Das Problem beim sogenannten Fachkräftemangel ist, dass der Mangel immer im untersten Sektor der Fachkräfte stattfindet. Als Bilanzbuchhalter ein Beispiel aus meiner Erfahrung:
Die großen Unternehmen finden ihre Spitzen-Bilanzbuchhalter - denn die zahlen gut und bieten gute Arbeitsbedingungen. Der Fachkräftemangel herrscht dort, wo schlecht gezahlt wird und schlechte Arbeitsbedingungen herrschen, z.B. in der Steuerberatung. Die nehmen quasi jeden Bilanzbuchhalter, aber kein Bilanzbuchhalter, der etwas auf sich hält, bleibt da länger als ein paar Jahre, eben weil die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen verglichen mit der freien Wirtschaft so schlecht sind.
Ähnlich sieht es in fast allen Bereichen aus. Wo Fachkräftemangel herrscht, schaffen die Betriebe, die gute Bedingungen stellen können, es in der Regel, ihre Fachkräfte zu bekommen. Und die Stellen, die dann ohne Fachkräfte dar stehen, sind oft so katastrophal schlecht, dass dort einfach niemand arbeiten will.
Wieder Beispiel Bilanzbuchhaltung: In der freien Wirtschaft sind Jahresgehälter im Bereich 60-80.000 Euro durchaus üblich, für relativ gemütliche Bürojobs ohne zu viel Stress. In der Steuerberatung arbeiten Bilanzbuchhalter teilweise für deutlich unter 40.000 Euro im Jahr, im Dauerstress, sich von Deadline zu Deadline hangelnd. Been there, done that. Da braucht man sich dann nicht über einen Fachkräftemangel wundern - ich würde auch eher ALG II beziehen, als mir das noch mal anzutun. Wer macht bitte einen Bilanzbuchhalter (einen der anspruchsvollsten Fachwirte) um dann in diesen Zuständen zu arbeiten?!?
In anderen Bereichen sind die Anforderungen einfach völlig absurd, ich kenne so viele extrem qualifizierte Menschen, die bei Bewerbungen prinzipiell aussortiert werden, weil sie z.B. Lücken im Lebenslauf haben. Oder weil sie tatsächlich Defizite haben, die aber abgestellt werden könnten, aber diese Risiken gehen Arbeitgeber nicht ein. Die wollen quasi den perfekten Traumkandidaten, den es in dieser Form aber halt nicht gibt. Statt dann demjenigen eine Chance zu geben, der am nächsten an diesem Ideal dran ist, bleibt die Stelle eher unbesetzt.
Was wir in diesem Land brauchen, ist eine Kultur des Chancengebens. Wir müssen aufhören, Leute auf Grund ihrer Lebensläufe oder kleinerer Defizite auszusortieren, dann klappt’s auch mit der Fachkräftegewinnung. Und bestimmte Branchen müssen einfach fundamental umstrukturiert werden (z.B. die Steuerberatung), damit es diesen Branchen möglich ist, Personal auf eine Art einzustellen, die es ermöglicht, Qualitätspersonal auch langfristig zu binden…
Ich stimme daher zu, dass Fachkräftemangel größtenteils eine Nebelkerze ist, die davon ablenkt, was in den Personalabteilungen und bei den Arbeitgebern generell falsch läuft.