „wir warten erstmal das Strafverfahren ab“ (dass dann irgendwann sang- und klanglos eingestellt wird).

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Das ist ja auch alles richtig, aber das spricht halt nicht gegen dieses Urteil oder das Vorgehen der Staatsanwaltschaft im Fall Lina E., sondern es spricht gegen die Urteile (bzw. nicht ergangenen Urteile) und Vorgehen der Staatsanwaltschaft, wann immer es um rechte Straftaten geht.

Ich halte es eben für problematisch, das Problem, das zu wenig gegen Rechts getan wird, an diesem Prozess gegen Links festzumachen. Der Staat hat hier im Fall Lina E gezeigt, zu was für einem Ressourceneinsatz er fähig ist - wenn er es für nötig hält. Jetzt geht es darum, dafür zu kämpfen, dass dieser Ressourceneinsatz auch gegen Rechts Normalität wird und nicht bei der nächsten Schlägertruppe wieder gesagt wird „Verfahren eingestellt, weil ohne unverhältnismäßigen Aufwand keine Verurteilung zu erwarten ist“.

Was die Kritik am Urteil generell betrifft würde ich noch anfügen, dass ich es einfach für verfrüht halte, jetzt schon Kritik zu äußern. Das hat auch strafprozessrechtliche Gründe. In der schriftlichen Urteilsbegründung ist die Beweiswürdigung ein zentrales Element. Es ist z.B. gut möglich, dass aus der schriftlichen Urteilsbegründung hervorgehen wird, dass das Gericht starke Zweifel an den Aussagen des Kronzeugen hatte und diese deshalb nicht in das Urteil eingeflossen sind - wir wissen es schlicht nicht.

Wenn es jetzt einen großen öffentlichen Protest gibt, bevor die schriftliche Urteilsverkündung raus ist, wäre - von einem korrupten System ausgehend - dadurch sogar die Gefahr begründet, dass der Richter deswegen die Beweiswürdigung in der schriftlichen Urteilsbegründung an die öffentliche Meinung anpasst, daher es im schriftlichen Urteil so aussehen lässt, als haben die kritisierten Aspekte keinen Einfluss gehabt. Auch deshalb ist es sinnvoll, erst Mal die Urteilsbegründung abzuwarten - denn das, was dort drin steht, macht den Prozess angreifbar. Alles, was man vorher angreift, wird möglicherweise in der Urteilsbegründung bereits berücksichtigt. Man gibt so gesehen dem Gericht keine Chance, Fehler zu machen, die man später nutzen könnte. Sinnvoller ist es, etwaige Fehler abzuwarten und dann dagegen vorzugehen.

Da hast du vermutlich Recht, und da will ich auch nicht widersprechen. Im Gegenteil, es muss in der Tat viel mehr gegen den Rechtsdrall in der Polizei getan werden, da sind wir uns doch alle einig. Vielleicht habe ich zu viel Vertrauen in den Rechtstaat, aber ich gehe einfach davon aus, dass zumindest dort, wo mehrere Beamte involviert sind, weniger Missbrauch praktiziert wird. (dh. ein einzelner Beamter, der Dinge durchstechen oder Informationen abrufen kann, ist schwer vermeidbar, aber dass sich eine gesamte Ermittlungsgruppe konspirativ mit der Staatsanwaltschaft verständigt, um falsche Beweise zu konstruieren, ist hoffentlich deutlich unwahrscheinlicher…)

Die Kritik an Aspekten der Prozessführung kam nicht nur aus der Online-Zeitschrift analyse & kritik (nicht: „das akweb“), sondern waren allesamt auch in den letzten Jahren in - meinetwegen - seriösen Medien zu lesen. Ich verstehe nicht ganz, warum man das nun alles über Bord werfen sollte, nur weil ein Gericht entschieden hat.

Man kann doch - ganz unabhängig vom Urteil - der Auffassung sein, dass die offensichtliche Nähe der Soko LinX zum Compact-Magazin und der Einsatz von Razzien, um Nachbarschaftsstreits zu beeinflussen, problematisch ist und nicht das beste Licht auf die Ermittlungsarbeit wirft. Und m.E. ist es auch keine vermessene Frage, wie es dazu kommen kann, dass die zuständige Staatsanwältin Gegenbeweise übersieht, obwohl sie ihr längst vorliegen.

