LdN 285: "Westliche Werte" und der „Clash of Cultures“

Hey zusammen,

erstmal danke für eure tolle Arbeit. Ich höre seit langem jede Folge und finde den Podcast wirklich sehr gut. Gerade höre ich Folge 285 und finde die Ausführungen zu den westlichen Werten ein bisschen schwierig. Zwei Punkte dazu:

  1. a) Ihr zitiert Samuel Huntington und sein Konzept des „Clash of Cultures“. Das hat mich überrascht. Ihr deutet zwar an, dass ihr nicht vollkommen mit ihm übereinstimmt. Ihr verwendet es aber, um aufzuzeigen, dass die liberale Nachkriegsordnung der Wertekonvergenz zu scheitern scheint. Die kritische Einordnung hat aus meiner Sicht aber nicht annähernd den Raum eingenommen, den sie gebraucht hätte. Das Konzept bedient sich zahlreicher rassistischer Narrative, die in den Vereinigten Staaten und weltweit grassieren. Es wurde wiederholt von angesehenen Wissenschaftler*innen eindeutig als islamophob und rassistisch eingeordnet (s. dazu Sahar Aziz, The Racial Muslim (2021 bei University of California Press), S. 128-129; Cyra Akila Choudhury, Khaled A. Beydoun (Hrsg.), Islamophobia and the Law (2020 bei Cambridge University Press), S. 250 ff.; Kambiz GhaneaBassiri, A History of Islam in America (2010 bei Cambridge University Press), S. 396 ff.)

b) Zudem wundert es mich, dass ihr in eurer Analyse die „Gegner des Westens“ über einen Kamm zu kehren scheint: Samuel Huntingtons Konzept bezieht sich auf „den Westen“ und „den Islam“, während eure Debatte den Ausgang bei der imperialistischen Politik Russlands nahm. Dann bezieht ihr euch auf Brasilien und die USA. Hier muss aber viel exakter differenziert werden: Zum einen zwischen der Beziehung „zum Westen“ und den Werten, die der Westen als die eigenen versteht. Zum anderen zwischen den verschiedenen Beziehungen, die die von euch genannten Regionen zum Westen haben. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt.

  1. Ihr sprecht davon, dass in den Ländern, die westlichen Werten wie Liberalismus und Demokratie abgeneigt sind, eine „Wir Gegen Die“-Mentalität herrsche. Dass diese Länder die Menschenrechte des Westens, die der Westen als universell versteht, nicht anerkennen würden. In eurer Darstellung wirkt es so, als läge der Grund für diese Ablehnung in den Kulturen dieser Länder selbst, als habe der Westen damit nichts zu tun. Das hat zwei Konsequenzen.

a) Erstens: Damit essentialisiert ihr diese Kulturen und schreibt ihnen einen Kern zu, eine feststellbare Identität die sich mit den als universell verstandenen Werten nicht verträgt. Essentialisierung wird in der postkolonialen Theorie seit Jahrzehnten als Teil von Othering kritisiert.

b) Zweitens, und hier schlägt sich die fehlende Differenzierung von 1b) nieder: Muslimisch geprägte Länder sind nicht wütend oder beleidigt, weil der Westen sie überholt hat, so wie Samuel Huntington und sein Kollege Bernard Lewis insinuieren. Die Ablehnung der westlichen Werte rührt auch nicht von einer grundlegenden Unvereinbarkeit des Islams mit diesen Werten her. Was ihr fatalerweise überseht, was aber den absolut entscheidenden Unterschied macht: diese Länder wurden vom Westen jahrhundertelang kolonialisiert. Ihr konstatiert ohne post-, bzw. neokoloniale Einordnung, die Gegner des Westens lehnten die Menschenrechte ab, und stellt damit alle Gegner als die Kriegsmacher dar. Es ist aber doch ironisch, dass die Menschenrechte vom Westen als universell deklariert und deren Erfüllung nun von den Ländern erwartet wird, die vom Westen jahrhundertelang ausgebeutet, unterdrückt, und systematisch geschwächt wurden.

Diesen geschichtlichen Kontext blendet ihr aus, weil ihr bei den Gegnern des Westens nicht zwischen ehemals kolonialisierten und nie kolonialisierten Staaten (wie Russland) unterscheidet. Das wird umso deutlicher, wenn ihr instabile Demokratien in postkolonialen Staaten mit den USA vergleicht. Ich verstehe, dass ihr damit zeigen möchtet, dass ihr nicht nur mit dem Finger auf die anderen zeigt. Das hättet ihr aber effizient tun können, indem ihr Kolonialismus nicht einfach unter den Tisch fallen lasst.

Fazit: Ich glaube, ihr seid hier in eine typische liberale Falle getappt. Ulf deutet am Anfang kurz an, man könne die UN durchaus auch kritisieren. Ich verstehe, dass ihr dieses Fass nicht aufmachen möchtet. Das Fass des Kolonialismus aufzumachen, ist aber angesichts dessen Macht und Zerstörungskraft bis ins Heute hinein keine Kür, sondern ein Muss.

Liebe Grüße!

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Ich übertreibe jetzt mal polemisch, aber kannst du mir erklären, wie man die Meinung:

„Menschenrechte schön und gut, aber die Frau hat sich ihrem Ehemann unterzuordnen und darf, mit seiner Erlaubnis, maximal Grundschullehrerin werden.“

post-, bzw. neokolonial einordnet und was das daran ändert, dass das ein „Verständnis“ von Menschenrechten ist, das nicht mit dem liberal-westlichen im Einklang ist.

