LdN 229: Mobilitätswende

Erst einmal vorneweg möchte ich sagen, dass ich es klasse finde, dass Philip und Ulf das Thema „Autofreie Innenstadt“ angesprochen haben.
Ich studiere Raumplanung (Stadt- und Regionalplanung) in Wien und ein großer Teil des Studiums ist auch die Verkehrs- bzw. richtiger Weise eigentlich Mobilitätsplanung.
Meines Erachtes versteift sich die Initative in Berlin zu sehr auf ein „Hauptsache ist das Auto weg“-Paradigma, dass vergisst, dass die 3 „V´s“ der Verkehrsplanung eigentliche folgende sind: Vermeiden, verlagern, verträglich gestalten. Zunächst sollte Verkehr grundsätzlich vermieden werden. Das Verkehrskonzept muss also eingebettet sein in eine Stadtentwicklungspolitik, die versucht das Pendeln zu reduzieren, lokalen Lebensmitteleinzelhandel aufzubauen und Wege schlichtweg überflüssig zu machen. Alles, was nicht vermieden werden kann, muss verlagert werden auf den Umweltverbund (Fuß, Rad, Öffis). Und das am besten verträglich (sozial UND umweltverträglich).
Grundsätzlich halte ich es für den falschen Weg, die Menschen zum „Öffi-Fahren“ zu zwingen; vielmehr wäre es mE (wie auch Philip angedeutet hat) sinnvoller, den Raum zum Autofahren Stück für Stück zu reduzieren und das Autofahren einfach unangenehm machen (Hohe Parkraumbewirtschaftung, nur Kurzparkzonen, keine grüne Wellen mehr (bzw. grüne Wellen für Radler_innen)) etc…
Das Auto ist ein Problem - das stimmt. Aber man muss die Menschen von der Lebensqualität ohne Auto überzeugen. Aktuell steht ja eher das Auto für Lebensqualität.
Einen letzten Punkt möchte ich noch kurz anreißen: In der Lage wurde es eigentlich gesagt, aber irgendwie nicht ausgesprochen. Die meisten Autos in der Stadt kommen nicht durch die Bewohner_innen der Stadt, sondern aus dem Umland. Es wäre also vielleicht sinnvoller, den Menschen aus dem Umland attraktive Alternativen zum Auto an die Hand zugeben bzw. bspw. zu verbieten, alleine im Auto in die Stadt zu fahren (das ist ja der Individualverkehr at its best).
Bin gespannt auf die Diskussion :slight_smile:

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Ob ich jetzt sage „du darfst nicht Auto fahren“ oder die Straßen durch Fahrradwege ersetze, Zwang ist es so oder so :slight_smile:

ich denke mir immer analog zur Bussituation hier: Alternativen schaffen und die Leute werden es nutzen.
Anfangs war die neue Buslinie unbekannt und leer, nu braucht man fast mehr und größere Fahrzeuge weil die Leute die Linie als praktisch wahrgenommen haben und sich zu manchen Zeiten stapeln :slight_smile:

Das mit dem Umland stimmt eindeutig.
Viele Leute inklusive mir leiden unter den doppelt bis 3-4fachen Fahrzeiten des ÖPNV gegenüber dem leidigen Auto Individualverkehr.
Aber ExpressBusLinien sind hier absolut nicht gern gesehen weil das bestehende System „funktioniert“. Staus in der nächsten Großstadt , überfüllter ÖPNV und massenweise Störungen werden hier gern ignoriert :slight_smile:

Danke für die gute Analyse! So kommen wir alle mit dem Thema weiter, denn „weiter so“ geht nicht.
Ich schlage eine Erweiterung der Diskussion um 2 Themenkreise vor:

  1. Welche Erfahrungen gibt es anderswo:
    Tokio: Auto anmelden nur mit vorhandenem Stellplatz möglich: Kleinwagen preiswert, große Autos sehr teuer bei der KFZ Steuer
    Florenz: PKWs in der Innenstadt nur unter extremen Ausnahmen, zB schwere Körperbehinderung
    London: Nutzung des öffentlichen Raums durch Autos kostet je Tag viel Geld, das ist gerecht weil die Nutzer des Raums eben Steuern bezahlen müssen und ungerecht weil es Reichen leicht und Armen schwer fällt.

  2. Ich kenne BerlinerInnen, die in der Berliner Innenstadt - besonders abends - das private Auto nutzen nur aus Angst vor Kriminalität in den Bahnhöfen und Zugängen. Berlin ist für Clan- und andere Kriminalität durchaus bekannt.

