LdN 330 Schwachpunkt des Strafbefehl-Verfahrens

Euer Interview mit Ronen Steinke war wie immer hervorragend. Er und sein Anliegen sind mir auch aus anderen Interviewformaten bereits bekannt. Das Anliegen unterstütze ich natürlich zu 100 %, frage mich aber, ob die von euch vorgeschlagenen Verbesserungsideen angesichts angespannter Personallage an Gerichten realisierbar sind. Deshalb habe ich darüber nachgedacht, wie bereits jetzt in der aktuellen Situation (ohne Gesetzesänderungen) eine Verbesserung erreicht werden könnte.

Aus meiner eigenen beruflichen sechsjährigen Tätigkeit als Rechtspflegerin (überwiegend am Amtsgericht in Betreuungs-und Vormundschatssachen) weiß ich, wie ernst Anhörungspflichten genommen werden. (Rechtspfleger haben ein juristisches Fachstudium an einer FH absoviert und treffen ihre anfechtbaren Entscheidungen wie der Richter sachlich unabhängig) Ich selbst bin regelmäßig zur Anhörung von Betroffenen gefahren. Das heißt: Man spricht vor der Entscheidung mit dem/r Betroffenen (Bei mir oft Genehmigungen von Hausverkäufen)

Was ich mich frage, ist, warum hier der Schwachpunkt im Strafbefehlsverfahren liegt. Die Antwort, die ich für mich gefunden habe, ist diese: Es wird davon ausgegangen, dass keine Einschränkungen vorliegen, weil sich in den Akten kein Hinweis darauf befindet. In Betreuungsakten gibt es natürlich immer Hinweise auf die physische und/oder psychische Verfassung des/r zu Betreuenden. Sie ist schließlich der Grund für das Betreuungsverfahren. Deshalb ist es an dieser Stelle so eindeutig, dass es der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung bedarf (außer in sehr engen Ausnahmefällen). So ein Hinweis fehlt im vereinfachten Strafverfahren ganz offensichtlich. Ein Hinweis, der das Bild, das sich Staatsanwalt, Amtsanwalt (= Rechtspfleger mit Zusatzausbildung) oder Richter von dem/r Angeklagten machen, vervollständigt.

Wer könnte diesen Hinweis geben? Wer hat vor Ort mit dem/r Betroffenen Kontakt? Wer nimmt die Strafanzeige auf? Die herbeigerufene Polizei? Der Angestellte des Verkehrsbetriebes/des Bahnhofs? Kontrolleure?
Was verwenden sie für die Anzeige? Sicherlich einen Vordruck, ein Formular.

Lösungsvorschlag: In solchen Vordrucken/Formularen sollte ein Absatz zur Verfassung des/r Angezeigten aufgenommen werden. Gibt es Anzeichen von psychischen Problemen? Verständnis-und/oder Sprachprobleme? Und Ähnliches. Die Personen, die mit den Betroffenen vor Ort Kontakt haben, dürften in vielen Fällen ziemlich schnell erkennen können, ob ein Mensch orientiert oder verwirrt ist, in Panik oder anderes.
Sobald ein Vermerk dazu in den Akten der Staatsanwaltschaft auftaucht, ist für diese doch dann klar, dass im Zweifel vor Gericht ein persönlicher Termin anberaumt werden muss. Oder noch besser: Dass die Sache von Amts wegen eventuell parallel an andere Institutionen weitergeleitet wird, damit sich bei Bedarf jemand kümmern kann (Sozialarbeiter, Betreuer…). Aber leider sind wir an dieser Stelle dann wieder bei den eingeschränkten Ressourcen (Personalmangel, Geldmangel)…

Ein verpflichtender Vermerk im Formular (zur Anzeige) betreffend psy./phy. Allgemeinzustand des/r Anzuzeigenden wäre einfach, pragmatisch und sofort umsetzbar.

Oder sprechen juristische Gründe dagegen?

Eine andere Frage habe ich mir auch noch gestellt: Gibt es keinerlei Verfassungsgerichtsentscheidungen zur Thematik? Vermutlich nicht, weil das Verstreichen der Einspruchsfrist, die Nicht-Ausschöpfung des Rechtsweges etc. dagegen sprechen. Aber aus meiner Sicht grenzt die tägliche Praxis, wie ihr sie dargestellt habt, an Verfassungswidrigkeit.