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Was haben Putins Regime, Xi Jin Pings Überwachungsstaat und die Verachtung von Frauen und Homosexuellen in der arabischen Welt mit Kolonialismus zu tun? Nicht jedes Leid auf dieser Welt ist „unsere“ schuld.

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Darüber ließen sich sicher eine ganze Reihe wissenschaftlicher Arbeiten schreiben. China hat genauso seinen Teil Kolonialgeschichte abbekommen, wie die arabische Welt (das Auftreten deutscher Kolonialtruppen in China hat ein irischer Journalist - George Lynch - wie folgt beschrieben: „There are things that I must not write, and that may not be printed in England, which would seem to show that this Western civilization of ours is merely a veneer over savagery.“) Das Land ist nur wegen seiner Größe und Bevölkerungszahl nur de facto und nie offiziell zur Kolonie geworden, das war für keine Kolonialmacht beherrschbar. Pläne und Versuche hat es trotzdem gegeben. Und dass Frauen und Homosexuellen auch bei uns verachtet wurden, ist noch nicht so lange her. Bis 1977 brauchten Frauen die Zustimmung ihres Gatten, wenn sie arbeiten wollten. Bis 1958 konnte der Mann einen bestehenden Arbeitsvertrag seiner Frau ohne deren Zustimmung fristlos kündigen. Ich habe mich vor 30 Jahren mit einem ostdeutschen Homosexuellen unterhalten, der sich darüber beklagte, wie sehr die Wiedervereinigung ihn zurückgeworfen hätte, dass er jetzt für Rechte kämpfen müsste, die er bis dahin als normal angesehen hatte. Und jeder weiß, wie mies Homosexuelle in der DDR dran waren.

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Ja auch bei uns war (und ist) in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, Gleichberechtigung und Repräsentation noch längst nicht alles so wie es wünschenswert wäre. Und dennoch um Lichtjahre besser als aktuell in China, Russland oder in der arabisch-islamischen Welt.

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Absolut richtig! Materielle Ausbeutung ist das eine, Demütigung das andere. Der Westen erkennt noch immer nicht an, in welchem Mass sein Reichtum auf kolonialer Ausbeutung und Versklavung beruht. Und der Westen hat auch wenig Vorstellung, wie hässlich die westliche Arroganz in den ehemaligen Kolonien gesehen werden kann. Indien war vor der Kolonisierung das reichste Land der Erde, nachher eines der ärmsten (habe ich irgendwo gelesen, ohne grosse Herleitung, trotzdem absolut plausibel mE).

Dazu sollte man auch sagen, dass nach 6000 Jahren menschlicher Hochkulturen der Westen bestenfalls einen Vorspurung von ein paar Jahrzehnten herausgeholt hat was Gleichberechtigung und allgemeine Menschenrechte betrifft. Soviel brauchen wir uns darauf nicht einzubilden, und auch nicht auf unsere allseitig überlegene Kultur. Es dürfte der Reichtum aus den Kolonien auch seinen Teil zu diesem Fortschritt beigetragen haben, der in dynamischen Gesellschaften (aufgrund von wachsendem Wohlstand auch der unteren Schichten) schneller vonstatten geht. Ich finde die Unterdrückung von Frauen furchtbar und dumm, trotzdem rechtfertigt es nicht, auf z.B. islamisch geprägte Gesellschaften herabzusehen, wenn wir die Unterordnung von Frauen gerade erst so halbwegs hinter uns gebracht haben.

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Ist das ironisch? Ist es nicht eher so, dass „der Westen“ sich seit dem Kolonialismus weiterentwickelt hat und heute ein anderes Ideal propagiert als damals?
Und ist es wirklich so, dass Menschen in nichtdemokratischen Staaten kein Mitspracherecht wollen, weil Menschen in Staaten Mitspracherechte haben, die vor Generationen Kolonien hatten?
Generell halte ich den Ansatz, Ideen danach zu bewerten, was die Vorfahren von Leuten, die die Idee hatten oder propagieren, getan haben, für fragwürdig.

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An sich eine gute Ergänzung zur letzten Folge. Allerdings kann man aber durchaus daran zweifeln, ob sich alle Kulturen eines Tages auf die von dir angesprochenen universellen Werte einigen werden. Sicherlich spielt der Kolonialismus des Westens eine Rolle was die Akzeptanz dieser Werte angeht in bestimmten Regionen, aber die bis zu tausende Jahre alte Geschichte dieser Völker (z.b. der Chinesen) ist mindestens ebenso relevant. Vielleicht machen wir unsere merkliche aber dennoch kurze Zeit der globalen Dominanz wichtiger als sie es ist?

