LDN 282 Ukraine - Blick in die Russischen Medien (Vater / Sohn telefonat)

Hallo Philip und Ulf,

Ich wollte zu dem Telefonat (times podcast) beispiel zwischen dem Vater in Russland und Sohn in der Ukraine eine andere Sicht beisteuern.

Beruflich habe ich einige Jahre mit Software gearbeitet die Telefongespräche/Chats aufzeichnen und analysieren konnte. Solche Software wird zum beispiel bei Banken eingesetzt um Insider Geschäfte , Marktmanipulation oder ähnliches aufzudecken. Die Software durchsucht dabei die Gespräche auf sogenannte Keywords (Wörter) oder Phrases (Sätze) die dann in Alerts (Suchergebnisse) herausgefiltert werden. Somit kann man tausende von Telefonaten sehr einfach durchleuchten und muss danach nur noch eine kleine Menge an Telefonaten manuell analysieren. Das ganze funktioniert ebenso mit Chat Diensten / SMS Nachrichten.

Solche Software gibt es schon lange und in dem Fall der Banken zum beispiel auch legitim zu benutzten. Man kann sich aber vorstellen was ein Autokratisches Regime mit so etwas anstellt. Das ganze erinnert sehr an Orwells 1984 und ich würde tippen das viele Russen das genau wissen und sich gut überlegen was sie und wo sie etwas sagen denn man kann davon ausgehen das Russland solche und höchstwahrscheinlich noch viel bessere Software einsetzt.

Klar, es kann sein das der Vater in Russland einfach nur geblendet von der lokalen Propaganda war. Auf der anderen Seite kann es aber auch sein das er einfach angst vor dem Regime für sich und seine Familie hatte und deshalb genau das wiedergegeben hat was das Regime als legitim erachtet. Die Schilderung vom Sohn der sagte das der Vater ihn mehrere male unterbrach würde das nahelegen für mich.

Anyway, dachte ich steuere das mal bei.
Vielen Dank fuer Eure Arbeit!

Chris

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Ich hatte auch schon derartige Vermutungen.

So etwas „Ähnliches“ haben mir meine Verwandten auch über die DDR-Zeit erzählt. Wenn da ein Brief oder ein Päckchen aus Westdeutschland kam, gingen sie immer davon aus, dass die Stasi da rein gesehen hat.
Und bei Anrufen aus der BRD wird es damals wahrscheinlich ähnlich gewesen sein: Solange man sich über Unverfängliches ausgetauscht hat, war alles gut, aber politisch durfte es nicht werden.

Ich kann mir daher gut vorstellen, dass es jetzt in Russland ähnlich läuft. Die Russen gehen wahrscheinlich einfach sicherheitshalber davon aus, dass sie bei Telefongesprächen abgehört werden.

Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die meisten Russen „in etwa“ wissen, was in der Ukraine passiert, aber viele haben halt Angst im Gefängnis zu landen. Alle Welt weiß ja, wie in Russland mit politischen Gegnern umgegangen wird.

Die russische Propaganda zielt daher möglicherweise auch darauf ab, es denjenigen Russen, die den Krieg aus Angst ignorieren „wollen“, zu ermöglichen, genau das zu machen und zwar indem der echte Krieg in den Medien eben nicht statt findet.

Wie gesagt, das ist viel Mutmaßung drin, aber ich denke nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Das kann natürlich sein - aber ich warne bei solchen Vermutungen immer davor, dass möglicherweise eher das eigene Weltbild auf die Menschen in Russland projiziert wird, weil man manche Realitäten möglicherweise nicht wahr haben will.

Natürlich wollen wir denken, dass ein großer Teil der Russen eigentlich gegen Putin ist und genau weiß, was in der Ukraine passiert, sich aber nur aus Angst vor Repressalien nicht traut, dagegen zu rebellieren.

Natürlich wollen wir nicht denken, dass tatsächlich ein großer Teil der Menschen in Russland den Putin-Kurs für „richtig“ halten könnte. Und selbst wenn wir akzeptieren, dass Putin (respektive Erdogan, Trump, Orban…) in ihren Ländern tatsächlich viele Anhänger hinter sich versammeln können, wollen wir natürlich glauben, dass das nur durch „Propaganda-Brainwash“ möglich sei. Und vielleicht stimmt das sogar. Vielleicht aber auch nicht.

Wir leben alle in Blasen, so traurig das auch sein mag. Wir im Westen leben in der Blase, dass wir denken, dass jeder intelligente Mensch überall auf der Welt mit uns übereinstimmt, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit die höchsten Güter der Zivilisation seien. Und überall, wo etwas anderes gelebt wird, liegt das halt an Unterdrückung (durch autoritäre und/oder religiöse Führer). Und das halte ich einfach für eine gewagte These.

