LdN 319 Polizeigewalt

Bericht über Polizeigewalt bei der Demonstration in Lützerath am 14. Januar 2023

Vorab zur Einordnung: Ich bin 54 Jahre alt, seit über 20 Jahren arbeite ich für den Klimaschutz, habe an sehr vielen Demonstrationen teilgenommen (u.a. 2009 in Kopenhagen) und an einigen Aktionen von Ende Gelände. Polizeigewalt wie am 14. Januar in Lützerath habe ich noch nicht erlebt.

Ich bin mit dem Zug nach Erkelenz gefahren. Schon der RE4 von Düsseldorf nach Erkelenz war überfüllt mit Menschen, die auf dem Weg zur Demo waren. In Erkelenz fuhren Shuttle Busse, jedoch viel zu wenig. Daher habe ich zusammen mit einem Großelternpaar, deren Enkel (ca. 10 Jahre) sowie zwei weiteren Personen ein Großraum Taxi genommen, das uns bis ca. 2 km vor Keyenberg gebracht hat. Wir sind dort ausgestiegen, weil sich die Autos vor Keyenberg stauten und weiter zu Fuß gegangen.

Kurz vor Keyenberg wurden wir angesprochen und gebeten, den Weg über „Unser Aller Camp“ zu nehmen. Im weiteren Verlauf mischten sich die Menschen, die wie ich geplant hatten, zur angemeldeten Demonstration zu gehen mit den Aktivistiinnen, die geplant hatten, nach Lützerath zu kommen. Vom Camp bin ich in Richtung Startpunkt der Demo gegangen. In Keyenberg habe ich mich mit zwei Freundinnen getroffen, die aus einer anderen Richtung angereist waren. Wir sind zunächst in Richtung des angemeldeten Demo-Zugs gegangen.

Da wir gemeinsam mit den Aktivist*innen unterwegs waren, haben wir unmittelbar mitbekommen, wie diese nach kurzer Zeit den offiziellen Demonstrationsweg verlassen haben und in Richtung Tagebaukante liefen. Wir haben uns entschlossen, ihnen zu folgen, weil wir einen Blick in den Tagebau werfen wollten. Offensichtlich waren wir nicht die einzigen. Mit uns waren Eltern mit Kindern, ältere Leute und sonstige Demonstrierende unterwegs, die ebenso wie wir vermutlich ursprünglich an der angemeldeten Demonstration teilnehmen wollten.

Da sich die Einsatzkräfte der Polizei auf die Absperrung von Lützerath konzentrierten, waren zwischen der „legalen Demonstration“ und der Tagebaukante kaum Polizisten. Es war daher überhaupt kein Problem, die erste Polizeilinie zu „durchbrechen.“ Wir sind einfach alle weitergegangen und standen zunächst auf den Feldern zwischen Keyenberg und Tagebau und schließlich an der Tagebaukante.

Die Polizei hat dann eine zweite Linie in Richtung Lützerath aufgebaut. Hierbei war deutlich zu sehen, dass die Demonstrierenden mit einem Verhältnis von aus meiner Sicht mindesten 20:1 in der Überzahl waren. Es wäre also relativ leicht möglich gewesen, auch diese Linie zu überschreiten. Dies ist zunächst nicht erfolgt, weil viele der Personen gar keinen Plan hatten und so wie wir mehr oder weniger zufällig die offizielle Demonstrationsroute verlassen haben.

In dieser aus meiner Sicht völlig offenen Situation kam es zu den ersten „Gewaltexzessen“ der Polizei. Die Polizisten haben sich zu Gruppen von ca. 12 Personen formiert und sind relativ wahllos auf Personen zugerannt, die vor ihnen auf dem Feld standen. Von diesen Personen ging keinerlei Gewalt aus. Trotzdem wurde auch ich von einem solchen Trupp Polizisten angegriffen und mir wurde von einem Polizisten bewusst Schmerz zugefügt mit einem Schlag per Schlagstock unter die Rippen. Ich habe noch immer eine sehr schmerzhafte Rippenprellung und kann ohne Schmerzmittel nicht schlafen. Meine Begleiterin hat einen Schlag in die Magengrube bekommen. Wir haben gesehen, dass friedliche Menschen, die mit erhobenen Armen auf dem Feld standen, ebenfalls mit Schlagstöcken verprügelt wurden und dass von Polizisten umgeschubste Personen auf dem Boden liegend von Polizisten getreten wurden.

