Lieber Ulf, lieber Philip,
das war wieder eine interessante Lage, die mir gut gefallen hat. Mir hat nur nicht so gut gefallen, wie Ihr mal wieder marktwirtschaftliche bzw. private Ansätze im Vorübergehen für Missstände verantwortlich macht. So finde ich, dass es zu kurz greift den privat betriebenen Gefängnissen die Schuld an den Missständen im US-Justizsystem zuzuschieben. Bevor ich das ausführe, drei Punkte vorab:
- Ich finde privat geführte Gefängnisse auch merkwürdig.
- Es geht mir nicht darum das Markt immer gut und Staat immer schlecht ist, beide institutionellen Arrangements könne zu guten oder schlechten Lösungen führen, je nachdem was das Ziel ist und wie sie ausgestaltet sind.
- Mir ist auch klar, dass der Hinweis auf die Privatgefängnisse nur ein kleiner Nebenaspekt war, dennoch solltet ihr Euch für eine differenzierte Betrachtung Zeit nehmen, oder aber auf steile Thesen, wie „das liegt an den Privatgefängnissen“ verzichten (ich spitze etwas zu).
Also nun zu dem Beispiel aus der aktuellen Folge. Ihr kommt von Bidens geplanten Justizreformen über die hohen Inhaftierungszahlen zu den von gewinnorientierten Unternehmen privat betriebenen Gefängnissen und stellt fest, dass „Gefängnisbetreiber null Interesse haben, dass Straftäter nicht rückfällig werden“ (frei zitiert). Das stimmt auf gewisse Weise sicherlich, aber was wäre bei differenzierter Betrachtung festzustellen:
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Bei der Betrachtung und dem Vergleich zweier Systeme (US vs. Deutschland am Sixty Minutes Beispiel) greift es immer zu kurz, wenn ein Unterschied in der Konfiguration der Systeme als Erklärung für die Unterschiede in den Ergebnissen herangezogen wird. Es variieren immer viele Faktoren, die auch Einfluss haben könnten. Z.b. führt Ihr ja aus, dass auch die Strafen häufig höher sind, was nahelegt, dass es ein anderes Rechtsverständnis gibt. Gerade das Sixty Minutes-Beispiel macht deutlich, dass es wohl einen größeren kulturellen bzw. gesellschaftlichen Unterschied zwischen den Justizsystemen gibt, denn es sind ja die Reporterinnen und erstmal nicht Knastbetreiberinnen, die das Konzept der Resozialisierung nicht verstehen. Es könnte also vermutet werden, dass das gesellschaftliche Verständnis von der Rolle der Gefängnisse in den USA eine ganz anderes als bei uns ist, dass dort also Resozialisierung, wenn überhaupt, nur ein nachrangiges Ziel ist.
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Auch die zeitliche Reihenfolge lässt vermuten, dass ein Teil der Ergebnisse des US-Justizsystems eher dem politischen Willen und weniger der Rechtsform der Gefängnisse entsprechen. Anfang der 80er Jahre verschärfte die Reagan-Administration das Strafrecht („War on Drugs“), darauf stieg die Zahl der Inhaftierung was zu einer Überlastung der staatlichen Gefängnisse führte, was dann den Privatgefängnissen einen Boom bescherte. Es war zuerst der politische Wille zu harten Strafen da, daraus folgte der Rest.
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Ich habe keine richtigen Statistiken gefunden, wie hoch der Anteil der Privatgefängnisse ist, sondern nur einzelne Zahlen in verschiedenen Berichten. Hier heißt es z.B., dass 8% der 3300 US-Gefängnisse privaten börsennotierten Unternehmen gehören. Diese scheinen zum einen größer zu sein als die staatlichen (im Schnitt 1250 zu 700 Gefangene auf Basis der im verlinkten Bericht genannten Zahlen) zudem kann es natürlich auch private Gefängnisse von nicht börsennotierten Betreibern geben. Gleichwohl scheint es doch so zu sein, dass noch ein Großteil des Gefängniswesens in staatlicher Hand ist und damit auch ein Teil der Missstände auf staatliche Einrichtungen zurückzuführen ist. (Dies scheint mir insbesondere auch für den rassistischen Bias im US-Justizsystem zu gelten, da die Strafgesetze und die Richter*innen hier wohl einen starken Einfluss haben).