Mir scheint die Perspektive nicht sonderlich erbaulich, dass solche Fehler halt ständig passieren und man sie deswegen nicht an die große Glocke hängen sollte. Es wäre doch im Interesse aller, dass Ermittlungsbehörden nicht mit Jürgen Elsässer klüngeln und dass falsche Anschuldigungen auf ein Mindestmaß begrenzt werden. Und hier spielt dann auch wieder eine strukturelle Komponente eine Rolle: Mir zumindest ist kein Fall bekannt, in dem eine Polizeibehörde für ihre zu große Nähe zur Jungle World oder zu analyse & kritik bekannt wäre.

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Naja, eher sind sich alle dafür eigentlich Verantwortlichen einig – ob nun im Polizeiapparat, in der Justiz, den sogenannten Polizeigewerkschaften, den Innenbehörden oder auch den meisten Medien – dass ganz im Gegenteil überhaupt nichts gegen rechte Unterwanderung der Polizei getan werden sollte.

Ich gebe dir grundsätzlich in allen Punkten Recht, ich denke eben nur, wie im letzten Beitrag ausgeführt, dass man schon alleine aus taktischen Gründen die schriftliche Urteilsbegründung abwarten sollte, bevor man maßgebliche Kritik am Urteil äußert.

Kritik an den anderen Umständen, die sich auch auf dieses Urteil ausgewirkt haben könnten, ist definitiv berechtigt. Aber der Beitrag, aus dem das Ganze hier hervorgegangen ist, ist eben ein direkter (und mMn wesentlich verfrühter) Angriff auf das Urteil, zumindest habe ich ihn so gedeutet.

In diesem Sinne bin ich einfach nur dafür, strikt zwischen „Kritik am System“ und „Kritik am Urteil“ zu trennen und eben mit letzterem abzuwarten, bis die Urteilsbegründung und damit vor allem die Beweiswürdigung bekannt ist…

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Frage zur Nähe zum Compact Magazin. Meinen kurzen Recherchen nach haben in der SokoLinx mindestens 40 Personen gearbeitet. Gut möglich, dass wesentlich mehr Aktenzugang haben.

Wie viele Personen waren an den Durchstechereien beteiligt? Weiß man das? Ist durch bspw. ein schwarzes Schaf die ganze Ermittlung bereits diskreditiert? Und hat die Rolle des Durchstechers vielleicht einen Einfluss auf die Bewertung? Ist ein kleiner Schreibtischtäter eventuell weniger problematisch für die Ermittlungen als jemand in der Spurensicherung oder der Leitung?

Ich halte es für sehr fraglich unkritisch auf den Vorwurf der „politischen Justiz“ der sehr aggressiv agierenden Verteidigung (Vorwürfe bis hin zum Feindstrafrecht) und der linken Szene einzugehen. Dies verschafft einem Vorwurf Legitimität für den ich kaum überzeugende Indizien gehört habe.

Was ist denn der Vorwurf? Dass dem Prozess viel Raum gegeben wurde, um die Vorwürfe sauber aufzuarbeiten? Allein das riesige öffentliche Interesse und die potentielle Skandalisierung durch die einschlägigen Gruppen scheinen mir gute Gründe für eine möglichst lückenlose Aufarbeitung des Ganzen.

Gerade von Ulf, der auch Richter ist, finde ich es zumindest unredlich, dass die Vorwürfe kommentarlos in den Raum gestellt werden. Denn bereits der Anschein einer politischen Justiz schadet dem Ansehen des Rechtsstaates und der Legitimität der Entscheidung in concreto – ähnlich wie es sich bei der Befangenheit iR von gerichtlichen/behördlichen Entscheidungen verhält. Hier wird insinuiert, dass das Vorliegen einer politischen Justiz ein realistisches Szenario ist. Dafür spricht nach aktueller Sachlage mE so gut wie nichts.

Das verhängte Strafmaß von 5 J, 3 M wird unter Juristen wenig diskutiert, da diese Gesamtstrafe für die verschiedenen Tat-Vorwürfe (gefährliche KV, Nötigung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Urkundenfälschung und insb. Bildung einer kriminellen Vereinigung) durchaus angemessen scheint.

Der zuständige Senat des OLG hat iÜ vor diesem Urteil Fälle von rechtsextremen Tätern abgeurteilt (zB Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppe Freital), die mit deutlich höheren Strafen endeten. Diesen wurde im Unterschied zum aktuellen Fall auch – mE zu Recht – die Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) vorgeworfen.