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Ich bin sehr froh, dass Huntingtons „clash of cultures“ hier bereits thematisiert wurde, da ich ehrlich gesagt auch etwas schockiert war, dass diese Theorie in der LdN als Deutungsweise für den Krieg in der Ukraine aufgegriffen wurde: wie Lene1 schon schrieb arbeitet Huntington mit rassistischen Narrativen und mit einem lange (von entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen wie der Kulturanthropologie) überholten und irreführenden Kulturkonzept. Um das noch etwas näher auszuleuchten: Diese Art von Kulturkonzept geht auf Herders Kugelmodell (1744) zurück, es suggeriert, dass Kulturen in sich abgeschlossene und homogene „Kugeln“ darstellen, die sich klar von anderen Kulturen abgrenzen ließen (und abstoßen) - was nicht der Fall ist: so hat bspw. die Kultur von westlichen, konservativen und ökonomisch schlecht gestellten Milieus in vielen Hinsichten sehr viel mehr mit nicht-westlichen, konservativen und ökonomisch schlecht gestellten Milieus gemein als mit einem westlichen, gebildeten und gut gestelltem Milieu (um das mal ganz platt darzustellen. Philip hat dies auch als einen „Mangel“ in Huntingtons Ansatz erkannt: dass kulturelle „Spaltungen“ auch durch ein Land gehen können. Nur sind vielfache kulturelle Unterschiede innerhalb eines Landes einfach eine totale Normalität - sie stellen keine Spaltung dar, sie sind alltäglich ebenso wie Ähnlichkeiten zu ausländischen Kulturen - insofern ist dies kein „Mangel“, der sich ggf. ausbessern ließ, sondern schlicht ein unsinniges Kulturkonzept). So gibt es natürlich auch in Russland kulturelle Milieus, welche bspw. die Menschenrechte von Homosexuellen achten, ebenso wie es in Deutschland welche gibt, die sie nicht achten.
Leider ist jedoch diese Kugel-Vorstellung von Kulturen immer noch weit verbreitet, was m.E. sowohl in Ulfs und Philips Ausführungen als auch in manchen Kommentaren hier durchklingt. Problematisch daran ist, dass dieses Kulturkonzept in sich rassistisch ist, dass es Gemeinsamkeiten zwischen „mir und meinen Landsleuten“ behauptet sowie Unterschiede zu anderen (Nationalitäten), die es beide womöglich kaum gibt - und dass es Gemeinsamkeiten negiert, die es sehr wohl gibt: so ließe sich ja fragen, inwiefern unter dem Krieg in der Ukraine „einfache Leute“ auf beiden nationalen Seiten leiden, die Ukrainer offensichtlich, aber auch die russischen Soldaten und ihre Angehörigen - oder inwiefern politische Machthaber auf verschiedenen nationalen, scheinbar kulturellen Seiten von diesem Krieg profitieren. Dass bspw. auch russische, sehr junge und uninformierte Soldaten hier leiden, habt ihr, Ulf und Philip, ja auch in einer anderen Folge mal deutlich gemacht und ich glaube, dass dieses Kapitel hinsichtlich einer Rassismus-Sensibilität einfach leider etwas ungünstig weg kommt und dass das aber vermutlich nicht so intendiert war. Dennoch finde ich, dass das durchaus eine Reflexion wert wäre, da hier m.E. sehr problematische Grenzziehungen statt finden zwischen dem scheinbar so aufgeklärten und demokratischem Westen und den anderen - solche Grenzziehungen sind es, welche über ihre Behauptung von „Kulturkämpfen“ ebensolche entfachen. Ich jedenfalls würde das unter „Arroganz des Westens“ verbuchen, der seine eigenen Probleme mit Aufklärung und Demokratie ausblendet (jaja, ist hier immer noch besser als in Russland oder China: geschenkt. Es ist hier aber v.a. deswegen besser, weil wir entsprechende institutionelle Bedingungen haben - nicht wegen „unserer“ Kultur. Mehr dazu unten) und auf den Rest der Welt projeziert, deren aufgeklärte und demokratisch orientierte Anteile man negiert. Wie gesagt: ich glaube, dass ihr das nicht so meint - und ich denke, dass es so wirkt, weil ihr hier 2 Ebenen/ Sphären miteinander verbindet, die nur bedingt miteinander zu tun haben, nämlich Kultur und Politik.

Dies ist mein eigentlicher Kritikpunkt: sicherlich gibt es vielfältige Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Politik, aber gerade im Hinblick auf die oben erläuterten Kulturkonzeptionen wäre ich doch sehr vorsichtig, Politiken bestimmter Länder mit „ihrer“ (eben gar nicht (so) zu fassenden) Kultur zu erklären. Erstens stößt man damit Menschen (in diesem Fall: nicht-westlicher Kulturen) vor den Kopf und gräbt Gräben (die unnötige soziale Konflikte provozieren), welche womöglich ganz woanders verlaufen (da, wo soziale Konflikte existieren, aber aus dieser Perspektive nicht anzuschauen/ zu bearbeiten sind). Zweitens erklärt das Politik herzlich wenig, die m.E. primär durch (kulturübergreifende) Machtinteressen geprägt ist. Zwar bedienen viele Politiker (wie Putin) sich zu ihrer Rechtfertigung, zur Werbung o.ä. regelmäßig irgendwelcher kulturalistischen Narrative, beschwören (nicht existente) kulturelle Identität herauf - aber auf diesen Zug der Kulturalisierung auch noch aufzuspringen, heißt doch letztlich nur ihnen in die Karten zu spielen, indem man ihre Argumentationslogik übernimmt.

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Randnotizen zum vorigen Beitrag: Kulturalisierungen, welche nicht nur rassistisch sind, sondern auch von den „eigentlichen“ Konflikten ablenken, gibt es im übrigen nicht nur von rechts, sondern auch in linken Identitätspolitiken, wie Kenan Malik in „Das Unbehagen in den Kulturen“ sehr eindrucksvoll darlegt.
Im Westen pachtet man Demokratie, Menschenrechte und die Werte der Aufklärung immer wieder gerne für sich. Historisch gesehen aber haben „westliche Kulturen“ bzw. westliche Intellektuelle diese Werte erst durch die Auseinandersetzung mit Indigenen ganz allmählich entwickelt, zunächst noch abgelehnt und irgendwann klammheimlich von ihnen übernommen (wie die Anthropologen und Archäologen Graeber und Wengrow in „Anfänge“ nachzeichnen). Insofern ist es nicht nur ironisch, dass „der Westen“ heute die Menschenrechte als universell deklariert, obwohl er jahrhundertelang Sklaverei betrieb (wie Lene1 schreibt), sondern ironisch ist auch, dass er die Werte, auf die er heute so stolz ist, von jenen übernahm, die er damals lieber ausrottete. Das nur als funfact, denn natürlich geht es nicht darum,

