LdN 310 Wahl in Brasilien

Lieber Philip, lieber Ulf,

ich finde es großartig, dass ihr dieses Thema, welches für mich eine echte Herzensangelegenheit ist, auf die Agenda gesetzt habt (und dann auch noch gleich zu Beginn der neuen Folge).

Ich teile eure Einschätzung, dass mit der Wahl von Lula in Brasilien wieder etwas Ruhe und auf internationaler Ebene vor allem Verlässlichkeit wiederkehren dürfte (fasst es das zusammen?). Dennoch gebe ich zu bedenken, dass unter den knapp 58 Mio. Wählern von Brasilien viele zutiefst enttäuscht sind und einige (unklar, wie viele) jedes Wort „ihres Präsidenten“ als Aufruf zu Protesten (und Gewalt?) sehen, so auch die bislang einzigen beiden öffentlichen Äußerungen von Bolsonaro. Sowohl im privaten Bereich (zutiefst verstörte Bolsonaro-Anhänger, die Lula wahlweise für einen Dieb/korrupten Präsidenten/Kannibalen/Teufel/„das Böse“ halten, was auf entsprechende Äußerungen von Bolsonaro zurückgeht) als auch öffentlich (siehe Proteste im Bundesstaat Santa Catarina, bei dem Hitlergrüße gezeigt wurden) spielen sich echte Dramen ab. Es fehlt derzeit bei mir noch der Glaube daran, dass wenigstens ein großer Teil dieser Leute zurückzugewinnen ist und es bereitet mir Sorge, dass der „Bolsonarismo“ wahrscheinlich überleben wird.

Zur Macht des neuen Präsidenten: Die brasilianische Parteienlandschaft ist sehr zersplittert. Besondere Bedeutung kommt dem „centrão“ (auf Deutsch: großes Zentrum) zu, einem von Euch angesprochenen Parteienbündnis ohne klare inhaltliche Ausrichtung, welches politische Zustimmung gegen Einfluss und politische Posten tauscht. In seinen ersten beiden Amtszeiten hat Lula es geschafft, das „centrão“ auf seine Seite zu ziehen. Ob und für welchen Preis er das wieder schafft, wird maßgeblich bestimmen, welche politischen Projekte er umsetzen kann. Der große politische Umschwung dürfte jedoch nicht zu erwarten sein, da Lula bereits für seine Wiederwahl eher konservative Positionen äußern musste (so hat er sich z.B. unter dem Druck der Kirche öffentlich gegen Abtreibung ausgesprochen) und auch versucht, Politiker aus der politischen Mitte auf seine Seite zu ziehen (wie z.B. Geraldo Alckmin, sein ehemaliger Wiedersacher bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und nun Vize-Präsident unter Lula), was wiederum einen politischen Preis haben dürfte.

Zum Schutz des Regenwaldes: Ich frage mich immer mehr, inwiefern es nicht viel mehr an „uns Europäern“ (und unseren Unternehmen) ist, den Schutz des Regenwaldes sicherzustellen. Ist es nicht so, dass solange wir in großem Umfang z.B. Düngemittel nach Brasilien liefern und Abnehmer für landwirtschaftliche Produkte aus Brasilien sind, Brasilien wirtschaftlich keine Wahl hat, als den Regenwald wirtschaftlich zu nutzen. In dem Land leiden über 30 Mio. Menschen an Hunger, es fehlt an Bildung und sozialer Gerechtigkeit. Insofern finde ich, dass „wir“ es uns zu einfach machen, wenn wir darauf setzen, dass Lula als neuer Präsident jetzt die Abholzung beendet. Auch er braucht schließlich Geld um seine sozialen Projekte (der Erfolg seiner ersten beiden Amtszeiten) umzusetzen. In meiner Vorstellung braucht es nicht nur die von Euch angesprochene Unterstützung zur Umsetzung der Nicht-Abholzung, sondern auch finanzielle Mittel als Gegenwert für die Nicht-Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen, die über den Amazonas-Fond hinausgeht. Eure Einschätzung dazu würde mich sehr interessieren.

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Ist die Wahl in Brasilien mit der in den USA von 2018 zu vergleichen?

Viele haben bei der Präsidentschaftswahl Biden gewählt, nicht weil sie ihn besonders Toll empfanden.

Sondern weil der andere einfach völlig inakzeptabel war (Trump).

Mir kommt es in Brasilien sehr ähnlich vor, Lula, mit einer auch nicht gänzlich Glanzvollen Vergangenheit den man als Normalo noch halbwegs wählen kann und Bolsonaro auf der anderen Seite.

Du meinst die Wahl 2020, oder?

Aber ja, inhaltlich sehe ich das ähnlich. Es war die Wahl zwischen einem suboptimalen Kandidaten und einem schrecklichen Kandidaten. Nebenbei: Solche Situationen hatten wir in Deutschland auch schon. Schröder hätte 2002 vermutlich nicht die Wiederwahl geschafft, wenn die Union nicht auf die bekloppte Idee gekommen wäre, ausgerechnet Edmund Stoiber als Kandidat aufzustellen. Ich habe heute noch die ganzen „Stoppt Stoiber“-Buttons von damals - das stärkste Argument, Rot-Grün zu wählen, war auch hier, den extrem grausamen Kandidaten der Union zu verhindern.