In der Frage, dass das exklusiv privat genutzte Auto nicht die Lösung ist, passt. Das es ohne Auto geht, denk ich nicht. Ein Beispiel (unter Benutzung der V’s): Im Sommer letzten Jahres kamen mir ein Mann und eine Frau entgegen, er im Anzug, sie im Abendkleid. Es war offensichtlich ein nicht vermeidbarer Weg zu einer Veranstaltung. Der Weg wurde per Lastenrad gemacht, die Verlagerung hat also funktioniert. Auch das Verträgliche ist gegeben - zumindest einseitig.Ihr unglaublich „glücklicher“ Blick aus dem Lastenkorb heraus, blieb mir im Gedächtnis und lässt mich heut noch schmunzeln.

Zustimmung zum Ansatz, den Raum für das Auto zu reduzieren und zu einem ausgewogeneren Mix zu kommen. Autofahren auf Null senken zu wollen, halte ich für ideologischen Unsinn. Dann wird wieder das Gesetz aus Farm der Tiere greifen „Alle [Tiere] sind gleich, manche sind gleicher.“ Ich prognostiziere dann überraschend häufige „Ausnahmen“ für „Wichtige“, weil der Hund krank ist, man sonst nicht alle Termine schafft usw.

Von „alle Straßen durch Fahrradwege ersetzen“ war nie die Rede. Trotzdem kann es sinnvoll sein, möglicherweise alle Straßen zu Fahrradstraßen zu widmen. Da ist das Autofahren zwar nicht verboten, aber Fahrradfahrerinnen können nebeneinander fahren, haben immer Vorrang etc. - quasi fast so, wie es jetzt bei den Autofahrerinnen ist.
Ich denke, dass wir die Aufenthaltsfunktion der Straßenräume erhöhen müssen. Die technische Infrastruktur dient ja nicht alleine der Fortbewegung - klar die Verbindungsfunktion hat sie auch, aber wenn wir es schaffen, Aufenthaltqualität zu generieren, dann ist auch der Wille nach Erholung auf dem Land nicht so groß. Jetzt während Corona nehmen wir es ja wieder wahr, dass tausende aufs Land fahren und Erholung suchen. Und wie fahren sie da hin - mit dem Auto. Das ist einfach nicht förderend für eine Mobilitätswende, die wir sicher brauchen. Siedlungsnahe Erholung ist das Stichwort. Dafür müssten wir aufhören, die Städte zu verdichten und Freiräume zu reduzieren. Kompaktes Bauen mit 3-4 Stockwerken Zeilenwohnbau und (halb-)öffentlichen Parkanlagen (am besten mit See oder Teich).

Noch kurz was zu Schnellbussen: Es geht ja immer um Erreichbarkeit und wie erhöhe ich die Erreichbarkeit von Standorten. Schnellbusse zählen nicht zu den hochrangigen Verkehrsmittel und haben das Problem, dass ihnen (wenn keine Busspuren vorhanden sind) die eigene Infrastruktur fehlt. Ich denke eher an Bahnstreckenreaktivierungen wo es nur geht. Problem ist hier oft (wie immer im ÖPNV), dass es sich „rentieren“ muss. Das tut es sich am Anfang aber meist nicht, da das Angebot erst Zeit für Zeit nachgefragt wird bzw. die Straße einfach zu gut ausgebaut ist. Vielleicht müssen wir auch im Anbetracht der Klimakrise mal über Straßenrückbau nachdenken. Mein Professor sagt immer: Der Straßenbau in Europa ist sowas von abgeschlossen. Es gibt nichts, was man nicht erreichen kann. Recht hat er!

Moin zusammen,

Vielen Dank für die 3 Vs. daran kann man ganz gut die Ziele der Verkehrsplanung festmachen.
Im Bereich Vermeiden würde ich noch folgenden Punk anführen. Wenn man nicht direkt das Auto verbieten möchte würde ich vorschlagen, dass die Öffis interessanter gestaltet werden müssen. Vorfahrten für Öffis, Busstraßen und grüne Wellen für Busse (und Fahrräder). Im gleichen Atemzug müsste aber stark in den Streckenausbau investiert werden.
Zu guter letzt müsste es im Vergleich zum Auto auch günstiger werden. Erst wenn die Nutzung der Öffis auch im Geldbeutel ankommt, würde ich behaupten, dass Autofahrer umschwingen würden. Der Verlust des Komforts im Auto im Vergleich zu anderen Alternativen muss kompensiert werden, denn sonst gehen Autofahrer auf die Barrikaden.
Und ein Auto kann nicht komplett abgeschafft werden. Der Indiviualverkehr wird weiterhin existieren. Urlaub, 3 Kisten Bier kaufen für eine Party (hoffentlich bald wieder), Oma abholen, etc. Das wird alles weiterhin nötig sein. Vielleicht aber eher über Carsharing. Denn wenn die Nutzungen seltener werden, kann die Rechnung aufgemacht werden, „wie viele Fahrten im Carsharing entsprechen dem Anschaffungspreis des Autos, das ich kaufen möchte?“
Beste Grüße