Für mich war es offensichtlich, dass es nicht möglich sein würde, nach Lützerath zu kommen: der Ort war von Zäunen umstellt und davor stand eine Reihe von Polizeiautos. Wenn ich nach Lützerath gewollt hätte, hätte ich an der dritten Polizeilinie vorbeikommen müssen, über die Mannschaftwagen und schließlich über die Zäune klettern müssen. Es war mir und meinen beiden Begleiter*innen klar, dass wir das gar nicht erst versuchen würden.

Interessante Frontberichterstattung! Habt Ihr auch Karten, wo Ihr die feindlichen Linien genau durchbrochen habt, und wo Ihr zurückgeschlagen worden seid?

Welche Reaktion habt Ihr erwartet, als Ihr die Polizeilinien durchbrochen habt?

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Das klingt ein wenig so, als seid ihr da halb-wissen, halb-unwissend in eine unschöne Situation gekommen. Euch war ja schon klar, dass ihr eine - sehr lose - Polizeikette überwunden habt und euch in diesem Gebiet nicht aufhalten solltet, zumindest liest sich das so.

Der WDR hat zum Thema Polizeigewalt hier berichtet, dabei ist gut zu sehen, dass die Umstände vor Ort ziemlich widrig waren (das Video, das die mit dem Schlamm kämpfenden Polizisten zeigt, ist schon fast Slapstick…).

Ich lese bei dir aber auch heraus, dass du durchaus wusstest, dass ihr euch in diesem Bereich nicht aufhalten durftet. Die Polizei behauptet u.a. im Ausschnitt beim WDR, dass sie die Leute mehrfach aufgefordert hat, das Gebiet zu verlassen, die Leute diesen Aufforderungen aber nicht nachgekommen seien. Wenn dem so war, war eine Räumung mit unmittelbaren Zwang hier verhältnismäßig, denn in dem von dir geschilderten 20:1-Verhältnis kann die Polizei ihren Auftrag nicht mit milderen Mitteln erreichen.

Hier muss man sich auch mal in die Polizisten hineinversetzen. Eine erste Kette wurde deiner Angabe nach durchbrochen, eine zweite wurde aufgebaut, aber die Polizei war 20:1 in der Unterzahl. Gleichzeitig nähern sich viele Menschen der gefährlichen Abbruchkante, vor der auch der Veranstalter der Demos sehr klar gewarnt hat (in Absprache mit der Polizei) und die Polizei hat die Verantwortung, hier etwaige, potentiell tödliche, Unfälle zu verhindern. Ich stelle mir diese Situation aus Sicht der Polizei ausgesprochen schwierig vor. In dieser Situation kann jedenfalls der Einsatz von Gewalt durchaus verhältnismäßig sein, mir zumindest sind keine milderen Mittel ersichtlich, welche die Polizei hätte anwenden können.

Das klingt wie etwas, von dem ich auf jeden Fall Videoaufnahmen sehen wollen würde, bevor ich es glauben kann. Ich habe viele Videos des Lützerath-Einsatzes gesehen und es würde mich wirklich wundern, wenn ausgerechnet zu diesen Szenen, die klare Polizeigewalt wären, keine Videos bestehen würden. Also Videos in denen die Polizei mit Schlagstock und Pfefferspray in einem Gerangel agiert gibt es zur Genüge, aber das ist wie gesagt keine „verbotene“ Polizeigewalt.

Ich unterstelle niemanden, dass er bewusst lügt - ich war selbst schon in solchen Situationen und gerade wenn man selbst traumatisiert ist, kann die Erinnerung einem hier schon manchen Streich spielen (vergleiche die Problematik von Zeugenaussagen in dramatischen Szenen).

Wenn die Schilderung stimmt, dass Polizisten auf am Boden liegende Personen eingetreten haben, wäre das natürlich eine schwere Straftat seitens der Polizei und ein klarer Fall von Polizeigewalt. Alles andere in der Schilderung ist leider ein Beispiel davon, dass die Polizei (samt ihrer Polizeiketten) nicht ernst genommen wurde und nicht damit gerechnet wurde, dass die Polizei unmittelbaren Zwang einsetzen kann und auch darf, um abgesperrte Bereiche zu räumen, wozu durchaus auch Schlagstock und Pfefferspray gehören. Euch hätte bewusst sein müssen, dass das Durchbrechen von Polizeiketten, gerade wenn ihr in massiver Überzahl seid, kein Kavaliersdelikt ist und dass die Polizei im Hinblick auf die potentielle Lebensgefahr durch die nasse Abbruchkante zu drastischen Mitteln greifen wird, um das Gebiet zu räumen.

