LdN 278 Warum hat Russland Angst vor einer Nato-Erweiterung?

In der aktuellen Folge stellt Phillip die Frage, warum sich Russland von einer Osterweiterung der Nato bedroht fühlen würde, obwohl es sich doch nur um ein reines Verteidigungsbündnis handelt? Ich will einmal versuchen diese Frage möglichst objektiv zu beantworten.

Um die russische Paranoia diesbezüglich zu verstehen, muss man zurück in die 90er, genauer gesagt zum Jugoslawienkrieg. Damals wurde die Nato ja nicht aufgrund des Bündnisfalls tätig, sondern weil Milosevic sich weigerte, den Vertrag von Rambouillet zu unterzeichnen. Ich will jetzt gar nicht bewerten ob das gut oder schlecht war, man muss jedoch festhalten, dass die Nato an dieser Stelle einen Angriffs und keinen Verteidigungskrieg führte, auch wenn dieser sicherlich hehre Ziele hatte. In Deutschland geht das in der Rezeption immer ein wenig unter, aber in Russland erinnert man sich daran sehr genau, auch weil man sich den Menschen dort ethnisch verbunden fühlt. Dass seit 2009 mit Albanien, Kroatien, Montenegro und zuletzt auch Nordmazedonien auch einige Länder aus der damaligen Konfliktregion Mitglieder der Nato geworden sind, dürfte die russische Angst auch noch weiter angeheizt haben.
Zudem ist es ja auch so, dass sich die Nato seit den 90ern von einem reinen Verteidigungsbündnis weg bewegt hat. Drei der aktuellen laufenden fünf Nato-Einsätze finden nicht auf Bündnisgebiet oder zur Verteidigung von Bündnispartnern statt. Zudem hat es in der Vergangenheit auch Operationen wie Ocean Shield gegeben (Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika von 2009-2016) bei denen es ja letztendlich nur um wirtschaftliche Interessen bzw. den „strategischen Nachschub“ ging.
Damit will ich jetzt den ganzen Schindluder, den Russland in einigen seiner Nachbarländer abzieht nicht entschuldigen, aber man sollte sich dieser Sachverhalte schon bewusst sein und nicht naiv meinen, mann könnte von westlicher Seite aus vom Gipfel der Moral herab urteilen. Aus Sicht der jüngeren Geschichte ist die russische Angst, mit Nato-Mitgliedern als Nachbarn selbst oder auch Verbündete (wie freiwillig sie auch mit Russland verbündet sein mögen) in das Visier von Out-of-Area Einsätzen zu kommen, leider nicht unbegründet.

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Diesem Standpunkt möchte ich mich anschließen, ohne die russischen Vergehen und Verbrechen dabei zu legitimieren. Ich muss aber gestehen, dass ich große Schwierigkeiten habe, der NATO da a priori „hehre“ Motivation zu unterstellen…
Um ehrlich zu sein kann ich mich nur wundern wie Ulf und Philip guten Gewissens von einem reinen Verteidigungsbündnis sprechen können, ohne - wie sonst eigentlich üblich - zumindest da eine kritische Anmerkung abzugeben. Ich meine es müsste heutzutage eigentlich mittlerweile Konsens sein, dass das „Imperium“ USA, mit dem Völkerrecht und Menschenrecht euphemistisch ausgedrückt eher oppertun umgeht. Die Demokratie-Leichen aus dem kalten Krieg muss ich da, denke ich, nicht aus den Keller holen, dafür gibts hinreichend zeitgenössische Beispiele. Auch aussagekräftig sind da die politische Verfolgung Assanges und Snowdens, oder die Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Unter diesen Bedingungen der fehlenden Haftung ist es kein Wunder, dass auch die als Verteidigungsbündniss angedachte NATO sich immer wieder rechtswiedrige Ausrutscher erlauben kann.
Das Beispiel von Jugoslawien, wurde schon erwähnt. Ist die Völkerrechtswiedrigkeit hier nicht Konsens? Oder hatte Schröder, als er das eingestand schon seine Würde irgendwo verloren…?
Ein weiteres, etwas neueres Beispiel, dass Putin geopolitisch auch auszunutzen wusste, ist Lybien:

Es ist ein verwirrendes Muster, dass dort wo die NATO, oder die USA sich oder die Menschlichkeit zu verteidigen versuchten, Jahre des Bürgerkriegs nicht allzu selten folgen. Ein Faktor könnte möglicherweise die Stärkung von kurzzeitig genehmen extremistischen Kräften sein, wie der UÇK im Kosovo. Bei der Ukraine gibt es solche extremistischen Kräfte hoffentlich nicht hust, auch über den Machtwechsel 2014 gibts es da nicht viel zu sagen, je nach Interpretation ändert sich die Bewertung des Aggresionspotentials des Westens: Ukraine: Europa geht an die Grenzen der friedlichen Eroberung | GegenStandpunkt

Meiner Meinung nach müsste man, wenn man langfristig wieder entspannten Frieden in Europa sucht und gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland, seine eigenen Vergehen, oder die seines Bündnisses selbstkritischer eingestehen. Diese (in Teilen) mmN berechtigte Kritik an den Westen, bildet für Putin auch ein weltanschauliches Fundament. Ich denke je ehrlicher man ist, desto mehr bröckelt dieses Fundament.

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Zu dem Thema möchte ich auch noch eine Anmerkung machen zu dem Punkt, dass es nie ein Versprechen gegeben hätte, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehnt. Völkerrechtlich ist das sicherlich richtig. Aber erstens ergibt das Beharren darauf, keine Truppen im Beitrittsgebiet zu stationieren ja nur dann Sinn, wenn auch eine weitere Ausweitung unterbleibt. Sonst wären die fünf neuen Bundesländer ja lediglich ein weißer Fleck.

Zweites gibt es heute einen Spiegel-Podcast, der die Frage nach diesem informellen Versprechen behandelt und dieses scheint es doch sehr deutlich gegeben zu haben:
Spiegel Lage am Morgen 19.02.2022

Zitat: Der deutsche Vertreter Jürgen Chrobog erklärte dabei: »Wir haben in den 2-plus-4-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.«

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Um ein wenig Kontext zu liefern: Da geht es um ein Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands im März 1991. Jürgen Chrobog war damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt.
Die Welt hat auch was dazu: Nato-Osterweiterung: Archivfund bestätigt Sicht der Russen - WELT