Zudem hat das Gericht den Haftbefehl gegen Lina E. außer Vollzug gesetzt – mE zu Recht. Zwar bestehen einige Auflagen. Aber hier wandte sich das Gericht gegen die Bundesanwaltschaft und ist nicht mit voller Härte vorgegangen. Und das obwohl Anlass für die Sorge besteht, dass sie in den Untergrund gehen könnte, wie bereits ihr Lebensgefährten. Ein solcher Gang in den Untergrund stellt für das Individuum oft einen „point of no return“ dar und ist häufig ein weiterer Radikalisierungsfaktor.

Dies spricht alles weiterhin dafür, dass es sich nicht wie vorgeworfen um eine politische Justiz handelt.

Ein systematisches Versagen des Rechtsstaates ggü der extremen Rechten ist mE nicht zwingend begründet. Es gibt viel anekdotische Evidenz dafür, dass im Vorgehen gegen Rechts die gebotene Härte fehlt. Dieser Vorwurf wird von der Rechten vice versa erhoben und ebenfalls anekdotisch begründet. Ich habe zwar auch den Eindruck, dass von staatlicher Seite deutlich mehr gegen Rechtsextremismus getan werden könnte, sollte und müsste. Ist aber der Staat auf einem Auge blind? Eine richtige Studie dazu gibt es, das sollte mal betont werden, nicht.

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Sie wurde zu 5 Jahre 3 Monate verurteilt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird so eine Strafe nach verbüßten zwei Dritteln, also 3½ Jahren, zur Bewährung ausgesetzt. Davon hat sie bereits 2½ Jahre in U-Haft abgesessen. Die zu erwartende Reststrafe dürfte also bei nur noch etwa 1 Jahr liegen. Ich denke nicht, dass irgendwer argumentieren könnte, dass unter diesen Umständen noch eine realistische Fluchtgefahr bestehen würde.

Wobei das Problem hier ist, dass die Justiz leider nicht sehr offen für neutrale wissenschaftliche Aufarbeitung ist. Ich erinnere mich da an Diskussionen mit einer damaligen Strafrechts- und Kriminologie-Professorin von mir (Prof. Christina Graebsch, noch im Sozialarbeitsstudium), die auch mal wissenschaftliche Untersuchungen im Justizumfeld gemacht hat und davon berichtete, wie unglaublich schwierig es ist, auch nur zu Genehmigung für irgendwelche Projekte zu bekommen, die auch nur im Kern kritisch sein könnten.

Der Staat schirmt den Bereich der Polizei und Strafjustiz leider schon sehr effektiv gegen kritische Studien ab. Denn ohne staatliche Kooperation (durch Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsanstaltung und Gerichte) sind hier keine ernsthaften Studien möglich, alleine schon, weil Strafurteile nicht veröffentlicht werden, auch nicht für Journalisten oder Wissenschaftler.

Beim Rest deiner Einschätzungen gebe ich dir überwiegend Recht - es gibt wenig Hinweise, dass der Prozess „unfair“ im Sinne der Rechtstaatlichkeit gewesen wäre. Grundsätzlich gilt, dass Urteile in einem Rechtsstaat einen gewissen Vertrauensvorschuss genießen, wenn diese nicht evident falsch sind. Man kann die Wertungen der Urteile dabei natürlich kritisieren, sollte aber klar unterscheiden zwischen „Fehlurteilen“ (also Urteilen, die gegen tragende Grundsätze des Rechts verstoßen) und „subjektiv schlechten Urteilen“, also Urteile, die nicht in die Richtung gehen, die man sich gewünscht hat.

Das einzige, was in dem Verfahren klar politisch war, war die Rolle der Staatsanwaltschaft, die mMn ganz klar darauf aus war, ein Exempel zu statuieren und vermutlich auch dem Neutralitätsgebot des § 160 Abs. 2 StPO nicht gefolgt ist. Die Tatsache, dass der Richter jedoch nur auf Zwei Drittel der Strafforderung der Staatsanwaltschaft entschieden hat, zeigt schon, dass hier Richter und Staatsanwaltschaft klar unterschiedliche Wertungen vertreten haben.

Wir wissen noch nicht, ob die Staatsanwaltschaft auch Revision einlegen wird. Sollte sie das tun, stünden auch wieder die von der Staatsanwaltschaft geforderten 8 Jahre im Raum.

Ja, natürlich. Und die Verteidigung wird Revision einlegen und weiter Freispruch fordern. Aber ein erstinstanzliches Urteil ist doch selbstverständlich ein legitimer Anhaltspunkt für das zu erwartende Strafmaß. Warum sollte das Gericht bei der Haftprüfung davon ausgehen, dass sein eigenes Urteil in erheblichem Maß revidiert werden wird?