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Ich habe keine Karte. Man kann es aber ganz gut hier auf der Karte vom Camp nachvollziehen. UNSER ALLER CAMP Ausweichcamp – Lützerath Lebt
Wir sind nicht auf der rot eingezeichneten gesperrten Straße lang gegangen, sondern parallel dazu auf den Feldern in Richtung Tagebau. Aus der Erinnerung kann ich nicht genau sagen, an welcher Stelle wir an Polizisten (keiner geschlossenen Linie) vorbei gekommen sind. Im Prinzip sind wir in Keyenberg gestartet und am Ende des Tages in Holzweiler angekommen.

Ja, das stimmt.

Zu der Zeit standen die Menschen dicht an dicht an der Abbruchkante. Es war offensichtlich nicht der Auftrag der Polizei irgendwen daran zu hindern an die Abbruchkante zu kommen. Aus meiner Sicht ging es bei dem Einsatz einzig und allein um Lützerath.

Ich habe nicht mit der Polizei gerangelt und bin trotzdem mit einem Schlagstock geschlagen worden. Das war kein Einzelfall, sondern das waren immer wieder geplante Vorstöße - nicht von einzelnen Polizisten sondern von Formationen, die nach einem eingeübten Muster abliefen.

Auch bei Einsatzzielen können Priorisierungen vorgenommen werden, so dass zum Beispiel die Sperrung des Zugangs nach Lüzerath Priorität vor dem Räumen der Abbruchkante haben kann, wenn man nicht genug Personal für beide Aufgaben hat (1:20 in Unterzahl).

Ich stelle mir bei den ganzen Diskussionen die ganze Zeit die Frage, was die Leute, die die Polizeikette durchbrochen haben oder durchbrechen wollten, erwarten?

Wenn die Polizei über Lautsprecher auffordert einen Bereich zu verlassen und dem nicht nachgekommen wird, ist nicht damit zu rechnen, das dies bei einer persönlichen Ansprache geschieht. Das dann unmittelbarer Zwang eingesetzt wird, um die Situation wieder beherrschen zu können, finde ich nachvollziehbar.

Aus meiner Sicht geht es hier einfach darum die Polizei und den Staat zu diskreditieren. Die Aktivisten sind der Meinung aufgrund ihres Themas über dem Gesetz zu stehen, es geht ja schließlich um die Rettung der Welt. Da kann man keine Rücksicht nehmen auf Gesetze, Gerichte oder die Polizei. Mich entfremdet diese Haltung von der Klimabewegung.

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Es ging in der Lage 319 um die Frage der VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT von Polizeigewalt.
Wenn ich mich zu zivilem Ungehorsam entschließe, dann muss ich mit Konsequenzen wie z.B. einer Einkesselung rechnen. Wer blockiert, kann in Gewahrsam genommen werden.
Offensichtlich sind die Polizist*innen aber angewiesen worden Schlagstöcke „offensiv“ einzusetzen, siehe hier Geheimes Polizei-Protokoll von Lützerath: Um 14.11 Uhr kommt das Schlagstock-Go - FOCUS online
Dies entspricht genau meinen Beobachtungen.
Und aus meiner Sicht ist dies nicht verhältnismäßig. Die Polizistinnen und Polizisten haben niemanden daran gehindert, an die Tagebaukante zu gehen und sich in „Lebensgefahr“ zu begeben. Das Mittel der offensiven Gewalt wurde eingesetzt, um das Stehen auf einem Feld, das ein Betretungsverbot hatte, durchzusetzen.

Es geht nicht darum, den Staat zu diskreditieren. Der Staat diskreditiert sich selbst, wenn er bei solchen Einsätzen unverhältnismäßig vorgeht. Ich habe beobachtet, wie gerade die Menschen, die vermutlich eher zufällig auf das Feld geraten waren, geschockt und verstört auf die Polizeigewalt reagiert haben.
Man könnte ja auch annehmen, dass genau das das Ziel des Ganzen war: das CDU geführte Innenministerium instrumentalisiert die Polizei, um die Klimabewegung von den Grünen zu entfremden.

Welche andere konkrete Maßnahme seitens der Polizei hättest du stattdessen erwartet? Also, was wäre aus deiner Sicht verhältnismäßig gewesen?

