LdN 302: Digitalisierung. Fallstudie Kirchenaustritt

Hallo,

Als diese Folge erschien, bemühte ich mich gerade um einen Austritt aus meiner bisherigen Religionsgemeinschaft.
Ich fand es interessant, meine Erfahrungen mit diesem Akt mit den beleuchteten Problemen zu vergleichen.

Ich möchte hierbei einmal ausklammern in wie weit die deutsche Praxis, die Religionszugehörigkeit von Individuen zentral zu erfassen gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte allgemein fragwürdig ist. Auch könnte man lange spekulieren ob Hürden, die dem Austritt im Wege stehen nicht ein Stück weit so gewollt sind um den Fortschritt der Säkularisierung der Deutschen Gesellschaft etwas zu bremsen - ich lasse dies aber mal außen vor.

Wenn man dies ganz neutral als Verwaltungsakt betrachtet, sollte man meinen, dass hier genau zwei Stellen einen Eintrag in ihrer Datenbank aktualisieren müssen: Meine alte Kirchengemeinde, die mich aus ihrem Register entfernt und das zuständige Finanzamt welches nun nicht mehr für die Behandlung meiner Mitgliedsbeiträge zuständig ist und dies entsprechend vermerkt. In einer idealen Welt würde ich mich digital ausweisen, diese zwei Stellen informieren (die Datenbank übernimmt die Informationen automatisch) und eventuelle Gebühren verrichten. Ein Aufwand von nicht mehr als 5 Minuten.

In der Praxis erlebte ich den folgenden Ablauf:

  • Der Austritt muss persönlich beim Amtsgericht erklärt werden. Dieses hat für mehrere Monate aber keine verfügbaren Termine.
  • Alternative: Schriftliche Erklärung per Notar. Dort erscheine ich also persönlich mit Ausweis und Anliegen.
  • Der Notar schickt meine Erklärung samt Bestätigung, dass er meine Identität geprüft hat in Papierform an das Gericht.
  • Das Gericht schreibt mir einen Brief dass ich doch bitte 35€ zahlen soll
  • Ich überweise das Geld per online-Banking und informiere das Gericht.
  • Das Gericht informiert die zwei betroffenen Stellen (Dies ist unsichtbar für mich, ich bin also nicht sicher wie dies geschieht. Hat jemand Einblicke?)
  • Das Gericht informiert mich schriftlich, dass der Vorgang erfolgreich war.
  • Die Kirchengemeinde informiert mich schriftlich, auf welche Serviceleistungen ich nun keinen Anspruch mehr habe.

So dauert ein Vorgang der in 5 Minuten abgeschlossen sein könnte mehrere Wochen und beschäftigt mehreren Menschen mit Tätigkeiten die keinen erkennbaren gesellschaftlichen Mehrwert produzieren - was für alle Beteiligten frustrierend ist.

Welche Lehren kann man ziehen? Ich denke, dass in vielen Digitalisierungsprojekten die technische Umsetzung nur ein Teil der Problematik ist. Sie gehen auch mit der Notwendigkeit einher, Prozesse als solche in Frage zu stellen. Warum ist das Gericht hierbei überhaupt ein Akteur? Welche Zwischenschritte lassen sich komplett streichen sobald ich mich digital ausweisen kann?
Solche Veränderungen treffen aber oft auf Widerstand bei den Betroffenen.

Gleichzeitig wüsste ich nicht, wo man hier anfangen muss um diesen Veränderungsprozess anzutreten angesichts der vielen beteiligten Parteien. Könnte hier die Zivilgesellschaft mit „Brückenlösungen“ eine angenehmere Fassade schaffen bis die Prozesse dahinter angepasst sind?

Wie sind eure Erfahrungen?

Daniel

Das ist überhaupt die zentrale Frage.

Ich bin vor 20 Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten - allerdings in Baden-Württemberg, wo ich damals wohnte. War ein sehr kurzer und schmerzloser Prozess, der mich nicht mal viel kostete, weil für Schüler und Studenten geringere oder sogar keine Gebühren fällig waren (mein Gedächtnis ist in dem Punkt nicht mehr 100% zuverlässig). Im Wesentlichen bin ich aufs Standesamt, hab da meinen Wunsch bekundet, ein Formular unterschrieben und das war’s. Eine Weile später kam noch der Brief des Bedauerns vom Pfarramt → Ablage P.