Das Problem hier ist, ich muss mühsam mit der Bahn in das Zentrum fahren und dann wieder raus. Das kostet 80-90 Minuten, während die Tangente mit dem Auto in 30 Minuten machbar ist.
Die Pläne Teile davon mit dem Zug zu verlängern sind leider unvollständig und währen nach jetziger Schätzung nicht schneller. Der Bau hat dazu noch nicht einmal begonnen.

Wenn ich jetzt hier an einem Unterzentrum Reisebusse bereitstelle die ohne Halt durchfahren,
ist das schneller realisierbar und hat auch noch niedrigere Fahrzeit.

Lieber Philip, lieber Ulf - ich würde mich sehr freuen, wenn ihr zu diesem Thema noch weitere Initiativen zur Sprache kommen lassen könntet, mein Vorschlag dazu wäre der Verkehrsclub Deutschland oder die Podcasterin Katja Diehl (She drives mobility) oder die Agora Verkehrswende oder den ADFC. Es gibt so viele mehr und ich habe mich gewundert, warum ihr der meines Erachtens radikalsten Initiative ein Sprechrohr gegeben habt.

Ein autofreie (Innen)Stadt würde ich auch gern sehen, also im Grunde bin ich d’accord mit einer Forderung namens „Stadt ABC autofrei“, aber so wie es am Beispiel „Berlin autofrei“ angegangen wird, bekomme ich Bauchschmerzen.
Natürlich hat es Sinn in eine Diskussion radikal einzusteigen. Das polarisiert und lockt dadurch eine wesentlich größere Masse an den Diskussionstisch. Nach den Verhandlungen wird es durch Konsensprozesse zum Aufweichen von Forderungen und Zielen kommen.
Da aber eine 30er-Zone in der Innenstadt schon von Politikern aus gemäßigten Parteiflügeln als zu radikal empfunden wird, geht mir der Maßnahmenkatalog von „Berlin autofrei“ viel zu weit. So weit, dass es für mich so riecht wie Lagerbildung und Grabenkampf, bei dem am Ende niemand etwas gewinnt. Letztlich wird auch die genannte Vorbildwirkung für andere Städte verpufft sein, weil sich niemand mehr an das Thema herantrauen wird.

Dass es mit den wachsenden Autozahlen so nicht weitergehen kann und dass beim Verkehr nicht nur beim CO2-Ausstoß etwas geschehen muss, ist völlig klar. Mobilität hat etwas mit Inklusion zu tun und wenn die Mobilität geändert werden soll, dann darf niemand exkludiert werden. So sehr mensch sich das Auto wegwünscht…Hand aufs Herz: Das Auto gehört nun mal (leider) dazu. Die Frage an die Verkehrswende kann doch nicht lauten, wie Autos aus den Städten verbannt werden können, sondern wie alle Menschen am besten (und günstigsten) von A nach B kommen und das idealerweise bei geringst möglichem Autoverkehr und allen anderen genannten Forderungen an ÖPNV, Radwege etc.

mit bestem Dank an eure tolle Arbeit

Merco (=Merci + Marco)

Fahrradkurier aus Leidenschaft fürs Rad

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Hallo. Ich möchte gerne noch etwas zu dem Punkt „besondere Gründe für die Nutzung des Autos“ sagen. Philip und Ulf haben hier das Beispiel angebracht, dass man dann auch beim Möbeltranport grundsätzlich sagen müsste, das sei auch mit dem ÖPNV möglich. Da ist mir doch direkt eine Situation eingefallen, die mir letzte Woche passiert ist: Ich weiß nicht ob es in Berlin auch so ist, aber bei mir in Kalsruhe wurde ich beim Transport eines Stuhls in der S-Bahn vom Fahrer darauf hingewiesen, dass dies nicht zulässig sei und daraufhin aus der Bahn geworfen und auf Taxis verwiesen. Dementsprechend denke ich dieses Beispiel war nicht ganz korrekt, denn offenbar ist der Möbeltranport im ÖPNV zwar meistens akzeptiert, aber - wie mir der Fahrer erklärte - auf eigene Verantwortung der jeweiligen Angestellten. Es kann also durchaus sein, dass ein Möbeltransport, auch von kleinen Möbeln, als zulässiger Grund angesehen wird. LG Nadine