Ich kann deine Sichtweise nachvollziehen - und da ich nicht anwesend war, kann ich auch nicht einschätzen, ob die Polizei in Einzelfällen oder sogar systematisch unverhältnismäßige Gewalt eingesetzt hat.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ist jedoch die Kernfrage. Ulf hat im Podcast relativ klar argumentiert, dass die Gewaltanwendung unverhältnismäßig sei, weil die Demonstranten keine schweren Schäden angerichtet oder gar Menschenleben bedroht hätten, sondern allenfalls zusätzliche Arbeit für die Polizei geschaffen hätten, wenn ihnen der Durchbruch gelungen wäre.

Dem kann man entgegenhalten, dass man bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des unmittelbaren Zwanges auch das „bigger Picture“ betrachten muss, denn wenn die Polizei die Demonstranten nicht im Zweifel auch mit Gewalt davon abhalten darf, nach Lützerath vorzudringen, wird die Konsequenz nicht nur sein, dass die Polizei „ein paar Stunden Mehrarbeit“ leisten muss, sondern die Räumung wird, ab einer bestimmten Zahl entschlossener Demonstranten, gänzlich unmöglich, da es immer wieder systematische Durchbrüche geben wird. Das gesamte Einsatzziel ist daher gefährdet.

Die Angemessenheit ist letztlich der Streitpunkt, daher: War unmittelbarer Zwang ein angemessenes Mittel im Hinblick auf die relative Geringwertigkeit der Rechtsgutverletzungen, die von den einzelnen Demonstranten begangen wurden. Ulf sagt eher nein, die Polizeiführung vor Ort sagt ja, ich persönlich bin da eher unentschlossen und würde sagen: Beide Seiten haben gute Argumente, entscheiden müssen das letztlich die Gerichte. Es wäre in jedem Fall besser gewesen, wenn die Polizei die notwendige Mannstärke gehabt hätte, die Situation ohne Anwendung von Gewalt lösen zu können, aber die schlammigen Zustände vor Ort haben eine koordinierte Räumung vermutlich auch nicht einfacher gemacht (das Video der im Schlamm feststeckenden Polizisten zeigt ganz gut, dass eine Polizeikette hier kaum zu halten ist)

Ich bin fassungslos ob dieser Diskussion hier.

@Soete es tut mir wirklich leid für dich und dass du diese Erfahrung machen musstest. Gezielt angegriffen zu werden und zwar abrupt von Männern mit Waffen und dann auch verletzt zu werden ist keine Kleinigkeit.
Ich hätte wochenlang Albträume.

Umso schlimmer wenn dann nur „selbst schuld“ und Täter Opfer Umkehr betrieben wird danach.

Ich bin allen dankbar, die sich hinstellen und protestieren. Ich könnte es nicht.
(…)

Die Klimakatastrophe wird uns noch vor viel größere Aufgaben stellen . So eine Demo ist dagegen lächerlich. Was dann aus den Menschen rausbricht möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Zuerst einmal - ich möchte hier auf keinen Fall prügelnde Polizisten gutheißen oder die teils traumatischen Dinge, die einige Leute in Lützerath erlebt haben schön reden. Es ist sicherlich einiges passiert, was nicht passieren hätte dürfen und was aufgearbeitet werden muss.

Trotzdem hätte ich mir zum Thema Verhältnismäßigkeit auch im Podcast etwas mehr erhofft. Zu sagen die Polizei war nur zu faul die Leute erneut aus dem Protestcamp zu tragen und hätte deswegen Gewalt angewendet, ist meiner Meinung nach viel zu kurz gegriffen. Einige Demonstrierende sind mit Ankündigung wieder ins Camp eingedrungen um sich in Tunneln unter der Erde zu verschanzen. Da dies vor allem unter den gegebenen Bedingungen lebensgefährlich ist (Wetter, chaotisch, schwer zugänglich), war es ein großes Ziel der Polizei vor Ort dies zu verhindern. Dass das nicht rechtfertigt gegenüber passiven Demonstrierenden zum Schlagstock zu greifen ist klar - aber auch für die Polizei war dieser Einsatz ein Drahtseilakt und nicht mit „zu faul“ zusammenzufassen.

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Das finde ich dagegen fast schon ein bisschen unverschämt. Ich bin nicht traumatisiert, denn abgesehen von dem einen Schlagstockeinsatz, bin ich die restliche Zeit mit zwei Freund*innen unterwegs gewesen. Wir haben die ganze Zeit beobachtet, diskutiert und reflektiert, was direkt vor unseren Augen geschah. Das habe ich mir nicht ausgedacht!