Ich war einigermaßen erstaunt, als ich nach einem Umzug nach NRW gelernt habe, dass hier das Amtsgericht zuständig ist. Was soll ein Gericht sich mit derartigen Lappalien befassen? Ich will doch nur eine Änderung meines Personenstandes bekunden, nämlich dass ich nicht mehr in einer Kirche Mitglied sein will. Irgendwie schien mir das Standesamt dafür immer der logische Ansprechpartner zu sein, und ein Gericht eher dafür da, Streitfälle zu klären, worunter meine Religionszugehörigkeit ja nun wirklich nicht fällt.

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Dass das Amtsgericht zuständig ist hat in NRW die SPD unter Johannes Rau verbockt, die das so in’s Kirchenaustrittsgesetz NRW geschrieben hat. Die SPD hatte zum Zeitpunkt der Gesetzgebung 1981 die absolute Mehrheit im Landtag.

Die Kosten hingegen hat uns die Schwarz-Gelbe Landesregierung unter Rüttgers eingebracht - denn kostenpflichtig ist der Kirchenaustritt erst seit 2006, dies fällt also in Rüttgers Amtszeit (2005-2010)

Dass die Dinge so geregelt sind, wie sie es sind, ist eine rein politische Entscheidung. Denn die Kirchaustrittsgesetzgebung ist Ländersache, daher kann jede Landesregierung es nach ihrem Belieben gestalten.

Die Gründe, warum man sich für ein möglichst kompliziertes und möglichst kostenintensives Verfahren entscheidet, sollten klar sein: Um „softe“ Barrieren gegen Kirchenaustritte zu setzen. Johannes Rau war ja durchaus bekannt für seine Frömmigkeit (die auch in seiner Biographie sehr deutlich wird, Vater Blaukreuzprediger, Raus erster richtiger Job Geschäftsführer bei einem christlichen Verlag…) - und dass die CDU noch weiter geht und Kosten draufsetzt kann wohl niemanden überraschen.

Kurzum:
Religiöse Menschen forcieren religionsfreundliche Politik.

Das Schlimmste an der ganzen Sache - und ein Fakt, der selten diskutiert wird - ist meines Erachtens aber immer noch, dass sich die katholische Kirche das Recht herausnimmt, auch nach Kirchenaustritt noch alle Daten über das Ex-Mitglied zu speichern - im Vatikan. Dort, wo weder die Datenschutzgrundverordnung greift noch wirksame rechtstaatliche Verfahren angeboten werden. Egal ob man in Deutschland aus der Kirche austritt: Aus Sicht des Vatikans und des Kirchenrechts ist man weiterhin Mitglied in dem Verein und es gibt keinen Weg, die Kirche zu zwingen, den Austritt endgültig zu akzeptieren und alle Daten zu löschen. Und das im Herzen Europas - einfach nur traurig.

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Spannend, hast du dafür eine Quelle?

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Hmm, vielleicht bin ich da auch nur Hörensagen (im Rahmen von Vorträgen atheistischer Organisationen wie „Religionsfrei im Revier“) aufgesessen, eine konkrete Quelle zu finden scheint schwierig. Die Frage ist, ob es glaubhaft ist.

Fakt ist schonmal, dass der Kirchenaustritt seitens des Mitgliedes aus kirchenrechtlicher Perspektive nicht möglich ist, der Austritt kirchenrechtlich sogar eine Straftat darstellt. Auch gibt es zahlreiche permanente Informationskanäle innerhalb der Hierarchie der katholischen Kirche, die letztlich alle im Vatikan enden (vor allem, wenn es um Geld geht, aber dass Mitgliedsdaten übertragen werden ist wohl auch ohne weiteres denkbar, alleine für statistische und buchhalterische Zwecke).

Was genau im Vatikan so alles an Daten vorliegt werden wir wohl nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen können - klar ist nur, dass auf die Aufforderung, etwaige Daten gemäß DSGVO zu löschen, keine konstruktive Antwort zu erwarten ist (ich habe das tatsächlich vor Jahren mal versucht und bis heute keine Antwort erhalten).

Und das ist letztlich in jedem Fall der Kern der Sache: Die Kirche steht auch hier gewissermaßen „über dem Recht“, weil der Vatikan eine rechtliche Sonderstellung auch in Europa hat und schon strittig ist, ob die DSGVO indirekt über Italien überhaupt (teilweise) anwendbar ist - aber selbst wenn sie es ist, gibt es keinerlei Möglichkeit, hier irgendwie ein Recht durchzusetzen. Das Problem besteht daher in jedem Fall - die Frage ist nur, ob die katholische Kirche es so stark ausnutzt, wie sie es könnte.