Ich stimme dir absolut zu und befürworte auch, dass sie freigelassen wurde.

Ich wollte nur anmerken, dass hinreichend erzkonservative Kräfte darauf verweisen könnten, dass ja doch noch eine Reststrafe von mehreren Jahren möglich sein könnte, was zumindest die Argumentation weiterer Untersuchungshaft bei hinreichender Fluchtgefahr nicht völlig unmöglich macht.

Ich denke auch, dass bei einer Gesamtabwägung eine weitere U-Haft kaum zu rechtfertigen ist. Aber ich halte auch - wie damals im ersten Thread zu dem Thema schon gesagt - die 8 Jahre Strafforderung der Staatsanwaltschaft für kaum zu rechtfertigen :wink: Ich würde mich daher nicht besonders wundern, wenn die Staatsanwaltschaft, wenn sie Revision einlegt, mit ihrer Revisionsschrift auch gleichzeitig erneut eine Untersuchungshaft fordert. Ich bestreite die (voreilige) Kritik am Gericht und am Urteil, aber Kritik an der Staatsanwaltschaft hat leider durchaus eine berechtigte Grundlage…

Ja, und dann kann es natürlich theoretisch auch sein, dass das Revisionsgericht relativ zügig in Richtung der Strafvorstellung der StA tendiert und deswegen erneut Haftbefehl erlässt. Aber für jetzt wäre es halt absurd gewesen, wenn ein und dasselbe Gericht faktisch noch ein Jahr zu verbüßende Reststrafe verhängt und trotzdem den Haftbefehl aufrechterhält.

Bei der kürzlichen Re-Lektüre dieses Threads fand ich übrigens besonders interessant, dass du dort schriebst, man könnte eine Strafe von 5 Jahren „mit bösem Willen“ gerade noch für angemessen halten. Das tatsächliche Strafmaß müsste doch für den @Daniel_K von vor zwei Monaten genau im Graubereich von „gerade noch angemessen“ und „politische Justiz“ liegen. :wink: (Das alles, freilich, nur am Rande.)

Naja, ich schrieb dort ja, dass ich mir 3-4 Jahre gewünscht hätte, aber 5 Jahre (mit gutem/bösen Willen, je nach Betrachtungsweise) auch noch vertretbar sind, 8 hingegen nicht. 5 Jahre und 3 Monate sind daher noch im Bereich des vertretbaren.

Für Details müsste man aber - und das ist eigentlich mein Grundtenor in diesem Thread - die ausführliche Urteilsbegründung abwarten. Denn aktuell können wir natürlich nur die angeklagten Straftaten und das Vorleben der Verurteilten (dh. keine Vorstrafen usw.) bewerten. Aber aus der Urteilsbegründung können ja auch noch strafverschärfende Aspekte hervorgehen.

Deshalb war meine erste Reaktion auf dieses Urteil ja auch, dass ich froh war, dass es keine 8 Jahre geworden sind, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, sondern eine Strafhöhe gewählt wurde, die in jedem Fall noch vertretbar scheint. Wichtig ist hier, die Vertretbarkeit von der eigenen Wunschvorstellung zu trennen.

Hätte sich das Gericht hier der absurden Strafforderung der Staatsanwaltschaft angeschlossen, wäre ich der letzte gewesen, der einen politischen Einfluss auf das Urteil ausgeschlossen hätte. Aber gerade weil das Gericht so deutlich unter der Forderung der Staatsanwaltschaft blieb, sehe ich hier wenig Substanz für schnelle Kritik.

Leider hat die Bundesanwaltschaft heute tatsächlich Revision gegen das Urteil eingelegt.

Ich frage mich dabei, welche Argumente die Bundesanwaltschaft für eine Revision vorbringt, da die Staatsanwaltschaft sich mit öffentlichen Statements im Gegensatz zur Verteidigung natürlich zurückgehalten hat. Ich gehe jedenfalls mal davon aus, dass die Staatsanwaltschaft ganz andere Dinge angreifen wird als die Verteidigung, weil der Staatsanwaltschaft das Urteil ja „zu mild“ war (5,25 Jahre statt der geforderten 8 Jahre).

Das Verfahren wird uns jetzt wohl noch einige Zeit begleiten… die Revisionsbegründungen beider Seiten werden noch mal interessant werden, aber aktuell sieht es für mich tatsächlich so aus, als sei der Urteilsspruch irgendwo in der Mitte zwischen den Extrempositionen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft (und die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft eine Extremposition vertritt, ist durchaus kritikwürdig…)

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