Menschen sind nicht rational, vor allem nicht, wenn es um Religion und politische Ideologie geht. In beiden Bereichen neigen Menschen dazu, die Meinung, mit der sie sozialisiert wurden, bis zum äußersten zu verteidigen. Und wer in Russland im Kalten Krieg sozialisiert wurde ist oft ebenso verblendet im Hinblick auf seine Ablehnung gegen „den Westen“ wie viele Amerikaner, die im Kalten Krieg groß geworden sind, verblendet sind in ihrer Ablehnung gegen „den Kommunismus“ (so weit, dass selbst eine allgemeine Krankenversicherung plötzlich Teufelszeug ist…).

Wenn wir uns einreden, ein großer Teil des russischen Volkes wäre nur wegen Putins Stasi-Methoden vorgeblich auf der Seite Putins und würde nur auf seine „Befreiung“ warten, machen wir damit den gleichen, verblendeten Fehler, den Putin machte, als er scheinbar ernsthaft annahm, ein großer Teil der Menschen in der Ukraine würde beim Einmarsch der Russen direkt die Seite wechseln und sich gegen seine „Unterdrücker“ auflehnen. Das ist einfach gefährlich und führt zu massiven Fehleinschätzungen. Übrigens die gleichen Fehleinschätzungen, die zum Scheitern des Afghanistan-Einsatzes führten. Auch da dachten wir, dass die große Mehrheit der Afghanen nur darauf warten würde, dass man ihnen Demokratie und Menschenrechte bringt und sie von der Unterdrückung durch die Taliban befreit. War leider nicht so.

Daher: Ehe wir nicht klare Anzeichen dafür haben, dass tatsächlich große Teile der russischen Bevölkerung gegen Putins Regime aufbegehren, sollten wir uns das nicht einreden. Und die Situation in Russland ist momentan scheinbar noch meilenweit entfernt von einer „friedlichen Revolution“ wie damals in der DDR…

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Ich glaube, dass der Großteil einfach politisch uninteressiert ist. Das ist auch die beste Taktik in einem absolutistischen Staat. Da du es sowieso nicht ändern kannst, macht es auch keinen Sinn, sich darüber all zu viele Gedanken zu machen.
Und so verlaufen dann auch die Telefongespräche, nämlich nach dem Motto „Lass mich damit in Ruhe, das will ich gar nicht wissen, denn wenn ich es nicht weiß, muss ich mich auch nicht damit beschäftigen.“
Und das ist dann auch das Dilemma, in dem die Russen jetzt sind. Wenn ihnen jetzt vor Augen geführt wird, was in der Ukraine passiert, müssen sie zugeben, dass sie jahrelang weggeschaut haben und vor allem, dass sie jetzt aktiv werden müssten.
Da ist es besser, alles abzustreiten und dem Westen Lügen und Propaganda zu unterstellen.

Also die Abhörthese hat ja was für sich, aber:

Warum sollte man bei einer solchen Vermutung stramme Systempropaganda rausposaunen?

Ein einfaches „Bei uns berichten sie dass …“ würde da ja schon ausreichen statt „Das ist doch gar nicht so, ich erklär dir das mal …“

Bei einem „Bei uns berichten sie dass …“ Würde eine Abhörsoftware sicherlich nicht gleich anspringen und auf diese Weise könnte man auch seiner Befürchtung auf Abhören Ausdruck verleihen.

Und Stasi: nach meiner Erinnerung wurde berichtet, dass man ein deutliches Knacken in der Leitung vernahm wenn „Horch und Guck“ gelauscht hat.

Vielleicht führt aber ein „Bei uns berichten sie, dass…“ auch dazu, dass morgen die Polizei an deine Tür klopft und fragt, was du denn davon hälst, was „sie“ da so berichten.

Wenn man will, sprint die Software auch bei sowas an. Vermutlich ist die Software sowieso nur auf „Kriegsbegriffe“ geeicht, d.h. ob man da jetzt die russische oder westliche Sicht kommuniziert, kann sie gar nicht unterscheiden. Sie erkennt nur, ob man sich über Krieg oder Urlaub unterhält.

Willkommen im Jahr 2022, indem Telefonate nicht abgehört werden, indem beim Amt jemand den Hörer an deinen Draht klemmt. :wink:
Und auch damals war es sicherlich nicht alzu schwierig, das Knacken zu unterbinden/minimieren.

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Ich muss erst mal ein Stück zurückrudern:
Ich hatte den genauen Inhalt aus der Lage-Folge nicht mehr im Kopf und hab es mir jetzt noch mal angehört.