Das ist ja eine interessante gesellschaftliche Entwicklung :wink: Geglaubt wird nur das, wovon es Videoaufnahmen gibt… Ich kann es hier nur noch einmal bekräftigen: Die Polizistinnen und Polizisten haben sich formiert, sind losgerannt, haben ihre Schlagstöcke bewusst und offensiv eingesetzt. Und (das waren allerdings 2 Einzelfälle, die ich gesehen habe) sie haben am Boden liegende Personen getreten.

Desto heftiger die Vorwürfe sind, die gemacht werden, desto größer ist das Bedürfnis, diese Vorwürfe auch zu beweisen.

Das glaube ich auch ohne weiteres - wie gesagt, man kann darüber streiten, ob das verhältnismäßig ist, aber dass die Polizei den Einsatz von unmittelbaren Zwang mittels Schlagstock und Pfefferspray freigegeben hat geht ja aus dem von dir verlinkten Artikel auch hervor.

Das hingegen ist etwas, bei dem ich skeptisch bin, weil das ein so eklatanter Fall von Polizeigewalt wäre, dass ich es für extrem unwahrscheinlich halte, dass dies nicht auf Video aufgezeichnet wurde. So dumm sind die Polizisten auf Demonstrationen in der Regel auch nicht, alleine schon, weil sie damit rechnen müssen, gefilmt zu werden.

Ein kleiner Schwank aus meiner Jugend:

Ich wurde als 14-jähriger rechtskräftig verurteilt wegen räuberischer Erpressung. Ich hatte einen Mitschüler „abgezogen“ und ihn bei einem Konflikt auf den Boden geworfen. Die Mutter des Jungen, eine Grundschullehrerin, die zufällig Pausenaufsicht auf der Grundschule hatte, deren Schulhof die beiden Schulen teilten, sagte vor Gericht aus, ich wäre „mehrfach auf seine Brust gesprungen“. Das ist schlicht falsch. Aber ich glaube der Frau, dass sie wirklich glaubte, das so gesehen zu haben - ich denke nicht, dass sie sich das ausgedacht und vor Gericht gelogen hat.

Wie kommt es zu solchen Situationen?

Gewalt zu erleben - auch indirekt - ist traumatisierend. Umso mehr, wenn sich die Gewalt gegen Menschen richtet, mit denen man positives verbindet (in meinem Fall der Sohn, in deinem Fall deine Mitdemonstranten). Dass die Eindrücke dort dich schwer bewegt haben ist anhand deiner Schilderungen evident.

Das klingt hart, aber in solchen Situationen kann man den Zeugenaussagen einfach nicht ungeprüft glauben. Und wenn ich versuche, diese Situation zu analysieren, komme ich zu dem Ergebnis, dass es wahrscheinlicher ist, dass du die Situation überinterpretiert hast, als es ist, dass hier tatsächlich Polizisten am Boden liegende Menschen schwer misshandelt haben… wie gesagt, ich würde in dieser Situation davon ausgehen, dass es Videos davon gibt. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass Polizisten in einer Situation, in der sie wissen, dass sie beobachtet (und möglicherweise gefilmt) werden, derart über die Strenge schlagen. Außerdem wären dann deutlich stärkere Verletzungen zu erwarten, als es wohl tatsächlich gab, und der Geschädigte würde vermutlich auch Vorwürfe erheben.

Wenn ich deine Aussage gegen all diese Umstände abwäge kann ich nur sagen, dass ich zumindest skeptisch bin. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, ich sage nur, dass ich es auf Grundlage dieser Informationen nicht ohne weitere Beweise glauben kann.

Da hier ja heiß diskutiert wird, was vor Ort passiert ist und was nicht, dachte ich, ich gebe mal noch meine Erlebnisse dazu (die in großen Teilen mit denen von @Soete übereinstimmen). Mein Plan war tatsächlich ursprünglich auch nur, zu der angemeldeten Demonstration zu gehen. Als wir aber gesehen haben, dass zu einem gewissen Zeitpunkt ein recht großer (friedlicher) Teil des Demozuges in Richtung Lützi weitergelaufen ist haben wir beschlossen auch noch ein bisschen mitzulaufen.

Tatsächlich deckt sich mein Bild mit anderen Berichten hier, dass für die Polizei primär nur Lützi relevant war, die Tagebaukante war offen zugänglich. Es wäre allerdings auch nur schwer umsetzbar, die Leute effektiv davon fernzuhalten weil die Kante einfach zu lang ist. Irritierend waren nur Medienberichte, die nachher anderes behaupteten.