Ich habe die aktuelle Folge noch nicht gehört (ich höre die LdN immer im Fitnessstudio und da geht’s erst heute abend hin ^^), aber mit der Strafbefehlsproblematik bin ich durchaus vertraut, auch, weil ich selbst in meiner Zeit als Gesetzlicher Betreuer hin und wieder Fälle hatte, in denen ein Strafbefehl wegen Verstreichen der Einspruchsfrist rechtskräftig geworden ist. Ist immer großartig, wenn man bei einem neuen Betreuten die - oft seit Wochen ungeöffnete - Post durchschaut und dann ein Strafbefehl darunter ist…

Die einfachste Lösung der Strafbefehlsproblematik wäre meines Erachtens eine schlichte Änderung des Verfahrens dahingehend, dass Nicht-Reaktion auf den Strafbefehl als Einspruch gewertet wird, daher eine aktive Zustimmung zum Strafbefehl erforderlich ist. Kurzum: Statt des aktuellen „Das ist ihre Strafe, wenn Sie nicht einverstanden sind müssen Sie binnen zwei Wochen Einspruch einlegen!“ ein simples „Das wäre ihre Strafe, wenn sie dem binnen zwei Wochen zustimmen. Wenn Sie nicht zustimmen, kommt es zu einem Strafverfahren mit ungewissem Ausgang!“

Wenn der Beschuldigte dann auch den Gerichtstermin nicht wahr nimmt, wird er irgendwann nach § 230 Abs. 2 StPO vorgeführt werden. Auch nicht schön, aber hier ist es zumindest ausgeschlossen, dass es ohne Augenscheinnahme durch einen Richter zu einer Ersatzhaftstrafe kommt.

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Genau das schlagen Ulf und Philip u.a. vor.
Wenn das ohne Gesetzesänderung geht, wäre es auch pragmatisch, aber fordert dann auch viel mehr Personal.

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Siehe auch hier https://talk.lagedernation.org/t/ldn-330-loesungsansatz-fuer-briefe-in-behoerden-justizsprache/19713?u=margarete_amelung

Als Gefängnisseelsorger begegnen mir solche Fälle fast täglich und ich könnte mir manchmal die (nicht mehr vorhandenen) Haare ausreißen.
Ein Problem bei Strafbefehl: Es wird von der Rechtspflege oft einfach mal ein Tagessatz von 10-15€ angenommen, nach dem Motto: kann ja Beschwerde dagegen einlegen. Die wenigsten kapieren aber, dass dies auch nur innerhalb dieser 14 Tage geht bzw. dass das überhaupt geht. Oft begegnet mir auch das Missverständnis: „Ich muss 300€ zahlen. wenn ich gegen die Höhe des Tagessatzes Beschwerde einlege, erhöht sich die Anzahl der Tage, die ich absitzen muss“. Wenn diese Menschen dann erst mal bei uns sitzen und ich diesen Irrtum aufkläre, ist es natürlich längst zu spät.
Ich fände es extrem hilfreich, wenn sich die Höhe des Tagessatzes zu jedem Zeitpunkt korrigieren ließe, auch wenn sie schon in der JVA sitzen.

Manche Gerichte/Staatsanwaltschaften geben sich richtig Mühe mit Angeboten zu Ratenzahlung etc. Andere sind da sehr radikal: Zahlt nicht - Haftbefehl raus.

Und dann gibt es da noch die Supereifrigen. mein krassester Fall: Da wurde jemand von der Polizei aus der geschlossenen Psychiatrie abgeholt, damit er 30 Tage bei uns eine Geldstrafe absitzt, um dann selber gucken zu müssen, wie er wieder in die Psychiatrie kommt. Noch absurder geht es fast nicht mehr.
Manfred Heitz (Der Knastprediger)

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Was mich bei all dem immer so irritiert bzw. aufregt, sind die - aus meinen Augen - viel zu kurz angesetzten 14 Tage zum Widerspruch. Es gibt unendlich viele Beispiele und mögliche Situationen, die dazu führen, dass das viel zu kurz ist. Warum wird das so kurz angesetzt, gibt es dafür eine Notwendigkeit? Warum nicht 30 oder 45 Tage?

Das würde doch schnell und einfach die Reaktionsmöglichkeiten erhöhen.

Das als - in diesem Bereich unbedarften - Kommentar / Meinung

Darüber kann man sicherlich diskutieren.

