Nein, liegst du schon richtig: Die Spaltung innerhalb der Ukraine gibt es ja schon, gar keine Frage. Aber das ist ja nicht die Frage, die ich in meinem Beitrag adressieren wollte. Mir ging es darum: Wie gut erklärt Huntingtons Theorie vom „Kampf der Kulturen“ den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine, bzw. was sagt uns der Krieg über die Validität dieser Theorie?
Und da muss man in meinen Augen sagen: Dieser zwischenstaatliche Krieg zeigt, dass die Theorie nicht valide ist. Huntington hat es ja so formuliert: Wenn seine Theorie stimmt, dann sollte man die Spaltung der Ukraine in zwei Teile erwarten, aber keinen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Im Umkehrschluss würde das bedeuten: Wenn man keine Spaltung der Ukraine in zwei Teile sieht, dafür aber einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, spräche das gegen die Validität seiner Theorie.
Wichtig: Unter „Spaltung“ verstand Huntington nicht einfach nur innenpolitische Spannungen, sondern tatsächlich die Aufteilung des Landes in zwei Staaten, die laut Huntington „gewaltsamer als in der früheren Tschechoslowakei, aber weniger blutig als in Jugoslawien“ wäre. Und das sehe ich einfach nicht – vielmehr scheint das Nationalgefühl der Ukraine durch den russischen Einmarsch einen ordentlichen Boost bekommen zu haben.
Anders wäre es, wenn der aktuelle Krieg tatsächlich ein Krieg des Staatszerfalls ohne russischen Einfluss von außen wäre. Aber wie du ja selbst gesagt hast, hat Russland nach den Maidan-Protesten ja auch in der Ostukraine kräftig mitgemischt, allerdings verdeckt. Die kulturellen Spannungen in der Ukraine waren damals sicherlich eine notwendige Bedingung für die Eskalation des Konflikts, aber eben keine hinreichende Bedingung – ohne Putins Einmischung hätten die „Volksrepubliken“ wohl kaum ihre Unabhängigkeit erklären können. Für die russische Invasion 2022 waren die innerukrainischen Spannungen nach meiner Auffassung weder notwendig noch hinreichend.