LdN313 Bürgergeld-Diskussion und der angebliche Fachkräftemangel


Laut Maurice Höffgen, den ich ganz erfrischend in der Diskussion um Finanzen usw. finde, gibt es keinen Fachkräftemangel. Es sind eher weniger Stellen verfügbar. (Mir ist bewuss,das nicht Jede*r jede Stelle besetzen kann, nach Qualifikation oder Krankheitsstand geht eben nicht alles)

Quelle: Jung und Naiv WIRTSCHAFTSBRIEFING #23
Bitte mal reinhören und vielleicht selbst dazu recherchen betreiben.

Ich denke es ist ein wichtiger Punkt und vielleicht auch eine Nebelkerze der Union und sonstiger Verbreiter, um weiter die Bürgergeld-Diskussion zu schädigen.

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Das Problem beim sogenannten Fachkräftemangel ist, dass der Mangel immer im untersten Sektor der Fachkräfte stattfindet. Als Bilanzbuchhalter ein Beispiel aus meiner Erfahrung:

Die großen Unternehmen finden ihre Spitzen-Bilanzbuchhalter - denn die zahlen gut und bieten gute Arbeitsbedingungen. Der Fachkräftemangel herrscht dort, wo schlecht gezahlt wird und schlechte Arbeitsbedingungen herrschen, z.B. in der Steuerberatung. Die nehmen quasi jeden Bilanzbuchhalter, aber kein Bilanzbuchhalter, der etwas auf sich hält, bleibt da länger als ein paar Jahre, eben weil die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen verglichen mit der freien Wirtschaft so schlecht sind.

Ähnlich sieht es in fast allen Bereichen aus. Wo Fachkräftemangel herrscht, schaffen die Betriebe, die gute Bedingungen stellen können, es in der Regel, ihre Fachkräfte zu bekommen. Und die Stellen, die dann ohne Fachkräfte dar stehen, sind oft so katastrophal schlecht, dass dort einfach niemand arbeiten will.

Wieder Beispiel Bilanzbuchhaltung: In der freien Wirtschaft sind Jahresgehälter im Bereich 60-80.000 Euro durchaus üblich, für relativ gemütliche Bürojobs ohne zu viel Stress. In der Steuerberatung arbeiten Bilanzbuchhalter teilweise für deutlich unter 40.000 Euro im Jahr, im Dauerstress, sich von Deadline zu Deadline hangelnd. Been there, done that. Da braucht man sich dann nicht über einen Fachkräftemangel wundern - ich würde auch eher ALG II beziehen, als mir das noch mal anzutun. Wer macht bitte einen Bilanzbuchhalter (einen der anspruchsvollsten Fachwirte) um dann in diesen Zuständen zu arbeiten?!?

In anderen Bereichen sind die Anforderungen einfach völlig absurd, ich kenne so viele extrem qualifizierte Menschen, die bei Bewerbungen prinzipiell aussortiert werden, weil sie z.B. Lücken im Lebenslauf haben. Oder weil sie tatsächlich Defizite haben, die aber abgestellt werden könnten, aber diese Risiken gehen Arbeitgeber nicht ein. Die wollen quasi den perfekten Traumkandidaten, den es in dieser Form aber halt nicht gibt. Statt dann demjenigen eine Chance zu geben, der am nächsten an diesem Ideal dran ist, bleibt die Stelle eher unbesetzt.

Was wir in diesem Land brauchen, ist eine Kultur des Chancengebens. Wir müssen aufhören, Leute auf Grund ihrer Lebensläufe oder kleinerer Defizite auszusortieren, dann klappt’s auch mit der Fachkräftegewinnung. Und bestimmte Branchen müssen einfach fundamental umstrukturiert werden (z.B. die Steuerberatung), damit es diesen Branchen möglich ist, Personal auf eine Art einzustellen, die es ermöglicht, Qualitätspersonal auch langfristig zu binden…

Ich stimme daher zu, dass Fachkräftemangel größtenteils eine Nebelkerze ist, die davon ablenkt, was in den Personalabteilungen und bei den Arbeitgebern generell falsch läuft.