Abschließend möchte ich - nochmals mit Graeber und Wengrow - eine Kritik an „dem Westen“ üben, welche sich an Ulfs Bemerkung anschließt, dass dieser seine Wohlstandsversprechen nicht eingelöst hat (jaja, woanders ist es fraglos viel viel schlimmer, aber man muss die Latte ja nicht immer so tief hängen): wenn man bedenkt, dass auch die realen Möglichkeiten zu Bildung, zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation, zum Reisen usw. stark vom sozioökonomischen Status abhängen, dann wurden hier nicht nur Wohlstandsversprechen nicht eingelöst, sondern auch das Versprechen der Chancengleichheit, der Demokratie, der Freiheit warten noch auf ihre Einlösung. In Anbetracht all dessen stünde „dem Westen“ ein wenig Bescheidenheit ganz gut.

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Liebe Lia,
ich bin sehr erleichtert, dass du dich mit deiner deutlich tiefergehende Expertise und Analyse eingeschaltet hast! Ich stimme dir vollkommen zu und bedanke mich für die Mühe und Arbeit, die du offensichtlich investiert hast. Ich würde mir sehr wünschen, dass das noch einmal im Podcast aufgegriffen wird, weil auch noch so beiläufig klingende Reiterationen dieser Denkmuster viel Schaden anrichten.
Viele Grüße!

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Dazu gibt es, zusätzlich zum bereits gesagten, folgendes anzumerken:

  1. Der Unterschied zum Westen ist nicht, dass der Islam per se deutlich sexistischer wäre, als die im Westen dominante christliche Kirche. Die verschiedenen Religions- und Kulturräume haben sich in den letzten Jahrhunderten oft mit Fortschritt und Weiterentwicklung (gesellschaftlich, technisch, politisch) abgewechselt. Die westliche Dominanz und der westliche Fortschritt sind vergleichsweise jung.
    Der Unterschied ist, dass die christliche Kirche ihre Macht (zumindest in großen Teilen Europas) verloren hat.

  2. Solange die christliche Kirche Macht hat, solange nutzt sie diese mehrheitlich zur Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen. Die anglikanischen und evangelischen Kirchen in Europa sind meines Wissens die einzigen Ausnahmen, die zB auch Frauen in Priesterämtern erlauben und zumindest teilweise Homosexualität akzeptieren.
    Die katholische Kirche (und die meisten Freikirchen) haben nach wie vor ein vergleichbar antiquiertes Frauenbild - sie trauen sich nur nicht, dies im Europa so zu sagen. In Afrika und Südamerika dagegen, wo viele Menschen (durch den Westen kolonialisiert) christlich sind und die Kirchen große Macht haben, wird von ihnen heute noch beispielsweise Werbung gegen Verhütungsmittel gemacht. In den USA wird von vielen Kirchen ebenfalls ein zumindest erzkonservatives Frauenbild vermittelt und gegen Homosexuelle & Transsexuelle gehetzt.

  3. Die islamischen Schriften als solche sind nicht schlimmer oder besser als die Bibel. In beiden steht ziemlich harter Kram. Der Unterschied ist politische und gesellschaftliche Macht erzkonservativer Auslegungsarten der Religion.

  • "[Im Koran] sind Aussagen zu finden, die sowohl für die Bestätigung dieser Meinung als auch für die Gleichwertigkeit der Geschlechter herangezogen werden können. […] Der Islam an sich steht nicht in Widerspruch zum essentiellen Menschenrecht auf Gleichberechtigung.
  • Um die Ausschließung der Frau aus dem öffentlichen Raum zu legitimieren, werden belanglose Argumente herangezogen, die nicht zur islamischen Lehre gehören, sondern Produkte menschlicher Fantasien sind. Zum Beispiel ist als Antwort auf die Frage, warum die Gebetsräume der Männer und Frauen getrennt sind […] permanent von muslimischer Seite zu hören: „damit die Männer nicht durch die Frauen vom Gebet abgelenkt werden!“
  • Das Erlangen von Wissen ist für Männer und Frauen eine religiöse Pflicht.
  • Die regional unterschiedlich ausgeprägten patriarchalen Traditionen haben im Laufe der Geschichte den muslimischen Frauen ihre Rechte völlig oder teilweise verwehrt. Bis heute gibt es in den muslimisch geprägten Gesellschaften Zustände für Frauen, die weder mit der islamischen Lehre noch mit den menschlichen Werten zu vereinbaren sind. Es liegt der Realität fern, wenn man diese Zustände nur dem Islam zuschreibt oder annimmt, dass die muslimischen Frauen es tatenlos zulassen, als untergeordnetes Geschlecht behandelt zu werden."

aus Die Stellung der Frau im Islam: Nur gehorsame Ehefrau und gute Mutter?

=> Die Probleme in Bezug auf Menschenrechte & Geschlechtergerechtigkeit liegen also nicht grundsätzlich in der islamischen Religion und Kultur begründet.

Die Fragen, die daraus folgen sind nun:
Was hat Kolonialismus damit zu tun? und Worauf basiert der Vorsprung des Westens? Warum wird dieser nicht aufgeholt?

(Zeichenbegrenzung, weiter im nächsten Beitrag)

Der westliche Aufschwung (wirtschaftlich, politisch und infolgedessen gesellschaftlich - primär in den letzten zwei Jahrhunderten) beruht zu signifikanten Teilen auf der aktiven Unterdrückung und Ausnutzung ärmerer Länder.