Zweck des Strafbefehlsverfahrens ist es ja gerade, die Sachen schnell zu lösen. Der Zeitraum bis zum Einspruch im Strafbefehlsverfahren verlängert im Einspruchsfall natürlich dann auch die Gesamtzeit des Verfahrens. Desto mehr Zeit zwischen Tat und Gerichtsverhandlung liegt, desto ungenauer werden die Zeugenaussagen und desto schwerer ist es, noch Beweise zu sichern. Daher besteht natürlich schon ein Interesse, diese Zeiten eher kurz zu halten.

Ansonsten gilt für Strafbefehle natürlich das gleiche wie für alle anderen Fristangelegenheiten - wenn man wirklich unverschuldet nicht auf den Strafbefehl reagieren konnte, kann man Widereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Aber das hilft der Gruppe, über die wir hier diskutieren, natürlich auch nicht, weil die meist erst von ihrer Verurteilung im Strafbefehl erfahren, wenn sie von der Polizei festgenommen und in die JVA gebracht werden… da hilft dann auch keine Wiedereinsetzung mehr.

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Das muss man aber auch erstmal wissen.

Ich hab mal eine Zeitlang auf Auslandsmontage gearbeitet: 3 Wochen weg und 1 Woche zu Hause.

Nu hatte ich jemanden zu Hause der die Post bearbeitet hat, aber ein Teil meiner Kollegen hatte das nicht.

Aber das man eine Wiedereinsetzung einer Frist beantragen kann, weil man nicht reagieren konnte kursierte nicht als Gerücht oder Wissen unter uns Monteuren.

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Vielen Dank an die Lage für das sehr interessante Interview, dass mich doch sehr beschäftigt hat. Zufällig bin ich heute nochmals beim lesen des Hamburger Straßenmagazins „Hinz und Kunzt“ auf das Thema gestoßen. Hier gab es einen kleinen Bericht über die Initiative „Freiheitsfonds“, welche von Ersatzfreiheitsstrafen betroffene Personen aus der Haft freikauft. Das ist natürlich nur eine kleine Gegenmaßnahme, welche das Problem nicht an der Wurzel packt. Ich finde das aber trotzdem eine gute Sache und wollte das daher hier erwähnen und verlinken: https://freiheitsfonds.de/

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Es wird sich andauernd darüber beschwert, dass Verfahren sich so lange hinziehen, dass der erwünschte Lerneffekt bei dem/der Verurteilten nicht eintritt, weil die Straftat schon zu lange her ist. (Klassiker: Diebstahl)
Da kann es auf die 14 Tage mehr für die Strafbefehlsfrist nun wirklich nicht ankommen.

Und das Prinzip „Schweigen ist Zustimmung“ kenne ich tatsächlich sonst nur in ironischem Kontext.

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Andererseits kann wenn die Kritik lautet, dass Prozesse ohnehin schon zu lange dauern, dies doch kein valides Argument dafür sein, Verfahren einzuführen, die den Prozess noch länger dauern lassen? Also dieses „das macht den Braten auch nicht mehr Fett“-Argumentation führt im Zweifel nur dazu, dass das bestehende Problem der überlangen Prozesse sich noch verschärft. Es ist ja ein erklärtes politisches Ziel - über alle Parteigrenzen hinaus - dass die Prozesse wenn überhaupt beschleunigt werden sollen.

Da sind wir alle einer Meinung. Wie gesagt, die Sache einfach umzudrehen wäre die einfachste Lösung: Ein Strafbefehl muss binnen 14 Tagen aktiv angenommen werden, sonst geht das Verfahren automatisch seinen Weg. Das führt natürlich auch wieder zu weniger Entlastung der Justiz, steht dafür im Einklang mit rechtstaatlichen Grundsätzen. Denn hier gebe ich dir Recht: Schweigen als Zustimmung für eine Bestrafung ist rechtstaatlich hochgradig problematisch.

Es steht der Justiz frei, am Tag nach der (aktuell noch aktiv erforderlichen) Ablehnung des Strafbefehls den Prozess mit der legal kürzest-möglichen Vorlaufzeit anzusetzen (Spontan finde ich dazu eine Woche. § 217 StPO - Ladungsfrist - dejure.org ). Damit könnte ein solches Thema also nach z.B. 5-6 Wochen gegessen sein.
Achso, der nächste freie Prozesstermin ist aber erst in z.B. 12 Monaten?! (Ich finde gerade keine Zahlen dazu.)
Angesichts dieser Vorlaufzeiten bei der Justiz und der Bedeutung der Strafbefehlsfrist ist es ein Scheinargument, die Fristen im Strafbefehl kurz halten zu wollen. „So viel Zeit muss sein“, bzw., wie du es schon sagst, „das macht den Braten dann nicht mehr fett“.