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Ich würde schon behaupten, das es einen Fachkräftemangel in bestimmten Branchen gibt. Aber weniger aufgrund fehlender Qualifikationen, eher, wie schon beschrieben, aufgrund unattraktiver Arbeitsbedingungen.
Beispiel Gastronomie: Arbeiten vorwiegend in Abendstunden und am Wochenende, körperlich anstrengend, kerniger Umgangston, anspruchsvolle Gäste, dazu meist eine Bezahlung unter oder knapp am MIndestlohn. Und in Krisenzeiten wie Corona-Lockdowns wird man oft kommentarlos ohne Bezahlung nach Hause geschickt oder gleich entlassen. Mangelnde Wertschätzung inklusive.
Warum sollten Arbeitnehmer/innen sich das zwingend bzw dauerhaft antun, auch hinsichtlich einer gewissen finanziellen Sicherheit?
Das jetzt der Ruf nach ausländischen Fachkräften kommt, die dann doch bitte für noch weniger Bezahlung unter diesen Bedingungen arbeiten sollen, ist dann fast zynisch.

Wenn andererseits hochqualifizierte Handwerker gesucht werden, ist es einerseits eine Frage des Geldes bzw der angebotenen Arbeitsbedingungen, aber auch der Trend bei jungen Menschen, eher körperlich weniger fordernde Jobs anzustreben.

Die Sorgen der Union, ein Bürgergeld würde Menschen davon abhalten, (finanziell) unattraktive Arbeitsverhältnisse einzugehen, würde ich da schon fast teilen. (Sarkasmus!)

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Das Thema Fachkräftemangel ist vielsichtiger.
Erst einmal muss man zwischen Fachkräften (meist Akademiker) und Facharbeitern (abgeschlossene Berufsausbildung) unterscheiden.
Zu beiden Gebieten gibt es eine offizielle Liste, wo ein Mangelberuf vorliegt. (Siehe Mangelberufe.de)

Was dabei schnell auffällt ist, dass bei Fachkräften fast nur an MINT und Mediziner mangelt.
Bei Facharbeitern ist das Spektrum viel größer, wobei auch hier MINT und Pflege deutlich hervorsticht.

Dies vorausgesetzt sind Berufe, wie in der Buchhaltung kein Mangel und entsprechend können sich Arbeitgeber erlauben, schlechtere Bedingungen anzubieten.

Das Wirtschaftsbriefing ist schon sehr mit Vorsicht zu genießen. Die politische Linkseinfärbung ist schon sehr eklatant, was nicht falsch sein muss, aber es ist eine Sichtweise.
Die Union hat schon einen Punkt, indem sie die Bürgergeld- Diskussion auf das Abstandsgebot lenkt. Jedoch vergisst die Union, dass höhere Löhne (Mindestlohnerhöhung) ebenfalls den Abstand stabil halten.

Das grundlegende Problem beim Fachkräftemangel ist jedoch die Weigerung der Union sich einzugestehen, dass Deutschland schnell hohe Zuwanderungsquoten benötigt und schnell Integrationsland werden muss.
Weiterhin vermisse ich das Eingeständnis aller Parteien, soviel Geld wie möglich in die gute Bildung und Erziehung der Kinder zu stecken. Wir können es uns einfach nicht mehr erlauben nur ein Kind ohne Schul- und Berufsabschluss in den Arbeitsmarkt zu überführen (Dazu kann ich das Buch von Stefan Schulz. Die Altenrepublik empfehlen).

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Die Tagesthemen hatten am 28.11. (ab 15. Minute) einen interessanten Beitrag zu „Betriebe leiden unter Fachkräftemangel und werben um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“ mit dem positiven Beispiel einer Malermeisterin die Mitarbeiter bekommt, weil sie bei den Arbeitszeiten flexibel ist. u.a …

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Wichtige Anmerkung dazu: Es handelt sich um die Blue Card List der EU, bei diesen Listen geht es um Arbeitskräftegewinnung aus dem EU-Ausland und Drittstaaten. Auf diesen Listen sind daher keine Jobs, die besonders hohe Sprachkenntnisse erfordern, sondern vornehmlich naturwissenschaftlich geprägte Berufe, die länderübergreifend nutzbar sind.