Ich persönlich glaube, dass (Neo-)Kolonialismus und gesellschaftliche Weiterentwicklung definitiv miteinander zusammenhängen: In wirtschaftlich schwachen, autoritär geführten Staaten ist gesellschaftlicher Fortschritt immer unglaublich schwierig (für europäische Vergleiche siehe zB Polen und Ungarn, die zufälligerweise auch zu den konservativsten EU-Ländern gehören).
Salopp gesagt: Solange der Großteil der Menschen weit unter der Armutsgrenze in einer Diktatur lebt, wird sich die Bevölkerung nicht primär mit Gleichberechtigung und Minderheitenschutz beschäftigen.
Die wirtschaftliche und politische Situation ist aber zum Teil nach wie vor eine direkte Folge (neo)kolonialier Politik finanziell und militärisch stärkerer Staaten.
Russland, Europa und die USA haben unter anderem den Nahen und mittleren Osten durch wirtschaftliche Ausbeutung, absichtliche Destabilisierung und militärische Stellvertreterkonflikte immer wieder an der Weiterentwicklung gehindert.

Die Asymmetrien bestehen fort, auch wenn Auf- oder Abstieg in der Hierarchie nicht mehr so eng an die Hautfarbe gebunden ist, viele Länder nehmen auch heute noch eine ähnliche Position im Weltsystem ein wie in der kolonialen Ära.
[Es finden] sich auch in der heutigen Weltordnung stellenweise überraschend deutliche Phänomene quasi-kolonialer Kontrolle, vor allem in der Folge militärischer Interventionen, aber auch im Rahmen ökonomischer Strukturen und Prozesse.

aus Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation (bpb)

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Feminismus und Frauenrechte mit dem Westen assoziiert sind und damit in manchen Gebieten allein deshalb schon abgelehnt wurden:

In den ehemaligen Kolonien mit zahlreicher islamischer Bevölkerung, etwa Pakistan, gab es eine Tendenz, die Frauenemanzipation mit dem Westen und damit den Kolonialherren in Verbindung zu bringen. Hieraus erwuchs in der Phase der Entkolonialisierung die Bestrebung, die Frauenemanzipation abzulehnen, um ihre nationale Identität zur Geltung bringen zu können](Frauenwahlrecht in Nordafrika und im Nahen Osten – Wikipedia)

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Je nach Zeit und Ort war/ist das sicherlich mehr oder weniger relevant, ist aus meiner Sicht aber keine umfassende Antwort auf die Frage „Worauf basiert der Vorsprung des Westens?“.
Dazu gehören auch Aspekte wie Aufklärung, Bildung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie mit ihrer Fähigkeit zu Kompromissfindung und gewaltfreien Machtwechseln, Freiheit und die Inzentivierung von als nützlich angesehenen Weiterentwicklungen.

Solche Phänomene ließen sich vielleicht mit dem anthropologischen Konzept der Schismogenese (von Bateson entwickelt) fassen: offenbar haben Menschen ein starkes Bedürfnis nach Abgrenzung zur Bildung ihrer eigenen Identität. So lassen sich nicht nur äußerst starke Abgrenzungsversuche zwischen den Geschlechtern über entgegengesetztes Verhalten beobachten (was sich in Ansätzen wohl häufig zeigt, in einem besonders krassen Fall aber von Bateson für Neuguinea beschrieben wurde), sondern es grenzen sich auch ethnische Gruppen massiv voneinander ab - wobei es zu allerlei Absurditäten kommen kann: Marcel Mauss (Soziologe, Ethnologe, Religionswissenschaftler) beschrieb bspw. dass die Athabasken in Alaska die Kayaks der Inuit nicht übernahmen - trotz deren besserer Eignung für diese Umwelt, verglichen ihren eigenen Booten. Die Inuit wiederum wollten auf keinen Fall die athabaskischen Schneeschuhe übernehmen - welche sicherlich auch recht vorteilhaft gewesen wären. „Kulturen seien also gewissermaßen „Verweigerungsstrukturen““ (Graeber & Wengrow: Anfänge, S. 196). Ob bezüglich des Verhaltens, verwendeter Techniken oder womöglich auch bezogen auf Wertvorstellungen: „Gesellschaften leben davon, dass sie voneinander entlehnen, definieren sich aber vor allem dadurch, dass sie das Entlehnen verweigern“ (Marcel Mauss, zitiert nach Graeber & Wengrow: Anfänge, S. 197).
Ich will damit keinesfalls sagen, dass es aussichtslos wäre, dass sich ein gewisses Maß universeller Werte durchzusetzen könnte. Im Kontext der Schismogenese betrachtet, halte ich es dann nur für hilfreich, Dinge wie Menschenrechte, ein (wie auch immer geartetes und zu diskutierendes) demokratisches System und die Werte der Aufklärung nicht als europäisches Eigentum zu behandeln, welches wir großzügiger Weise exportieren. Nachdem wir es kolonisiert haben. Für nichts weiter als einen Obolus der moralischen Überlegenheit. (sorry für meine vielleicht bissige Art). - Nein, Wir sollten diese Dinge, auch im Interesse ihrer Durchsetzung, einfach als das behandeln, was sie sind: Ideen, die wir weder als erste noch als einzige hatten und die überall auf der Welt von Menschen vertreten oder abgelehnt werden.
Der Westen ist an der Abwehr gegenüber solchen Werten nicht unbeteiligt, und zwar nicht nur durch seine Inbesitznahme dieser Werte:

Ich denke auch, dass es kausale Zusammenhänge zwischen Gewalt, der Verteilung von Rechten und Armut gibt. Und einen Zusammenhang zwischen dem westlichen Wohlstand und der Armut der restlichen Welt scheint es auf jeden Fall zu geben: Lene1 führte oben ja bereits post-koloniale Ansätze an, auch Dependenztheorien beziehen sich auf die Kolonialzeit und beschreiben die weiter existierende Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Industrienationen und die dadurch beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten ersterer. In der Wirtschaftsgeschichte wird der Ausgangspunkt enormer Wohlstandsunterschiede zwischen Nationen und ihrer Pfadabhängigkeiten, die arme Länder arm und reiche reich halten, v.a. in der Zeit der Industrialisierung verortet und als „Great Divergence“ bezeichnet:


Hier sieht man, dass die Höhe des pro-Kopf-BIP von 1820 mit dem folgenden wirtschaftlichen Wachstum der Länder positiv korreliert: je kleiner das BIP damals war, desto kleiner das Wirtschaftswachstum bis 2008 (Ausnahmen: Taiwan und Südkorea). Das Auseinanderklaffen des reichen Westens und der armen Entwicklungsländer über die Zeit sieht man hier ganz schön:

Der Ökonom Piketty hat 2014 mit seinem viel beachteten Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ das Thema Ungleichheit nochmals auf die Agenda gesetzt - bei Wikipedia ganz schön zusammengefasst als Untersuchung der

„Veränderungen in der Vermögensverteilung und Einkommensverteilung seit dem 18. Jahrhundert. Piketty vertritt darin die Thesen, die Vermögenskonzentration sei seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den Industrienationen deutlich gestiegen, eine Zunahme der Ungleichheit gehöre wesentlich zum Kapitalismus und eine unkontrollierte Zunahme der Ungleichheit bedrohe Demokratie und Wirtschaft.“ (Das Kapital im 21. Jahrhundert – Wikipedia)

… Fortsetzung folgt

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… Fortsetzung:

Ungleichheit scheint v.a. Demokratien in den ärmeren Ländern zu bedrohen bzw. zu verunmöglichen:
Die Weltsystemtheorie von Wallerstein unterteilt die Welt nicht nur in Zentren (=Industrienationen) und Peripherien (=Entwicklungsländer), sondern ergänzt noch die Semi-Peripherie. Die beiden letzteren (zu denen auch Russland gehört) weisen dabei größtenteils autokratische Systeme auf, während die Länder des Zentrums meist demokratisch organisiert sind.
Soweit zu dem, was mir so bekannt ist… Ich bin aber weder Wirtschaftshistorikerin noch Politologin - und ich frage mich, ob/ inwiefern/ welche wissenschaftlichen Kontroversen es zu der Entstehung heutiger Wohlstandsunterschiede gibt und ihren Zusammenhängen zu der Etablierung bestimmter politischer Systeme? … Vielleicht liest hier ja jemand, der da mehr weiß :slight_smile:

[zum Schluss noch eine etwas weitschweifige und ziellose, aber vielleicht dennoch interessante Fußnote: Der Semi-Peripherie kommt laut Wallersteins Theorie insofern eine besonders wichtige Funktion im Weltsystem zu, als dass sie es stabilisiert: eine Dichotomisierung könnte das ganze ins Kippen bringen, da die Peripherie womöglich irgendwann mal aufbegehren würde. Sofern ich das richtig in Erinnerung habe, spielt dabei auch die theoretische Durchlässigkeit der „Schichten“ eine zentrale Rolle: kann ein Land zumindest theoretisch in Peripherie ab- oder ins Zentrum aufsteigen, bleibt Hoffnung bzw. Angst und es wird kaum gegen diese Schichtung aufbegehren, da dies vermutlich Nachteile mit sich bringen würde. Wie gesagt, bin ich mir da aber nicht mehr ganz sicher - das erscheint mir dennoch als ein durchaus bedenkenswerter Mechanismus, den Bourdieu bspw. auch für die soziale Ungleichheit innerhalb von Industrienationen bzw. deren angeblich meritokratischen Schulsystem beschrieben hat: die theoretische Mobilität, also Aufstiegsmöglichkeit, verdeckt, dass solche Aufstiege in der Praxis äußerst selten stattfinden: „Nimmt man aber die gesellschaftlich bedingte Ungleichheit […] wirklich ernst, dann muss man zu dem Schluss gelangen, dass die formale Gleichheit […] in der Tat ungerecht ist und dass sie […] die Privilegien besser schützt als es deren offene Übertragung [im Sinne einer Ständegesellschafts-artigen Vererbung] vermöchte“ (Bourdieu, Die konservative Schule). Denn gegen eine „offene Übertragung“ bzw. Vererbung von Privilegien würde man heute wohl rebellieren - egal ob in Sachen Bildungsungerechtigkeit oder ökonomischer Vormachtstellungen. Formale, theoretische Gleichheit hingegen sichert die privilegierten Positionen viel besser ab: niemand rebelliert und man kann sich der Pfadabhängigkeit, der Nachwirkung der Geschichte sicher sein, die den eigenen Vorsprung mit großer Wahrscheinlichkeit erhalten.]

Ich finde es ja interessant, dass nach langen Ausführungen über Rassismus und Postkolonialismus noch niemand das in meinen Augen offensichtlichste Defizit von Huntingtons Theorie erwähnt hat: Russlands Krieg in der Ukraine ist einfach der ultimative Beweis dafür, dass sie falsch ist.

