LdN 285: Rechtsstaatsmechanismus, Mittelosteuropa

Das Kapitel zur Wahl in Ungarn und zum Rechtsstaatsmechanismus erschien mir als Anlass, anzuregen die EU-Staaten in Mittelosteuropa und dem Baltikum, und insbesondere die Auswirkungen der unterschiedlichen Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine zu behandeln.

Nicht nur zwingt die unmittelbare Nachbarschaft zur Ukraine Staaten wie Polen und Litauen zu Reaktionen, sondern diese nutzen die Situation auch, um den Diskurs innerhalb der EU zu gestalten. Und das mit ungewohntem Selbstverständnis für die gesamte EU, oder zumindest für europäische Werte zu sprechen. Wegen diesem Gestaltungswillen, dem in Relation dazu zögerlichen Agieren der deutschen Regierung, und der ungewöhnlich proaktiven Haltung der EU-Kommission, bei gleichzeitiger Aktivierung des Rechtsstaatsmechanismus, lohnt es sich vielleicht genauer hinzuschauen.

Während Macron mit seiner Wiederwahl beschäftigt ist und Scholz merklich unsichtbar, die Außenpolitik Baerbock und Habeck überlässt, drängen Verlautbarungen aus Polen und Litauen alle paar Tage die Nato, die westeuropäischen Staaten dazu, Farbe zu bekennen - sei es durch einen Besuch der Premiers von Polen, Tschechien und Slowenien in Kiew, oder durch unabgesprochene Angebote Flugzeuge an die Ukraine zu liefern.

Kaczynski in Kiew: Spiel mit dem Feuer

Poland ready to place all its MIG-29 jets at the disposal of U.S. | Reuters

Gleichzeitig bricht der Block der Visegrad Staaten, der seit der ‘Flüchtlingskrise’ 2015 zu einem ernsthaften Machtpol innerhalb der EU avancierte, gerade wieder auseinander. Tschechien positioniert sich überraschend eindeutig und liefert Waffen, während Ungarn lediglich die Sanktionen der EU mitträgt.

Nach Fialas Kiew-Besuch: Ukraine-Krieg eint Tschechien | tagesschau.de

An der Haltung zum Krieg scheitert auch das gemeinsame Gedenken zwischen Polen und Ungarn, dass man in den letzten Jahren als Zeichen der Verbundenheit zelebrierte.

Ukraine-Krieg entzweit Ungarn und Polen wegen Russland-Verhältnis

Wie mit dem Krieg und der resultierenden Stimmung innenpolitisch Profit gemacht wird, zeigt beispielhaft der am 11.04.2022 von Polen veröffentlichten Bericht, der sowohl gegen Russland, wie auch gegen EU-Befürworter und die polnische Opposition gerichtet scheint.

Der Flugzeugabsturz der polnischen Regierungsmachine PLF 101 am 10.04.2010 bei Smolensk, Russland stellt in mehrfacher Hinsicht eine Tragödie für den polnischen Staat dar.
Einerseits befanden sich unter den 96 Opfern Polens Staatspräsident Lech Kaczyński, zahlreiche Abgeordnete des Parlaments, Regierungsmitglieder, ranghohe Offiziere, Kirchenvertreter, sowie leitende Vertreter von Zentralbehörden.
Andererseits erschien der Absturz, als perfide Analogie Schicksals - das Gedenken an das Massaker an tausenden polnischen Offizieren in Katyn, im Jahr 1940, war der Anlass für die Reise.

Von Beginn an kursierten Narrative eines russischen Angriffs auf das Flugzeug, die nach dem damaligen Untersuchungsbericht vom 29.07.2011 (‘report 1’) in Gänze entkräftet schienen. Nach Übereinstimmung russischer und polnischer Sachverständiger, ging man von einem Unfall aus.

Jetzt, 11 Jahre nach dem ersten Bericht, veröffentlichte das ‘Subcommittee for Reinvestigation of the Aviation Incident’ am 11.04.2022 einen weiteren Bericht (report 2), der nicht nur von einem Abschuss durch Russland ausgeht, sondern dem damaligen Ministerpräsidenten Tusk, und prägenden Figur der pro-europäischen Strömung in Polen, eine Mitschuld zuspricht.

https://wayback.archive-it.org/all/20120906032711/http://mswia.datacenter-poland.pl/FinalReportTu-154M.pdf (report 1, 29.07.2011)

April 2022, Report by Ministry of National Defense of the Republic of Poland. Final Conclusions. (report 2, 11.04.2022)

‘The consequence of such attitude of the leadership of the administration subordinated to Prime Minister Tusk was a total disregard of all rules and regulations’ (report 2, 6.)

‘[…] when explosions occurred in the left wing and subsequently in the left center wing that destroyed the aircraft and killed all the passengers and the crew. ‘(report 2, 11.)

In Folge dessen steht auch die Aussage ‘[…] kuckt euch mal an, wer da in Polen und Ungarn an der Macht ist. Die treten eure Werte mit Füßen, und jetzt heißt es mal Butter bei die Fische’ (LdN 285, 1:41:26), und die Einschätzung die Androhung des Rechtsstaatsmechanismus ‘[habe] in Polen was bewirkt’ (LdN 285, 1:40:47) letztlich auf tönernen Füßen.
Es mag durchaus zutreffen, dass das Verfahren die PiS unter Druck setzt, die implizite Hoffnung, dass das Einfluss auf die Verfasstheit des polnischen Staates oder dessen politisches System hat, teile ich jedoch nicht.

Ich hoffe dass klar geworden ist, warum sich ein vertiefender Blick auf Mittelosteuropa und das Baltikum gerade jetzt lohnen würde und dass das angeführte Beispiel aus Polen nur eines unter vielen ist.