Die allererste Polizeikette (vielleicht bestehend aus wenigen Dutzend Polizistinnen) hat sich recht schnell einfach freiwillig zurückgezogen. Vor der nächsten ging es aber dann erstmal nicht mehr so richtig weiter. Die meisten Leute hatten auch einfach keine Ahnung, was man eigentlich machen soll und der Polizei stand eine recht lose Menschenmenge gegenüber. Bis hier gab es auch noch keine Durchsagen der Polizei, man solle das Gebiet wieder verlassen. Wie @Soete das aber auch schon geschrieben hat sind tatsächlich immer wieder Gruppen von Polizistinnen zu diesem Zeitpunkt als eine Art Keil in die Menschenmenge gerannt und haben Leute umgetackelt und z.T. Schmerzgriffe angewandt und geschlagen. Schlagstöcke hab ich da noch keine gesehen, kann das aber auch nicht ausschließen. Vereinzelt haben dann immer wieder Leute versucht durchzukommen, das ging aber ganz schön lange, ich würde sagen mindestens eine Stunde. Irgendwann gab es dann immer größere Gruppen von Menschen, die teils auch mit Gewalt versucht haben durchzukommen, das hat dann auch geklappt. Danach ist die Polizei dann auf jeden Fall noch gewalttätiger vorgegangen. Wie ja auch auf zahlreichen Videos zusehen ist wurden Leute mit erhobenen Händen von Erdwällen geschubst, geschlagen, getreten etc.
Was ich am schockierendsten fand war, dass zu einer Person, die nach einem Vorstoß der Polizei verletzt hinter der Polizeikette lag, keine Sanis durchgelassen worden sind, bis die Polizei die Person dann irgendwann brutal an den Händen nach vorne geschleift hat.
Ob das ganze jetzt strukturell war oder Einzelfälle ist eine schwierige Frage, ich habe auf jeden Fall auch (allerdings selten) erlebt das Polizistinnen ihre Kolleginnen „zurückgepfiffen“ haben.

Die Keilformation kennt denke ich jeder, der öfter mal auf radikaleren Demos ist. Die Polizei nutzt diese Formation tatsächlich, um in eine Menschenmenge „einzudringen“ und einen spezifischen Demonstranten aus der Menge zu ziehen, es ist eine klassische Zugriffsmethode. Üblicherweise versucht die Polizei so, z.B. einzelne Steine- oder Flaschenwerfer aus einer ansonsten friedlichen Menge zu bekommen. Ziellos bzw. Anlasslos macht diese Art des Zugriffs wenig Sinn, weil es eben eine relativ aufwändige Maßnahme ist, die sich spezifisch gegen eine Person in einer Menschenmenge richtet.

Ich kann mir daher vorstellen, dass die Polizei dort gegen Leute vorgegangen ist, die sie als Steinewerfer wahrgenommen hat (einige berichteten ja, das eigentlich eher Matsch bzw. Erdklumpen geworfen wurden, aber ich kann mir vorstellen, dass die Polizei diesen Unterschied im Eifer des Gefechts nicht realisiert und von einem Steinewerfer ausgeht).

Damit stellt man die Polizei natürlich vor eine schwierige Aufgabe. Für die Polizei ist es immer ein denkbar ungünstiges Szenario, wenn auf Demos keine klare Trennung zwischen dem klassischen „schwarzen Block“ und den „friedlichen Demonstranten“ besteht, sondern einzelne gewaltbereite Demonstranten aus einer Gruppe friedlicher Demonstranten aktiv werden.

Die Schilderungen klingen für mich jedenfalls so, dass sich hier einfach eine für beide Parteien, also Polizei und Demonstranten, sehr unübersichtliche Situation gebildet hat, die dann unschön aufgelöst wurde. Wie gesagt, wenn es wirklich zu unverhältnismäßiger Polizeigewalt kam, muss da ermittelt werden (es wird wohl in aktuell fünf Fällen auch gegen Polizisten ermittelt), aber wenn man sich die Schilderungen der Polizei durchliest, bekommt man eben ein anderes Bild. Was davon stimmt vermag ich nicht einzuschätzen, klassischerweise übertreiben meiner Erfahrung nach in solchen Konfliktsituationen aber beide Parteien in ihren Schilderungen (dh. der Polizei sollte man auch nicht jedes Wort glauben, da wird auch gerne massiv übertrieben…)