Wie der Professor Paul Poast im verlinkten Twitter-Thread darlegt, schrieb Huntington damals: Wenn seine Theorie vom „Kampf der Kulturen“ stimmt, dann wäre das Risiko eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine gering. Auf der einen Seite liegt die Ukraine laut Huntington nämlich auf einer „Fault Line“ (Spannungslinie) zwischen zwei Kulturen: Dem katholischen Westen und dem orthodoxen Osten. Wie @Lia ja bereits angemerkt hat, machen kulturelle Spaltungen nicht zwingend an Landesgrenzen halt. Auf der anderen Seite, so Huntington, handele es sich bei den Ukrainern und Russen aber um zwei slawische, orthodoxe Völker, die jahrhundertelang enge Beziehungen miteinander pflegten.

Huntington erwartete deshalb eher eine Spaltung der Ukraine in zwei Teile, aber keinen zwischenstaatlichen Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Zu einer Spaltung der Ukraine ist es aber nicht gekommen, ganz im Gegenteil. Stattdessen haben wir nun einen zwischenstaatlichen Krieg in Osteuropa.

Wenn Huntingtons These korrekt wäre („if civilization is what counts“), dürfte es diesen Krieg also gar nicht geben. Folglich ist der Krieg ein starker Beweis dafür, dass die Theorie schlichtweg falsch ist. Das wiegt für mich noch deutlich stärker als die anderen Aspekte, die hier bereits genannt und erklärt wurden.

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So sehr ich Huntingtons Theorien auch ablehne, diesen Punkt interpretiere ich einfach völlig anders. Ich habe schon vor der Krim-Krise immer argumentiert, dass die Ukraine an inneren Spannungen zerbrochen ist. Klar hat Putin diese inneren Spannungen wo er konnte befeuert und von Außen der pro-russischen Seite massiv geholfen (erst durch Propaganda, dann durch die bekannten „grünen Männchen“), aber die Ursache für die Abspaltung des Ostens und der Krim lag eben in einer Spaltung der ukrainischen Gesellschaft in Folge des Euromaidan.

Die Karten der Wahlergebnisse der Wahlen 2010 (link) und 2014 (link) sind sehr deutlich und zeigen, dass der pro-russische Janukovych die Wahl 2010 vor allem durch die Stimmen der Ostukraine gewonnen hat, ebenso wie der pro-westliche Poroschenko in den später abtrünnigen Gebieten die mit großem Abstand schlechtesten Ergebnisse eingefahren hat. Die Karten der Wahlergebnisse decken sich fast vollständig mit der Verteilung der Muttersprachen (link) und dem Anteil ethnischer Russen (link) in der Ukraine und damit mit den beiden großen Ethnien in der Ukraine (Ukrainer und Russen). Durch die Umsiedlungspolitik der UdSSR und die Tatsache, dass die Krim vor der Schenkung durch Russland an die Ukraine lange Zeit russisch war, leben in diesen Gebieten halt sehr viele ethnische Russen.

Als dann Janukovych im Zuge des Euromaidan gestürzt wurde und die neue ukrainische Regierung offen eine „Ukrainisierung“ der Ukraine (und damit ein Zurückdrängen russischen Einflusses und der russischen Sprache) verfolgt hat war die direkte Konsequenz, dass die pro-russische Minderheit im Osten und auf der Krim damit gelinde gesagt nicht einverstanden war. Und diese Situation hat Putin natürlich eiskalt genutzt, um den Konflikt zu seinem Vorteil eskalieren zu lassen.

Um das ganz deutlich zu machen: Das rechtfertigt natürlich in keiner Weise den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Dennoch sollten wir uns nicht einreden, dass es keine Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft gegeben habe und nur Russland daran Schuld sei. Russland trägt an der Eskalation der Situation nahezu die volle Schuld, aber der Ursprung dieser Situation liegt letztlich in der UdSSR und dem Auseinanderdriften zwischen Westen und Osten innerhalb der beiden großen Volksgruppen in der Ukraine, mit dem Höhepunkt des Euromaidans, bei dem der pro-russische aus dem Amt getrieben wurde.

Wer das bestreitet, macht i.d.R. den typischen Fehler, durch die Brille der westlichen Sozialisation (Demokratie, Menschenrechte) auf den Rest der Welt zu schauen und zu denken: „Wie kann jemand nicht Demokratie und Menschenrechte wollen und stattdessen autokrative Systeme wie Russland oder China unterstützen?!?“. Das Problem ist halt: Menschen, die im Sinne solcher Autokratien sozialisiert werden, halten unter Umständen unsere Werte für genau so falsch, wie wir deren Werte. (gleiches gilt auch für Menschen, die in stark religiösen Gesellschaften wie Afghanistan religiös indoktriniert werden. Ja, es gibt Frauen, die tatsächlich meinen, es sei ihre Pflicht vor Gott, eine Burka zu tragen. Aus unserer Sicht dumm und rückständig, aber wenn dir so ein Müll von Klein auf eingetrichtert wird, glaubst du den Mist halt irgendwann…).

TL;DR:
Der Ukraine-Konflikt passt durchaus in Huntingtons Theorie des Clash of the Cultures, weil es durchaus zu einer Spaltung innerhalb der Ukraine entlang der Volksgruppen (Ukrainer/Russen) gekommen ist. Der zwischenstaatliche Krieg, den wir heute sehen, ist nur das traurige Resultat dieser Spaltung und einer imperialistischen, menschenverachtenden Opportunitätspolitik Putins.

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Ist die Ukraine an der inneren Spaltung zerbrochen oder ist Putin einmarschiert und gescheitert, weil er eine Spaltung sah, die es nicht in der Tiefe gab, wie er sie irrigerweise sah?
In Deutschland sind mit Bayern und Sachsen zwei Freistaaten, die ihre eigene Kultur und Sprache pflegen und nur notgedrungen sich als Deutsche sehen. Die Alpenrepublik ist bei uns ein beliebtes Stammtischthema.
Aber wer glaubt, dass Bayern deshalb für einen Anschluss an Österreich zu den Waffen greifen würde, überschätzt die kulturelle Bindung kräftig oder schließt von ein paar hundert Fanatikern auf den Rest des Volkes.