Beispiel:
Sozialarbeiter sind in Deutschland einer der Top-Mangelberufe, tauchen in dieser Liste aber nicht auf, weil Sozialarbeiter so spezifische Sprach- und Rechtskenntnisse brauchen, dass ein Sozialarbeiter aus einem Drittstaat kaum auf dem hiesigen Arbeitsmarkt einsetzbar wäre. Das gleiche gilt für Kinderbetreuung, hier sind die Sprachkenntnisse einfach zu zentral.

Siehe z.B. diesen Artikel der Tagesschau über eine IW-Studie zum Thema Fachkräftemangel, wo Sozialarbeiter und Kinderbetreuung noch vor den Pflegeberufen auftauchen, während sie in den von dir genannten Listen völlig fehlen. Ebenso wie Lehrer, bei denen es zweifelsohne in Deutschland einen deutlichen Fachkräftemangel gibt. Und tatsächlich auch Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalter, deshalb versuchen die Jobcenter auch jeden halbwegs geeigneten Kandidaten in eine Umschulung zum Steuerfachangestellten zu bekommen.

Kurzum: Die von dir genannte Liste ist kein korrektes Abbild der Mangelberufe in Deutschland, sondern nur ein Ausschnitt dessen - eben der Ausschnitt, bei dem Fachkräfte aus dem Ausland am ehesten sinnvoll rekrutiert werden können.

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Das ist aber auch der einzige Beruf der nicht in der Mangelliste auftaucht.
Alle anderen Berufe sind auf beiden Listen enthalten.

Egal, meine These beeinflusst das ohnehin nicht.

und vergisst, dass die wenigsten Menschen die Bürgergeld beziehen nur einfach nicht wollen, sondern in irgendeinem Punkt Defizite hat und deshalb den Ansprüchen am Arbeitsmarkt nicht gerecht werden kann.
Hier würde nur ein absenken der Ansprüche oder (Nach) Hilfe für diese Menschen die Lösung sein.

Was ja ein abwerben von anderen Betrieben bedeutet. Denn durch diese Maßnahme wird der Pool an Fachkräften nicht größer.

Auch dieser Aspekt ist ein abwerben von Fachkräften nur halt aus dem Ausland. Mit all den Problemen die das für die Herkunftsländer hat. #Ablösesumme wie bei Fußballspieler?

ist für mich die einzige langfristige Lösung für das Problem.

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Yup, dazu müssten wir eigentlich einen eigenen Thread aufmachen.
Die Bestrebungen der Regierung, ein Punktesystem wie Kanada einzuführen, ist letztlich der Inbegriff des Brain-Drain. Klar, jedes Land will die leckeren Fachkräfte aus alles Ecken der Erde, aber niemand will diejenigen, die ihr Land wegen sozialen Problemen oder Krieg verlassen müssen.

Wenn wir nun - wie Kanada und viele andere Staaten - ein System aufbauen, welches den Fachkräften unproblematische Migration ermöglicht, ist das zwar in der Tat sehr gut für die nationalen Interessen Deutschlands, aber eben katastrophal für die Herkunftsländer.

Eine Ablösesumme wäre hier gar keine so dumme Idee, allerdings müsste man wiederum sicher stellen, dass das Geld dann auch im Ausbildungssektor des Herkunftslandes ankommt und nicht im Militäretat von Despoten landet - das übliche Problem leider.

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Es gibt eine möglicherweise provokant wirkende Möglichkeit dem Herr zu werden. Wir haben einige Berufe, die bereits jetzt oder in absehbarer Zukunft (<10 Jahre) über mehr verfügbares qualifiziertes Personal verfügen als benötigt wird, beispielsweise Berufe im Umfeld der Betriebswirtschaft, Menschen im Kundendienst (Callcenter, Außendienstler) oder im analogen Handel.

Diese Menschen müssen wir in benötigte Berufe umschulen. Natürlich wird davon nicht jeder ein Informatiker, Erzieher oder Dachdecker. Aber vielleicht findet der eine ja Spaß an Berufen in dem Umfeld während der andere halt beispielsweise in den Museumsbetrieb wechselt und wir damit einen frustrierten Germanisten im Museumsbetrieb zum Programmiersprachenkünstler umschulen können.