Wenn du unbedingt Zeit sparen willst, kann man den Prozess auch schon mit Versand des Strafbefehls terminieren und bei Annahme des Strafbefehls wieder absagen. (Oder wäre das dann eine „doppelte Anklage für das gleiche Vergehen“?)
Die frei werdenden Termine weiß die überlastete Justiz sicherlich gut zu nutzen.

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Ich glaube, du stellst dir den Arbeitsablauf in der Justiz etwas zu einfach vor ^^

Was spricht denn dagegen, einfach das Strafbefehlsverfahren dahingehend zu ändern, dass dem Strafbefehl aktiv zugestimmt werden muss? Derjenige, der die Zustimmung verpasst hat (weil er z.B. im Urlaub war) ist wesentlich eher in der Lage, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, wenn er doch den verfristeten Strafbefehl annehmen möchte, als derjenige, der wegen Demenz oder Depression gar nicht erst seine Post öffnen oder verstehen kann…

Ich fände diese Lösung einfach so viel eleganter, als eine Lösung über die Fristen. Denn auch wenn die Fristen 6 Monate wären, für den Depressiven, der seine Post nicht öffnen kann, wird das auch nur bedeuten, dass er 6 Monate später irgendwann aufgegriffen und in die JVA gebracht wird. Eine Verlängerung der Fristen löst daher auch die aufgeworfenen Probleme des „Haftantritts, ohne jemals einen Richter gesehen zu haben“ nicht wirklich.

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Wie du selbst sagst: Bei dem Punkt sind wir einer Meinung. :slight_smile:

Ich habe lediglich auf dein Argument der Verfahrenslänge reagiert, mit dem du auf den Vorschlag von @Hr_MWolf antwortest, die Fristen zumindest mal zu verlängern und das Interesse an den kurzen Fristen in der aktuellen Regelung begründest:

Ich stelle mir sie unnötig kompliziert vor. :wink: Lass uns dieses Fass aber hier nicht aufmachen.

Wäre dass dann nicht ein Punkt an dem man klagen könnte?

Also dass zumindest Zustimmung durch Schweigen verschwindet?

Ich denke dann an die GFF ^^

Da gibt es hin und wieder mal klagen. Die Frage ist immer, ob es irgendwann zu einer höchstrichterlichen Entscheidung (also hier vom BGH) oder gar einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde kommt. Aber den Weg zum Verfassungsgericht überhaupt zu eröffnen, ist in dieser Fallkonstellation schon schwierig (wer gegen den Strafbefehl keinen Einspruch einlegt, hat den Rechtsweg nicht ausgeschöpft, was wiederum Voraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde ist. Davon kann aber in bestimmten Fällen abgesehen werden - dennoch: Es wäre nicht einfach…)

Es gibt schon einige Gerichtsurteile/Beschlüsse, die durchaus in die richtige Richtung gehen. Zum Beispiel dieser Beschluss vom AG Frankfurt.

Darin ging es um einen syrischen Flüchtling, gegen den die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl beantragt hat. Das Gericht hat dies tatsächlich abgelehnt (ja, das ist ein Positivbeispiel für die Kontrollfunktion des Gerichts im Strafbefehlsverfahren).

Das Gericht hat hier klar gestellt, dass dem Angeklagten kein rechtliches Gehör gewährt wurde, die Staatsanwaltschaft hingegen stellt sich - wie ich hier im Forum ja auch schon geschildert habe - auf den Standpunkt, dass der Strafbefehl selbst ja, wegen der Einspruchsmöglichkeit, rechtliches Gehör gewähre und es sich um einen geringfügigen Fall handelt, in dem die schriftliche Gewähr rechtlichen Gehörs ausreiche (auch das wurde hier im Forum ja schon dargelegt). Das Gericht akzeptiert das nicht und argumentiert beachtlich:

Das trifft den Punkt ganz gut und lässt sich auch auf die ganzen Demenz/Depressions-Fälle übertragen. Aber es ist halt nur der Beschluss eines Amtsgerichts, wichtig wäre letztlich eine endgültige Klärung durch den BGH.

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