LdN 255: Stimmen für Kleinstparteien, taktisches Wählen

Taktisches Wählen hat im Verhältniswahlrecht keinen Sinn.
Das immer angeführte Argument ist, dass man seine Stimme nicht an Kleinstparteien geben solle, weil man ja sonst die bestehenden Verhältnisse proportional stärke. Meist wird dieses Argument dann mit einem Schreckgespenst untermauert, das es zu verhindern gelte.
Dieses Argument scheint so plausibel, dass es sogar in der LdN 255 mit Verve vertreten wird. Warum sage ich so wohlfrei, dass das Argument keinen Sinn hat?
Punkt 1: Was ist die gewünschte Konsequenz des Arguments? Genau, dass man seine Stimme „nicht verschenkt“, sondern einer der großen Parteien gibt. Das steht im Widerspruch zu der eigenen Argumentation, dass man nicht die Verhältnisse der großen Parteien stärken solle. Zugespitzt liest sich das Argument dann als: Um nicht die großen Parteien zu stärken soll man die großen Parteien wählen.
Punkt 2: Da es sich um ein Verhältniswahlrecht handelt, spielt es keine Rolle, wie viele Leute „gültige“ Stimmen abgeben. Ob jetzt 10 Leute ihre Stimmen abgeben und dabei ein Verhältnis von 8 zu 2 rauskommt oder nur 5 von 10 Leuten mit einem Verhältnis von 4 zu 1 - das Verhältnis bleibt das Gleiche. Das ist schließlich der ganze Sinn und Zweck einer Verhältniswahl.
Punkt 3: Punkt 2 wird erst dann hinfällig, wenn man annimmt, dass die Wähler von Kleinstparteien in anderen Verhältnissen an der „gültigen“ Wahl teilnähmen als der Rest der Bevölkerung. Erst unter dieser Annahme hätte die taktische Wahl einen relevanten Einfluss auf die Sitzverteilung. Also steckt hinter dem Argument selbst ein politisches Interesse. Das klärt sich erst, wenn man auch das angenommene Wahlverhalten derjenigen derjenigen interpretiert, die Ihre Stimmen an Kleinstparteien geben. Eine Interpretationen wissenschaftlich zu unterfüttern ist in keiner Weise trivial. Wenn man die dem Argument zugrunde gelegten Annahmen aber nicht angibt ist man intellektuell unehrlich. Wenn man die Annahmen nicht angeben kann, dann muss man davon ausgehen, dass die Wählerschaft der Kleinstparteien in denselben Verhältnissen für Großparteien stimmen würden wie der Rest der Bevölkerung. Und es greift wieder Punkt 2.
Der letzter Punkt ist kein logisches Argument, sondern ein Appell auf derselben Eben wie das Ausgangsargument. Die einzige verschenkte Stimme ist die, die man nicht derjenigen Partei gibt, die die persönliche politische Überzeugung vertritt.

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Wenn du deine eigene politische Überzeugung zum besten geben magst, dann stell dich auf dem Marktplatz und erzähl sie den Leuten. Die Wahl ist sicherlich nicht dazu da, ein Statement in der Art von „das bin ich!“ abzugeben.

Das würde funktionieren, wenn

  1. niemand taktisch wählen würde
  2. die Kleinstparteien von der Aufteilung denen der Großen entsprechen würden.
    Ergebnis 2017
    Hier kann man das mal für 2017 abschätzen.
    Ist natürlich schwer zu sagen, wo die freien Wähler-Wähler hin gewandert wären, aber 1/4 der Sonstigen entfällt bereits auf Tierschutzpartei, ÖDP und V3, die Grünen hingegen holten nur 9%.

Das Grundpoblem stellt doch eher die 5-Prozenthürde da, welche realistische Wahlerfolge für Kleinstparteien erschwert. Aus gutem Grund wurde diese auf europäischer Ebene gekippt, ohne dass die Funktionsfähigkeit des Parlamentes beschädigt worden ist.
Natürlich hat die hohe Hürde für Parteien historische Gründe. Nach über 70 Jahren Grundgesetz und stabiler Demokratie könnte man über die Höhe der Hürde jedoch noch einmal nachdenken.
Wenn kleine Parteien z.b. ab bereits einem oder zwei Prozent in den Bundestag einziehen dürften, würden Stimmen für kleine Parteien attraktiver, da sie eben nicht mit großer Wahrscheinlichkeit „verschenkt“ wären. Mit dem erstmaligen Einzug in das Parlament könnten sich dann neue Parteien erst richtig etablieren, da sie eine ganz andere Sichtbarkeit bekommen. Für die Funktionsfähigkeit des Bundestages sollte dies kein Problem sein; auch aktuell sitzen 9 neun fraktionslose Abgeordnete im Bundestag.

Aktuelle Umfragen zeigen ca. acht Prozent für sonstige (Kleinst-)Parteien. Dies ist in Summe mehr, als die Linke als kleinste im Parlament vertretene Partei vermutlich erzielen wird. Wenn die Linke auch noch unter die 5-Prozenthürde fällt, würden ca. zwölf Prozent der Stimmen auf sonstige Parteien entfallen. Anders ausgedrückt: Fast jede achte abgegenbene, gültige Stimme, fände keine Berechtigung im Bundestag. Ist das aus demokratietheoretischer Sicht sinnvoll oder gar erstrebenswert?