Es geht ja damit los, dass sich der (ukrainische) Sohn wundert, dass sein Vater überhaupt nicht anruft.
Und dieser Punkt passt tatsächlich nicht richtig zu meiner These. Denn selbst wenn der (russische) Vater nur eine ungefähre Ahnung von dem, was in der Ukraine passiert, hätte, dann wäre, zumindest bei mir, die Erwartung, dass er wenigstens mal in der Ukraine anruft und irgendwie unverfänglich nachfragt, ob es ihnen gut geht.

Das der Vater aus Russland aber überhaupt nicht anruft, hieße, das er entweder so große Angst hat, das er sich nicht einmal das traut oder das er tatsächlich überhaupt nicht weiß, dass in der Ukraine irgendetwas passiert.
Und mir kommt eigentlich beides erst mal unwahrscheinlich vor.

Ich habe mir daher noch mal den Artikel der NY Times angesehen:

Interessant finde ich dabei den folgenden Satz, mit dem der (russische) Vater seinen Sohn am Telefon unterbricht:

“No, no, no, no stop,” Mr. Katsurin said of his father’s initial response.

Jetzt ist dieser, ursprünglich wohl russische, Satz natürlich vom Sohn in Englisch wiedergegeben und man muss aufpassen wie viel man da rein interpretieren darf.

Jedoch kommt es mir nicht so vor, als wäre der Vater hier ein völlig falsch informierter „Ahnungsloser“ der 100% glaubt, das die russische Armee in der Ukraine „nur ein paar Nazis“ verfolgt.

Ehrlich gesagt, so (wie der Vater) klingt für mich eher jemand, der Angst hat, das sein Sohn ein falsches Wort zu viel sagt, dass dann abgehört wird.

Da wirfst du jetzt 2 Dinge in einen Topf, die gar nicht zwangsläufig zusammengehören müssen. Nur weil jemand in Russland „Putin-Befürworter“ ist, muss er nicht zwingend für den Ukraine-Krieg sein.

Ein gutes Beispiel aus der aktuellen Lage-Folge, war da die TV-Sendung in Russland, in der der Krieg in der Ukraine von Kreml-freundlichen Moderatoren und Experten kritisiert wurde:

Es geht hier ja eigentlich um die Frage, wie viel die russische Bevölkerung tatsächlich über den Krieg weiß. Und ich denke, die meisten Russen wissen ungefähr was da passiert. So wie wir im Westen leider auch 2003 wussten, was die USA im Irak tun.

In Deutschland sind damals Menschen dagegen auf die Straße gegangen, zu Hundert-tausenden. Aber wer weiß, wie viele auf die Straße gegangen wären, wenn ihnen dafür 15 Jahre Knast gedroht hätten.

Mit der Vermutung hört man dann aber sicher auch Flöhe husten.
Allgemein muss man aber festhalten, dass niemand hier so genau über die Verhältnisse in Russland bescheid weiß.

Ja wenn man will springt die Software auch schon an wenn eine ukrainische Nummer anruft oder angerufen wird.

Das war an Matder gerichtet der über seine Ostverwandschaft berichtet hatte.
Ansonsten ist mir natürlich klar dass da schon seit Jahrzehnten kein Draht mehr aufgeklemmt werden muss (seit Einführung von ISDN)

Das klingt auch absolut möglich. Ich hatte den Teil über Telefongespräche oben aber auch im Konjunktiv geschrieben.
Dennoch finde ich, dass man sich fragen kann:
Sollte man sich wirklich bei Telefongesprächen darauf verlassen, dass man ein Knacken immer klar und deutlich hört und es nicht auch mal in einem lauten Gespräch untergehen kann, wenn es z.B. mitten im Wort knackt?

Da hast du natürlich Recht. Ich finde in solchen Fällen ist es gut, sich zu fragen, was die Motivationen von Menschen sein können.

Also in dem Fall, was bringt Menschen dazu die Vorkommnisse in einem Nachbarland komplett zu bestreiten, wenn doch die naheliegendste Reaktion eines tatsächlich uninformierten Menschen doch eigentlich wäre, seinen eigenen Sohn zu fragen, was da eigentlich passiert oder ihn zu bitten, Fotos zu schicken usw.

Die Art aber, wie der Vater in diesem Artikel, nicht einfach nur Tatsachen bestritten werden, sondern auch jegliche Diskussion darüber abgebügelt wird, sieht für mich schon sehr verdächtig aus.

edit: Formulierung im letzten Absatz geändert, nachdem sie mir missverständlich vorkam.

Deswegen halte ich die These aus dem Eingangspost ja auch für durchaus relevant.

Die von @Chris82 ? Oder welche meinst du?

Ja die, die du ja auch durchaus stützt.

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