Das wird zwar nicht alle Probleme lösen und wir brauchen ganz sicher (qualifizierte) Zuwanderung. Aber mir denkt die deutsche Politik und der „Forumsstammtisch“ (anerkennend gemeint - es ist hier halt wie unter Freunden :wink:) viel zu unflexibel.

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Zuwanderung sicher, aber warum nicht mehr auf die setzen die bereits da sind?

Überall (außer rechts außen) wird davon geredet/geschrieben, dass man qualifizierte Zuwanderung bräuchte und dann liest man doch auch immermal wieder Geschichten über Geflüchtete Akademiker die irgendwie ihr Dasein als Taxifahrer Fristen, weil niemand ihren Abschluss anerkennen will.

Also warum nicht ein Programm auflegen was es allen ermöglicht entweder ihren Abschluss anerkennen zu lassen oder falls das unerwünscht ist (respektive wegen mangelnder Unterlagen unmöglich) die Möglichkeit die Fähigkeiten mittels Prüfung zu beweisen.
Also nicht die komplette Ausbildung/ Studium wiederholen sondern eben einfach nur die Prüfung machen und dann vielleicht ein paar Kurse / Weiterbildungen um Defizite oder Unterschiede auszugleichen.

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Da rennst du bei mir ganz sicher offene Türen ein. Wir sollten jedes Potential mobilisieren, das wir haben. Leider scheint mir, dass dem Wirtschafts- und dem Sozialministerium vor allem die Abwerbung qualifizierter Arbeitskräfte einfällt und der Rest politisch nicht angefasst wird

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Würde das denn nicht bedeuten, dass man es schlimmer macht? Baut mehr Universitäten, dann können wir mehr Ingenieure abwerben? Im Fokus sollte stehen, dass wir hier in Bildung und Weiterbildung investieren.

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Naja, die Frage ist, wie globalisiert man denkt.
Wenn es in einigen Ländern - z.B. Indien - einen Bevölkerungsüberschuss gibt, in den Industrieländern des Westens aber eher einen Bevölkerungsrückgang, macht es ja schon Sinn, dass die Länder mit Bevölkerungsüberschuss mehr Fachkräfte ausbilden, als sie selbst brauchen, damit diese dann in den Ländern mit Bevölkerungsrückgang eine Zukunft aufbauen können. Das ist letztlich ein Win-Win-Win (das letzte Win im Hinblick auf die Völkerverständigung).

Wenn die Länder mit Bevölkerungsüberschuss allerdings nur so viele Fachkräfte ausbilden, wie sie selbst brauchen, und dann kommt der Westen und sagt: „Hey, bei uns verdient ihr 10 mal so viel, kommt doch rüber!“ ist das Resultat eben nahezu Post-Kolonialistisch. Also der Westen verfestigt seinen Wohlstand, indem er aus den ärmeren Ländern Ressourcen (hier: gut ausgebildete Menschen) stiehlt.

Klar, das wäre das Ideal-Szenario. Dazu müssten wir aber vor allem endlich aufhören, Menschen schon in der Schule in unterschiedliche Kasten einzuteilen („dreigliedriges Schulsystem“). Aber das ist nur eines von gefühlten tausenden Problemen, neben dem mangelnden Chancengeber-Spirit und zu hohen Ansprüchen an das „Rohmaterial“ (also den Schulabgänger). Ich würde mir natürlich auch wünschen, dass wir einfach nicht auf ausländische Fachkräfte angewiesen sind. Aber gerade im MINT-Bereich fürchte ich, dass es kurz- und mittelfristig nicht umsetzbar ist. Also damit wir in 20 Jahren genug MINT-Absolventen haben, müssen heute die richtigen Weichen vom Kindergarten bis zur Universität gestellt werden. Bis dahin wird man die Lücke leider nur mit Anwerbung von Fachkräften decken können.

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Das ist sehr „erfrischender“ Humor.
Der Fachkräftemangel betrifft sicherlich nicht alle Branchen. Aber in der IT sind wir mittlerweile da angekommen, wo die Firmen Events abhalten bei denen sie sich bei den Arbeitnehmern bewerben.

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Das wäre ein Ideal, keine Frage. Ich bin da aber pessimistisch, dass das schnell erreicht wird, das braucht einfach einige Zeit und feuert m. E. erstmal den post-kolonialistischen brain-drain an.