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Ohne die russische Unterstützung hätte die Ukraine die abtrünnigen Ostgebiete natürlich militärisch zurückerobern können, bzw. von Anfang an verhindern können, dass es zu einer vollendeten Abspaltung kommen würde. Ebenso wie Moldawien sich schon lange Transnistrien zurückgeholt hätte, wenn die Russen das nicht durch dort stationierte Truppen verhindern würden. Oder die Georgier Abchasien.

Das alles ändert aber nichts daran, dass es in der Ostukraine nach dem Euromaidan einen großen Teil der Bevölkerung gab, der mit dem „Westruck“ des Euromaidan nicht mitgehen wollte und es dadurch zu Separatismus kam.

Der Vergleich zu Bayern passt hier einfach nicht, weil die Bayern in Deutschland sich eben keine militärische Unterstützung von Bayern andernorts versprechen können. Bayern und Österreich sind sich kulturell - wenn überhaupt - marginal näher als Bayern und der Rest Deutschlands. Und es gibt eben auch keine Bestrebungen in Deutschland, das Land zu „entbayrisieren“ - und auch wenn das Geschwafel Russlands von Genozid an der russischen Minderheit natürlich absolute Propaganda-Lügen sind, basiert auch diese Propaganda auf einem winzigen, wahren Kern: Nämlich, dass es in der Ukraine nach dem Euromaidan und spätestens nach der Krim-Annektion tatsächlich wieder verstärkt die Bestrebung gab, den russischen kulturellen Einfluss (u.a. die Sprache) ein Stück weit zu verdrängen („Ukrainisierung“). Was übrigens durchaus nachvollziehbar ist, aber die Situation natürlich nicht gerade deeskaliert.

Wie gesagt, niemand bestreitet die Tatsache, dass die Unabhängigkeitsbewegungen in der Ostukraine ohne russische Hilfe nicht erfolgversprechend gewesen wären. Genau so sollte aber auch niemand die Tatsache bestreiten, dass Russland diese Unabhängigkeitsbewegungen niemals alleine in Gang hätte setzen können, wenn durch den Euromaidan nicht der Riss zwischen Ukrainern und Russen so stark zu Tage getreten wäre. Es war schlicht beides nötig: Ein ukraine-interner Anlass und ein bösartiger Nachbar, der diesen Anlass ausnutzt.

Dass Putin bzw. die russische Militärführung die Spannungen in der Ukraine vermutlich überschätzt haben und damit gerechnet haben, dass ein weit größerer Teil der Ukrainer sich auf die Seite der Russen stellen würde, ist ebenfalls wahr, wurde aber auch nie bestritten. Ohne russische Einmischung wären die ostukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen vermutlich ähnlich geendet wie die in Katalonien. Daher: Es wird immer mal wieder ein Referendum angestrebt, welches vom Staat aber unterbunden (und wenn doch durchgeführt: nicht anerkannt) wird und die aufständische politische Führung dieser Gebiete würde - wie in Katalonien - dann einfach hin und wieder abgesetzt werden, vielleicht sogar mit Haftstrafen belegt werden. Aber es würde halt nicht zu einer vollendeten Unabhängigkeit kommen, weil die abtrünnigen Provinzen militärisch schlicht keine Chance hätten. Und genau da kommt halt der Opportunist Putin in’s Spiel.

Ich bin einfach nur schlicht dagegen, den innerukrainischen Konflikt in Angesicht des russischen Angriffskriegs völlig zu verneinen - und so habe ich DanK’s Beitrag gelesen, wenn er schreibt, dass das Gegenteil einer Spaltung der Ukraine der Fall sei und es sich hier ja nur um einen zwischenstaatlichen Krieg handeln würde. Diese Sichtweise vereinfacht den Sachverhalt zu stark, auch wenn uns im Westen diese Vereinfachung natürlich besser gefällt. Nochmal zur Sicherheit: Absolut nichts rechtfertigt den Angriffskrieg Russlands - aber man muss auch die unangenehmen Aspekte einer komplexen Situation akzeptieren.

Die Frage, wie die Bevölkerung in der Ostukraine tatsächlich drauf ist, wird nebenbei auch maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Kriegsverlauf haben. Sollte die dort aktuell lebende Bevölkerung (pro-ukrainische Teile sind vermutlich stark abgewandert, pro-russische eventuell zugewandert) tatsächlich mehrheitlich pro-russisch sein, dürfte es für die Ukraine auch mit moderner Ausrüstung sehr schwierig werden, Städte wie Luhansk (400k Einwohner) und Donezk (fast 1 Mio Einwohner) zurück zu erobern. Auch deshalb sollte man bei dieser Frage realistisch bleiben und nicht den gleichen Fehler wie in Afghanistan machen, indem man davon ausgeht, die Menschen dort würden nur auf ihre „Rettung“ warten. Das wäre die gleiche Torheit, die Russland scheinbar begangen hat, als man sich einbildete, die Ukraine überrennen zu können.

Und ja, ich bin absolut für die Ukraine und hoffe, dass die Ukraine jeden Quadratmeter Land von den Russen zurückerobert und jeder russische Invasor von ukrainischem Boden vertrieben wird. Aber ich will, dass wir mit realistischen Annahmen an diese Situation herangehen und nicht mit Wunschdenken.