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Der oben verlinkte Bericht stellt aber auch fest, dass die Zustände in den Privatgefängnissen schlechter sind und es z.B. zu mehr Gewalt gegen Mitgefangene und Wärter*innen kommt. Hier liegt es nahe zu sagen, privat bedeutet schlecht. Es kann aber auch bedeuten, dass die staatlichen Institutionen einfach bloß schlechte Verträge abschließen. Wenn im Vertrag letztlich nur steht, ihr bekommt x Dollar pro Inhaftierten, wird der staatliche Auftraggeber genau das bekommen: billig weggesperrte Menschen. Verträge für komplexe (Dienst)Leistungen sollten aber selbst komplex sein und qualitative Parameter enthalten. So ließe sich z.B. festlegen, dass xx Prozent, der Zahlung für einen Gefangenen j Jahre nach der Entlassung ausgezahlt werden, aber nur wenn er nicht mehr straffällig geworden ist. Wird ein Schulabschluss nachgeholt, gibt es eine Prämie von z(, die eventuell auch davon abhängig ist, wie das Ausgangsniveau war). Kommt es häufiger zu Gewalt als in staatlichen Gefängnissen, bekommt der Betreiber ein Jahr Zeit, den Missstand mit einem genehmigungspflichtigen Konzept zu beheben oder der Vertrag wird automatisch gekündigt. Und so weiter und so ähnlich. Wieviel davon schon in realen Verträgen steht und ob und wie das kontrolliert weiß ich natürlich nicht.
In dieser Sicht ist das Kernproblem nicht das es private Gefängnisse gibt, sondern dass der politische Wille fehlt Bedingungen durchzusetzen, die wir akzeptabel finden. So ein Ansatz würde aber natürlich nur funktionieren, wenn es ausreichend Kontrollen und Maßnahmen zu Durchsetzung der Vertragsbedingungen gibt. Es kann dann sein, das Kontroll- und Durchsetzungskosten so hoch sind, dass die direkte staatliche Leistungserbringung am Ende zielführender ist. Aber die Argumentationskette Privat → kein Interesse an Resozialisierung, greift zu kurz, denn das ist eine Frage der Vertragsgestaltung bzw. Ausschreibungsbestimmung, oder kurz der Anreizgestaltung, und des politischen bzw. staatlichen Willens.
Das führt wieder zurück zu meinem allgemeinen Thema. Es sind nicht die Privatisierung der Bahn oder der Wasserversorgung oder des was auch immer die an sich schlecht sind, sondern deren vertragliche und institutionelle Ausgestaltung (keine Trennung von Netz und Betrieb). Es ist nicht die staatliche Organisation von Leistungen per se die schlecht ist, sondern die konkrete Ausgestaltung und ihre Wirkung auf Innovation und Effizienz. Die Bewertung hängt zudem natürlich von den jeweiligen Zielen ab.
Es sind weder Staat noch Markt, weder Deregulierung noch Regulierung an sich schlecht. Es sind jeweils nur unterschiedliche institutionelle Arrangements, unterschiedliche Sets von Regeln (Märkte haben immer Regeln, ohne Regeln gibt es keine Märkte, es ist nur die Frage welche Regeln es sind) zur Lösung von Problemen bzw. Gestaltung von Lebensbereichen. In jedem einzelnen Fall ist genau zu schauen, welche Regeln gelten, welche Anreize sie setzen, zu welchen Ergebnis sie führen, welches Ergebnis gewünscht ist und mit welchen Regeln man vielleicht besser zum Ziel kommt.
Staat vs. Markt ist letztlich keine Dichotomie, sondern ein weiter Raum an institutionellen Arrangements (Sets von Regeln) die beiden Polen unterschiedlich viel Raum geben, also eher ein Kontinuum.
Daher sollte man weder staatliche Lösungen noch marktliche pauschal beurteilen, sondern immer die konkrete Ausgestaltung, gegeben der Zielsetzung.