Rechtlich ist die Situation halt relativ einfach:
Die bisher ständige Rechtsprechung des BVerfG war immer, dass es für Regierungsmitglieder eine Neutralitätspflicht gibt, was die Parteipolitik angeht. Sie dürfen zwar Parteipolitik betreiben, aber es muss erkennbar sein, dass sie dies aus ihrer Rolle als Parteifunktionär und nicht aus ihrer Rolle als Regierungsmitglied tun. Diese Rechtsprechung ist auch gut und richtig - gerade das Beispiel Ungarn zeigt, wie problematisch es für die Demokratie werden kann, wenn die Regierung aktiv alle ihre Mittel nutzen darf, um die Chancengleichheit im Wahlkampf quasi völlig zu zerstören.
In diesem Fall hätte es nun fast die Sensation gegeben, dass diese ständige Rechtsprechung gekippt worden wäre. Die Argumentation der Sondervoten war hier, dass die Neutralitätspflicht der Regierung nur schwer abgrenzbar sei, weil häufig eben nicht wirklich deutlich wird, ob z.B. die Kanzlerin gerade als „Kanzlerin der Bundesrepublik“ oder als „Vorsitzende ihrer Partei“ spricht (beide Ämter fallen ja oft zusammen, vor allem bei der CDU, Merkel war ja auch bis 2018 noch Parteivorsitzende, also den größten Teil ihrer Kanzlerschaft über).
Diese Kritik der mangelnden Abgrenzbarkeit zwischen den Rolle eines Politikers gab es gerade im juristischen Schrifttum schon immer. Würden wir hier über Strafrecht reden, würde dieses Argument auch deutlich stärker wiegen, weil die Beweislast umgekehrt wäre. Aber im Verfassungsrecht ist halt alles wesentlich offener. Ob man diese Kritik für angebracht hält, kann jeder selbst beurteilen - ich persönlich denke, diese Kritik ist eher konstruiert. Denn Verstöße gegen die Neutralitätspflicht gibt es eigentlich immer nur, wenn die Regierungsmitglieder ganz klar in ihrer Funktion als solche auftreten. Im vorliegenden Fall ging es z.B. darum, dass Merkels Aussagen auf den Webseiten der Bundeskanzlerin (also den offiziellen, staatlichen Webseiten des Amts der Bundeskanzlerin) und der Bundesregierung veröffentlicht wurden - und das ist dann ohne zweifel aus der Rolle der Regierung heraus. Hätte sie diese Aussagen auf den Webseiten der CDU-Bundesfraktion veröffentlicht, wäre es kein Problem gewesen. Aber so ist es halt ein klarer Verstoß und auch klar erkennbar, dass hier eben gerade nicht „Merkel als CDU-Abgeordnete“ handelt, sondern „Merkel als Regierungschefin“. Ich sehe hier keine wirklich verschwimmenden Linien. In wirklichen Zweifelsfällen, in denen also nicht eindeutig ein Statement als Regierungsmitglied vorliegt, würde man, so zeigt es die Vergangenheit, nicht das Fass der Neutralitätsverletzung aufmachen. Das wird i.d.R. wirklich nur aufgemacht, wenn Politiker ganz offensichtliche Dummheiten (wie hier geschehen) machen.
Grundsätzlich finde ich es daher gut, dass die bisherige Rechtsprechung beibehalten wurde - wie gesagt, es gibt etliche Negativbeispiele (nahezu alle Autokratien dieser Welt) in denen die Regierung aus ihrer Rolle als Regierung offen Wahlkampf macht und damit ihre Stellung zementiert. Das brauchen wir wirklich nicht.
Im konkreten Fall ist es halt Schade, dass diese Rechtsprechung zum Vorteil der AfD wirkt - aber wie immer im Recht darf man sich halt nicht vom konkreten Einzelfall leiten lassen, sondern es müssen rechtliche Konstrukte erarbeitet werden, die alle denkbaren Einzelfälle abdecken. Daher: Man kann die Neutralitätspflicht der Bundesregierung jetzt hier nicht anders bewerten, nur, weil man die AfD nicht mag.